Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht - über die Nützlichkeit von Entfernung
Viele Dinge sind offensichtlich - so offensichtlich, dass man sie selber nicht bemerkt. Ein etwas Abstrakteres Beispiel dafür, ist die Entwicklung der Sozialdemokratie in Deutschland.
Manchmal hilft Entfernung, Dinge besser zu verstehen. Das Wort „reflectere” kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel, wie sich zurücklehnen, sich zurückbeugen. Man baut also eine Entfernung auf, um Dinge aus der Distanz zu betrachten. Wenn man sich mit Freiwilligen aus anderen Ländern oder Projekten austauscht, teilen viele eine gemeinsame Erfahrung. Man gewinnt Abstand zu Freunden und Familie, Freundschaften werden auf den Prüfstand gestellt und es stellt sich ein gewisses Maß an Desinteresse an dem (Welt-) Geschehen ein.
Einige Freunde aus Deutschland, mit denen ich leidenschaftlich diskutieren konnte, reagierten gereizt, beinahe ablehnend auf die Versuche, mit ihnen über die gesellschaftlichen Entwicklungen zu sprechen. Sie sprachen von einer inneren Distanz, die sie zur Politik aufgebaut haben. Aus klarer Nennung von Personen oder Aussagen, die nicht dem eigenen Wertebild entsprechen, ist ein „die da oben“ geworden. Ein unbekannter Plural für eine undefinierbare Distanz und Ablehnung.
Diese Freunde haben mich gefragt, warum ich immer noch zur Sozialdemokratie stehen kann. Die Große Koalition, die aktuellen Entwicklungen um Vorwürfe des Besitzes von Kinder-Pornographie- Materials haben sie in ihren Erwartungen enttäuscht. Distanz hat mir geholfen, genau diese Entfernung nicht aufzubauen, vielmehr die Entwicklungen nachvollziehen zu können.
„Die Politik“ oder „die politische Klasse“ hat im Moment – so scheint es jedenfalls mit Blick auf die jüngeren Generationen - mit dem Problem der Akzeptanz und Anerkennung zu kämpfen. Skandale erschüttern die Menschen, lassen das Desinteresse und die Distanz wachsen. Außerdem erschwert die Komplexität der Themen (Klimawandel, Euro-Krise, Internetspionage etc.) das Verstehen von Vorgängen. Es geht heute nicht mehr um offensichtliche Fragen wie Krieg oder Frieden, sondern eher um technische Details, die ungeahnte Kräfte verbergen. Wir, also Wählerinnen und Wähler sowie die Mitglieder von Parlamenten, sitzen gewissermaßen in einer Komplexitätsfalle. Wir sollen über Entscheidungen abstimmen, die wir gar nicht mehr verstehen. Unsere Unmündigkeit ist also – anders als Kant formulierte – nicht mehr selbstverschuldet, sondern vielmehr logische Konsequenz einer modernen Welt. Diesem Problem muss sich die Politik stellen.
Sigmar Gabriel hat die Schwerfällig- und Langsamkeit der Politik in einem Essay (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-16098324.html) für den SPIEGEL zusammengefasst: „In ihrer Selbstbezogenheit erweist sich die alte Politikwelt als überholt. Die Dinosaurier kämpfen ums Überleben.“ Weiterhin schreibt Gabriel: „Die wachsende Distanz zwischen großen Teilen der Bevölkerung und den Realitäten unserer Institutionendemokratie und der globalisierten Wirtschaft lässt sich geradezu mit Händen greifen. Doch diese scheinbare Abkehr ist weder ein Indiz für abnehmende Zustimmung zu unserer demokratisch verfassten Gesellschaft noch für "Politikverdrossenheit". Die Bürgerinnen und Bürger nehmen weder Abschied von den Prinzipien einer parlamentarischen Demokratie und den dafür notwendigen Parteien noch wollen sie ihre Arbeits- und Lebensbedingungen anonymen Marktkräften überlassen.“ Nach Ansicht des Autors nehmen die bestehenden Strukturen die Sorge und Nöte der Bürger nicht ausreichend war. Der SPD-Politiker führt weiter aus, das Skandale ein „Symptom für die Entfremdung der Mächtigen“ seien und man den „Vertrauensverlust“ nicht einer bestimmten Partei zuordenet, sondern vielmehr einen Vertrauensverlust gegenüber der ganzen politischen Klasse verspürt.
Konservative Parteien sind von dieser Entwicklung tendenziell weniger betroffen; ihre Wählerschicht fühlt sich aus traditionellen Gründen einer Partei zugehörig. Anders sieht es bei progressiven Parteien aus.
Die Sozialdemokratie hat mit mehreren Problem zu kämpfen. Erstens sind viele (populäre) Vorhaben umgesetzt, Arbeiter und Angestellte sind vergleichsweise gut abgesichert, die Mitglieder der aktuellen Legislative wollen einen flächendeckenden Mindestlohn einführen. Die Sozial-, Gesundheits- und Pflegestandards in Deutschland sind mit die höchsten in der Welt. Mit anderen Worten: Der Sozialdemokratie muss sich neu (er-)finden, weil ein Großteil ihrer Anliegen bereits von anderen Parteien gewissermaßen „adoptiert“ wurde. Es gibt Themen, denen sich die Sozialdemokratie widmen kann. Diese Themen sind nicht weniger wichtig, aber schwieriger nachzuvollziehen. Gewissermaßen verschluckt die Komplexitätsfalle auch die Sozialdemokratie.
Das zweite Problem ergibt sich aus inneren Problemen und Zerwürfnissen im „linken Lager“ - es gibt nämlich durchaus eine „linke Mehrheit“ in Deutschland; Bündnis 90/ Die Grünen, Die Linke und die SPD kommen rechnerisch zusammen auf eine solide Regierung – inhaltliche Differenzen, Streitigkeiten und ein nicht ausreichendes Interesse zu Kooperation und Zusammenarbeit verhindert allerdings eine solche „linke“ Regierung. Im konservativen Lager vereint die Union nahezu alle Stimmen auf sich – der Führungsanspruch wird also vom Wähler jedes mal neu legitimiert.
Das dritte Problem wird offensichtlich, wenn man sich die Wählerstruktur der Sozialdemokratie in der Vergangenheit ansieht. Arbeiter- und Angestelltenmilieus verändern sich, Strukturen werden aufgebrochen. Die Globalisierung verändert also nicht nur die (politischen) Probleme, sondern gleichzeitig auch die Wähler, die zwischen Lösungsansätzen für Probleme wählen sollen.
Der Einsatz für die Rechte der Arbeiterschaft, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die Aussöhnung mit dem Osten, dem Anspruch eine solide (akademische) Bildung für alle zu ermöglichen und die Wirtschaft mit der Agenda 2010 fit für den globalen Wettbewerb zu machen sind Verdienste, die man würdig muss. Die deutsche Sozialdemokratie war immer dann am stärksten, wenn man es von ihr am wenigsten erwartet hat.
Natürlich kann Politik Enttäuschungen bereit halten – große sogar! Politik besteht ja darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen man lebt, zu verändern. Politik besteht aber auch, in dem ständigen Kampf um „Macht und Herrschaft“. Eine Definition von Max Weber, der auch die Begriffe „Macht“ und „Herrschaft“ prägte, lautet: "Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich." Politik ist kein einfaches Geschäft; wenn Politik Lösungsansätze für ein Problem entwickelt, kreiert sie gleichzeitig neue Probleme. Diesen Umstand vergisst man schnell, wenn man sich über politische Entwicklungen mokiert. Auch die Politik ist Sachzwängen ausgesetzt, auch die Politik kann eben nicht immer frei gestalten.
Diese Erkenntnisse kann man aus Analysen – oder eben der Distanz - gewinnen. Entfernung, das Zurücklehnen, das Reflektieren, hilft, den Überblick zu behalten. Die Sozialdemokratie steht vor großen Herausforderungen – nur, wenn sie sich dieser bewusst ist, besteht die Chance auf eine Veränderung der verändernden Kraft. Politik braucht eine progressive Kraft – ebenso, wie es eine Repräsentation konservative Werte braucht. Die Dinosaurier sind im Überleben bedroht – weil sie im Moment zu wenig kämpfen. Der erste Schritt zur Verteidigung einer Existenz ist das Bewusstsein zur Notwendigkeit der Verteidigung. Die Europawahlen im Mai sind ein Testlauf für die Sozialdemokratie.