Weg vom Fenster
Wenn der Homo faber machtlos ist.
Seit einiger Zeit streiken die Lufthansa-Piloten wieder. Uns Freiwillige tangiert das nur wenig. Um mit der Lufthansa in entlegene Winkel der Welt fliegen zu können, wäre mehr Geld nötig als man während des Freiwilligendienstes je beiseiteschaffen könnte. Es sei denn, man steigt ins lukrative Methamphetamin-Geschäft ein. Nah an der polnischen Grenze wären wir ja. Wenn dagegen die Netzverbindung streikt, dann hat man gleich einen kleinen Bauernaufstand. Der letzte war 1920, wäre doch mal wieder Zeit. Es ist irrwitzig, wie so eine kleine Fehlfunktion „einen Großteil der Bevölkerung” lahmlegen kann. Ohne das Netz geht heutzutage gar nichts mehr. Leider merkt man das erst, wenn es zu spät ist, das Netz schon weg ist.
Wir reden hier von einem Grundrecht. Schon im Jahr 2013 stellte der Bundesgerichtshof fest, dass sich das Netz zu einem die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung entscheidend mitprägenden Medium entwickelt habe. So kann man es natürlich auch ausdrücken. Meine Güte, fast so schlimm wie meine Texte zuzeiten.
Kurz den Verantwortlichen Bescheid geben, dass man keine Verbindung mehr herstellen kann. Bloß wie? Eine Nachricht in einem sozialen Netzwerk? Oder eine Nachricht per elektronischer Post? Wie wäre das? Man könnte einen Brief schreiben, das ginge. Wir war noch gleich die Adresse? Kurz mal nachschauen. Ach, ich vergaß.
Ich kann mich noch gut an eine Konversation erinnern, die meine Eltern und befreundete Ehepaare miteinander vor sieben bis zehn Jahren einmal geführt hatten. Damals ging es um die Unverschämheit, als Lehrkraft vorauszusetzen, dass die Schüler daheim einen Zugang zum Netz haben. Das sei doch überhaupt nicht selbstverständlich und sie hätten den Anschluss jetzt sowieso auch nur, weil es der Ehemann doch für seine Arbeit so dringend benötige. Die Jahre vergingen und heute würde keiner mehr auf die Idee kommen, es zu hinterfragen, wenn das eigene Kind Hausaufgaben in Form einer digitalen Recherche bekommen würde. Die Kinder haben einen überholt und finden sich im Netz mittlerweile besser zurecht als im eigenen Kinderzimmer.
So unentbehrlich ist das Netz für uns geworden. Für die junge Generation noch ungleich mehr als für die ältere/n. Arbeit und Freizeit leiden darunter, wenn das Netz einmal nicht funktioniert. Es ist ein regelrechtes Machtinstrument. Was früher der Reichsapfel und das Zepter waren, ist heute der Stecker des Signalverteilers. Einmal entfernt, kann man damit ganze Tumulte in der Familie auslösen.
Die Jugend raucht nicht mehr, hat sich eine andere Abhängigkeit gesucht, die zudem um einiges günstiger ist. Vierzig Euro im Monat, welche meist sowieso noch von den eigenen Eltern entrichtet werden, da kann ein Raucher nicht mithalten. Ein Päckchen pro Tag, dreißig Tage hat der Monat und man ist 180 € los. In Tschechien kommt man etwas günstiger weg und bekommt seit einigen Tagen ebenfalls ein tolles Sammelbildchen mit jeder Packung. 105 € – in Kronen sieht es nach mehr aus: 2835 Kč – immer noch ein stolzer Preis. Und gut, der Rechner für 800 €, der musste natürlich sein, schließlich braucht man ihn doch unbedingt für die Schule, nicht wahr?
Ein Gefühl der kollektiven Verzweiflung hat sich breitgemacht. Die Große Depression, dieses mal nicht in wirtschaftlicher, sondern gesellschaftlicher Hinsicht. Wem man auch begegnet, man spürt, dass etwas nicht stimmt. Die Welt ohne Netz ist grau, leer, gar ohne Sinn und vor allem: so zeitreich. Man hat plötzlich wieder etwas, nach was man immer auf der Suche ist, es nie erlangt, dabei übersehend, dass man es schon immer hatte: Freizeit per definitionem. Zeit, die man nicht auf irgendwelchen Seiten vergeuden kann, in ewigem Streben nach der Erkenntnis, die sich vielleicht irgendwo, jedoch nicht dort auf diesen Bildschirmen finden lassen wird. Zeit, die man tatsächlich “sinnvoll” einsetzen kann, wenn uns so ein Urteil überhaupt erlaubt ist. Ich war gezwungen, wieder mehr zu lesen. Es brauchte erst die Auslöschung aller Alternativen, um wieder diesen erstrebenswerten Interessen nachzugehen.
Wenn das Internet ausfällt, müsste es eigentlich auf der Titelseite stehen. Für alle sichtbar an den Zeitungskiosken. Die meisten Zeitungen liest man heutzutage im Netz. Kurz nachschauen, wie man die Probleme mit dem Signal behebt? Unmöglich. Wir haben eine Welt erschaffen, die nur abgeschlossen für sich funktioniert. Ihre Integrität geht in dem Moment verloren, in welchem uns der Zugang verwehrt wird. Unsere Autonomie schwindet.
Fällt dieses bezahlte Versprechen ins Wasser, das Netzwerk aus, sitzen wir plötzlich alle im selben Boot. Der Hochgeborene, der das Netz für seine Arbeit benötigt, genauso wie der Niedergeborene, der seine Zeit totschlagen möchte.