Was uns verbindet
Daniela Günther, 18, erzählt anhand einer Geschichte über einen alten Mann, einem kleinen Mädchen, einem Fischernetz und einer Karte, was Europa für sie ausmacht. Und landete so bei ihrem ersten Schreibwettbewerb direkt unter den ersten Zehn.
Das kleine Mädchen runzelte die Stirn. Vor ihr lag, ausgebreitet auf einem Eichenholztisch in einem Antiquitätenladen, eine riesige Karte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen um die Karte ganz überblicken zu können. Wenn sie doch nur lesen könnte, dann wüsste sie genau, was die schwarzen, dicken Buchstaben über der Karte zu bedeuten hätten.
Vor ihr stand ein älterer Herr, der sich sehr für eine alte Holzuhr zu interessieren schien. „Was steht denn da drauf?“, fragte das Mädchen ganz direkt den Alten. „EUROPA, Mädchen. Das ist eine alte Karte vom guten alten Europa. Wir sind genau… ähhmm… hier. Siehst Du?“ Er zeigte auf eine kleine Stelle der Karte.
Das Mädchen war mit dieser Antwort noch nicht zufrieden. „Was ist denn ein Europa?“ Der Alte dachte nach. Bisher hatte ihn das noch niemand gefragt. Jeder hielt es einfach für eine Selbstverständlichkeit, dass Europa da ist.
„Es ist nicht sehr einfach, aber ich werde es Dir versuchen zu erklären. Sieh Dir hier mal dieses große Fischernetz an!“ Der Alte zeigte auf ein altes, aber durchaus noch funktionstüchtiges Fischernetz, das an der Decke des Antiquitätenladens hing. „Dieses Fischernetz besteht aus sehr vielen Maschen. Das Netz stellt Europa dar. Die Löcher im Netz sind die vielen einzelnen Länder. Die Länder werden alle zusammen von Europa gehalten.
Dieses Netz hier ist sehr mächtig. Es fängt täglich mehrere 100 Fische. Aber reißt auch nur ein einziger Strick, ist es nicht mehr so mächtig. Es fängt dann nicht mehr so viele Fische. Genauso ist es auch mit Europa. Dieser Kontinent ist nur stark, wenn die einzelnen Länder in ihm zusammenhalten und zusammen arbeiten. Europa ist wie ein Bund zwischen vielen Ländern. Ich weiß, dass das alles sehr kompliziert klingt, aber hast Du mich denn trotzdem ein wenig verstanden?“
Das Mädchen nickte langsam. „Ja, ich glaube ich weiß was Du meinst. Dieser Europabund ist sicherlich sehr nützlich. Bestimmt helfen sich die Länder untereinander und halten Frieden.“
Der Alte setzte sich. „Ja, Du hast Recht. So sollte es eigentlich sein. Aber weißt Du, es ist für die Menschen nicht einfach, friedlich zu sein. Da spielen Neid, Geld und Macht eine große Rolle. Jedes Land will mächtiger und reicher sein. Dabei kann ein Streit auch sehr schnell zum Krieg ausarten.“ Mit Grauen erinnerte sich der Alte an den Zweiten Weltkrieg. Dieser hatte unermesslich viel Leid über die Welt gebracht. Er hatte gezeigt, zu was die Menschen fähig sein können.
Das Mädchen schaute mit fragendem Blick in die Augen des Alten. „Bist Du traurig?“ Der Alte wischte sich über die Augen. „Es geht schon wieder.“ „Das ist gut. Ich dachte schon, ich hätte etwas Falsches gesagt. Oh, schau mal. Der Mann sieht aber komisch aus. Er hat bestimmt zu viel Schokolade gegessen.“
Der Alte blickte hinter das Mädchen und schmunzelte. „Es ist ein Ausländer. Er hat eine dunklere Hautfarbe als wir. Sicherlich stammt er aus einem warmen Land.“ Der Fremde näherte sich dem Mädchen und dem Alten und begrüßte sie. „Bonjour Mademoiselle et bonjour Monsieur.“
Das Mädchen zog am Ärmel des Alten. „Was hat er gesagt?“ Der Alte lächelte. „Weißt Du, er spricht Französisch. Er kommt aus dem Land Frankreich aus Europa. Er hat uns begrüßt.“
Der Alte wendete sich dem Fremden zu und antwortete:„Salut!“ Das Mädchen dachte nach und meinte schließlich zu dem Fremden: „Du sprichst zwar anders und Du siehst auch anders aus, aber wir sind dennoch Geschwister, weil Du ja auch aus Europa kommst.“
Und dann streckte sie ihre Hand dem Fremden entgegen, der seine Hand in ihre legte.
„Ich sehe, Ihr seid ja schon gute Freunde geworden. Aber vergesst mich mal nicht.“ Lachend nahm der Alte die andere Hand des Fremden. Und so verließ das komische Gespann den Laden.