Was uns nicht umbringt, macht uns stärker...
Judith_in_London betreut in ihrem Projekt ein paar besonders schwierige Gruppen. Sie merkt dabei, dass man nur an Herausforderungen wachsen kann und nicht daran, dass alles einfach abläuft.
"Umbringt" ist vielleicht ein bisschen hart. Keiner der elf und zwölf Jahre alten Jungs hatte vor, mich oder mein Team letzte Woche umzubringen. Wir leben also alle noch! :) Aber es war auch nicht so ganz einfach, müssen wir uns jetzt eingestehen.
Nach den Ferien - und nach der Volunteer Conference - kamen zum ersten Mal Jungsgruppen in unser Retreat-Zentrum. Wir hatten zwar auch letztes Jahr schon ein paar Jungs dabei, aber die kamen dann in gemischten Klassen. Da ist schon noch mal ein Unterschied festzustellen! Wenn Mädchen dabei waren, gab es nicht ganz so viel Geprügel!
Die ersten drei Gruppen waren auch eigentlich ziemlich gut. Die Kinder kommen von einer Schule, die hier ganz in der Nähe ist, und deshalb waren sie immer sehr zeitig schon da. Außerdem sind sie erst spät wieder gegangen. Demzufolge hatten wir einen sehr langen Tag und da das Programm für die Jungsgruppen aus der 7. Klasse eh nicht so voll gestopft ist wie das der Mädchen desselben Jahrgangs, hatten wir immer viel Zeit. Wir konnten also unseren Retreat sehr ruhig angehen und die Zeit genießen (mit extra langen Pausen!).
Am Mittwoch wendete sich das Blatt aber schlagartig. Diese Gruppe war plötzlich gar nicht an dem Thema interessiert. Ich war mit meiner Smallgroup völlig überfordert! Von den sechs Jungs in meiner Gruppe war einer lieb und hat mitgearbeitet. Die anderen haben Skittles durch den Raum geschmissen, mit ihren PSP oder Handys gespielt und sich über Dinge unterhalten, die ich nicht verstanden habe - keine anständigen Sachen, das habe ich noch mitgekriegt...
In meiner zweiten Session ist Luke dann noch in meine Gruppe gekommen und hat mir etwas geholfen. Luke macht zwar eigentlich nur die Retreats mit den größeren Jahrgängen und hatte deshalb auch gar keine Ahnung, was ich in der Dreiviertelstunde so vorhatte, aber er sollte die Jungs ja auch nur im Zaun halten. Das war leider nicht so wirklich gut möglich... Im Endeffekt hat Luke sich dann mit fünf Jungs über Action-Filme unterhalten, während ich mein Programm mit dem einzig interessierten Jungen durchgenommen habe. Immerhin einer, der die Nachricht verstanden hat, dass Jesus ein Superheld ist. Man muss eben schauen, was man doch noch draus machen kann...
Nach der Mittagspause wurde es allerdings noch schlimmer. Ich sollte gemeinsam mit Corinna mit sieben Jungen den Hip Hop Tanz einüben, den wir dann beim abschließenden Gebet präsentieren wollten. Das war echt peinlich! Das einzige, das vom "Tanz" übrig geblieben ist, war die Musik. Ansonsten hat die Lehrerin das Ganze sehr gut zusammengefasst: "Das war kein Tanz, sondern nur die einmalige Möglichkeit für euch, euch zu prügeln, ohne dass ich eingreife!" Ich hab dann die Musik vorzeitig abgedreht, aber das hat das Ganze natürlich auch nicht besser gemacht...
Als die Jungs dann aus dem Haus raus waren, haben wir nur zu uns gesagt: Von jetzt an kann’s ja nur besser werden. Sabina meinte daraufhin, wartet erst mal ab. Aber wir wollten ihr nicht glauben. Hätten wir vielleicht doch? Dann wären wir wenigstens vorbereitet gewesen...
Am nächsten Tag waren nur elf Jungs da. (Normalerweise sind es zwischen 19 und 33.) Sie wurden von drei Lehrern begleitet, zwei mehr als gewöhnlich. Ok, da hätten wir stutzig werden müssen, aber dazu hatten wir irgendwie gar keine Zeit, weil sie so zeitig waren und wir deshalb schnell unsere letzten Vorbereitungen treffen mussten.
Wie sich später - am Nachmittag - herausgestellt hat, war das die "Special Needs"-Gruppe. Also alles Kinder, die irgendwelche Lernbehinderungen oder ähnliches haben. Mindestens drei von ihnen hatten vermutlich ADS beziehungsweise ADHS.
Wieder kein leichter Tag. Wobei es besser ist, wenn sich die Kinder einfach nicht konzentrieren KÖNNEN, als wenn sie es nicht wollen.
Wir haben in unseren Smallgroups einfach versucht, möglichst viele Spiele zu spielen und dann eben manche zu viel Konzentration erfordernde Dinge ausgelassen.
Bei der Tanzgruppe standen Corinna und ich wieder in der Mitte des Gemetzels. Da blieb nichts unangefasst, an unserem Kreuz wurde herumgezogen, die Vorhänge wurden fast heruntergerissen, die Rollläden nahezu zerstört, die Türen ständig auf- und zugeschmissen und sich gegenseitig geschlagen, getreten...
Sehr lustig war dabei folgende Situation: Corinna hockt auf dem Fußboden, Hände beide schützend über ihrem Kopf, sowohl hinter ihr, als auch vor ihr ein Junge und sie sagt nur hilflos: "Bitte jetzt nicht springen!"
Schuluniformen erweisen sich hier - zumindest für die Jungen - als sehr praktisch, denn mit den Krawatten kann man sich so gut schlagen! Ich habe diese also nach einer Weile konfisziert, einige wollten dann nicht mehr "tanzen" und haben den Raum verlassen. So waren es nur noch vier, die alle wild übereinander hergefallen sind.
Kurz danach blieben drei übrig, nachdem Luke auch noch den einen Jungen aus dem Zimmer geholt hat, der ADHS hat und die anderen mit seiner Hyperaktivität angesteckt hat.
Da der Hip Hop Tanz so wie geplant wohl nicht zu verwirklichen war, haben wir dann einen Zeichensprachentanz vorgeschlagen. Eigentlich sollte das eher zur Abschreckung sein, aber die wollten dann wissen, was wir darunter verstehen und wie das so aussieht. Auf der Suche nach dem Lied, das wir immer für den Tanz der Mädchen (also den Zeichensprachentanz) nehmen, sind wir auf ein Lied gestoßen, das wir bei der Mission in der Grundschule verwendet hatten. Kurzerhand haben wir uns dann dafür entschlossen und die Jungen fanden es super! Das war eben so ein Bewegungslied, hoch- und runterhüpfen, im Kreis drehen, klatschen... Hat ihnen richtig Spaß gemacht! Und wir haben uns gefreut, dass es jetzt vielleicht doch noch was wird.
Als sie den neuen Tanz vor dem Rest der Klasse vorführen sollten, ist der vierte Junge (der mit ADHS) auch mit nach vorne gegangen. Wir hatten schon etwas Angst, dass der jetzt da vorne wieder eine Prügelei anfängt... Aber dann hat er super mitgemacht. Corinna und ich haben im Hintergrund alles mitgetanzt, damit sie wussten, was zu tun ist und es hat alles toll geklappt. Da ist uns echt ein Stein vom Herzen gefallen, dass nach dem Theater doch noch was Vernünftiges draus geworden ist!
Am Nachmittag wurden wir von Luke und Sabina alle sehr gelobt für unsere Leistung. Sie meinten, dass wir, nachdem wir so eine schwierige Gruppe "gemeistert" haben, auf einem höheren Niveau weiterarbeiten können/werden.
Der nächste Tag war dann im Gegensatz zu den beiden davor pure Entspannung! Ich hatte einen Jungen in meiner Smallgroup, der bei seinem Arbeitsblatt extrem tief gegangen ist und sehr viel mit uns geteilt hat. Es gab einen richtigen Tanz, ganz ohne Gekämpfe und auch die anderen Aktivitäten haben gut geklappt.
Solche Momente lernt man wirklich zu schätzen, wenn es davor so große Schwierigkeiten gab! Wir haben hier festgestellt, dass wir solche Herausforderungen immer wieder mal brauchen - Zeiten, in denen einfach alles schief geht - um anschließend das schätzen zu können, was wir eigentlich haben oder können. Mit den paar Gruppen haben wir mehr dazugelernt, als in all den Tagen, in denen die Retreats reibungslos abgelaufen sind. Wie gesagt, was uns nicht umbringt, macht uns stärker!