Was eine Schale Linsen mit Solidarität zu tun hat
Solidarität kann manchmal schon mit ein paar kleinen Hülsenfrüchten beginnen. Denn wenn rote Linsen mit Knoblauch und Gewürzen in cremiger Kokosmilch gekocht werden, entsteht eine wunderbare Mahlzeit, die zum Symbol des gemeinschaftlichen Versuch werden kann, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.
Solidarität ist eine dampfend heiße Schale Linsen-Dhal, die von einem Flüchtling aus Sri Lanka und einer australischen Freiwilligen zubereitet wurde, um den Hunger einer deutschen Reisenden zu stillen. Es ist die gleiche wärmende Schale, aus der der Mann im Anzug auf meiner rechten und die Obdachlose auf meiner linken Seite löffeln. Eine einfache Schale Wertschätzung, in der die gemeinsame Idee steckt, dass alle Menschen – unbedeutend woher sie kommen und wer sie sind – gleichwertig an der Gesellschaft teilhaben können.
Im Frühjahr 2015 packe ich meinen Rucksack und reise nach Australien. Mein Budget ist klein, meine Neugier dafür umso größer. Ich arbeite bei Familien, auf kleinen Farmen, in Yoga-Zentren und auf einsamen Inseln. Geld verdiene ich nie, dafür bekomme ich zu Essen, ein Dach über dem Kopf und wärmende Worte des Dankes. Ein Zuhause habe ich dort trotzdem nicht, ich bin eine Fremde, die auf der Suche nach ihrem Platz ist. Als ich dann in Melbourne, im Bundestaat Victoria an einem der langen Tische im Restaurant Lentil as Anything sitze, verstehe ich, dass ich grade vor dieser Schale Linsen Teil von etwas werde, selbst - oder gerade hier am anderen Ende der Welt.
Es duftet nach Orangentee und scharfer Chilipaste in der offenen Küche mitten in den blühenden Gärten von Abbotsford in Melbourne. Linsen, Gemüse und Tofu köcheln in großen Töpfen mit köstlich cremiger Koksmilch und süßem Curry. Drinnen stehen große Tische, bunte Lampions hängen von den Wänden und brechen die Mittagssonne. Es ist laut, fast alle Plätze sind besetzt und zwischen den hungrigen Besucherinnen und Besuchern wuseln Menschen in roten Schürzen umher, bringen Tee oder süße Reispaste zum Nachtisch. Diese Menschen in den roten Schürzen sind nicht etwa Angestellte, sondern Freiwillige, die sich um das Wohl der Besucherinnen und Besucher kümmern. Denn Lentil as Anything ist kein normales Restaurant, es ist vielmehr ein Ort an dem, Menschen mit den unterschiedlichsten sozialen Hintergründen an einem großen Tisch zusammenkommen, um gemeinsam eine vegane Mahlzeit zuzubereiten, ohne eine finanzielle Gegenleistung dafür zu erwarten.
Die Idee dafür hatte der gebürtige Sri Lanker Shanaka Fernando mit der Vision, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen unabhängig von ihrer Rasse, Herkunft und ihres Einkommens zusammen essen können. Das erste Restaurant eröffnete Fernando im Jahr 2000 in Mlebourne, mittlerweile gibt es vier weitere Filialen. Im Jahr 2007 erhielt der Gründer für sein Engagement die Auszeichnung “Local Hero” der Australian of the Year Awards.
Das Konzept von Lentil as Anything ist einfach: Jeder ist willkommen. Jeder zahlt, was er will und kann. Festgelegte Preise gibt es nicht in den Restaurants, damit auch diejenigen, die es sich finanziell nicht leisten können, in einem Restaurant zu essen, einmal Gäste sein und sich bedienen lassen können. Und zwar nicht in einer sozialen Wohltätigkeiteinrichtung, sondern in einem richtigen Restaurant, in dem sie mit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zusammen an einem Tisch sitzen. Oft geht es weniger um die Mahlzeit selbst, als um das Gefühl, als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.
Damit Lentil as Anything funktionieren kann, muss jeder in seinem Maße etwas zu dem Projekt beitragen: Wer mehr verdient, kann finanzielle Unterstützung leisten, wer Zeit hat, kann in der Küche oder hinter der Theke mithelfen. Es geht dabei nicht nur darum, für anfallenden Kosten aufzukommen, sondern auch darum, die Menschen zu integrieren, für die die Gesellschaft noch keinen Platz hat. Deshalb können besonders Geflüchtete, Obdachlose oder Langzeitarbeitslose bei Lentil as Anything eine Beschäftigung finden.
Solidarität bedeutet aus Überzeugung für eine gemeinschaftliche Idee einzutreten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Solidarität bedeutet, das Doppelte für einen Teller Linsen zu bezahlen, damit ein anderer Gast, der weniger hat, auch essen kann. Oder sich Zeit zu nehmen, um die Geschichte der Person am Nachbartisch zu hören. Solidarität ist dabei kein moralgetriebenes Samaritertum, sondern eine Intention, die sich aus dem Wunsch speist, gemeinsam für den Glauben an eine gerechtere Gesellschaft einzustehen, auch wenn man dabei manchmal verzichten muss.
Als ich dort sitze vor meiner Schale Dhal, da spüre ich diese Wärme, die all diese Menschen mit mir teilen, wenn sie mich mit einer Mahlzeit und einem Lächeln auf dem Gesicht willkommen heißen. Bei jeglicher Suche nach Definitionen, lässt sich der Begriff der Solidarität am Ende vielleicht doch am besten mit diesem Gefühl der Wärme beschreiben, weil zumindest an diesem Tisch alle das Gleiche auf dem Teller haben - egal ob sie hinter dem Kochtopf stehen oder einfach nur kommen, um Gast zu sein.
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