Was die russische Abwandlung von Max und Moriz mit deutschen Handys anstellt
Auch in dem kleinen russischen Dorf Esso, weit weg von großen Städten und idyllisch mitten in Bergen gelegen, verschwindet auf mysteriöse Art ein Handy und eine Taschenlampe. Wenn Du wissen willst was aus der ganzen Sache geworden ist, wer dahinter steckte und was der Unterschied zwischen Milizia, Polizia und Korruptzia ist, dann findest Du die eine oder andere Antwort in diesem kleinen Kriminalroman. Harter Tag für ein 25 jähriges Mädchen allein am Anfang der Welt!
Es war ein schöner Feierabend Freitagabend, der 23.November. Es war kalt, die Wege, Häuser, Berge- alles von glitzerndem Weiß bedeckt. Ich beschloss mit Freunden in das kostenfreie Thermalbecken des 2000-Einwohnerdorfes Esso zu gehen, um uns dort zu wärmen, zu quatschen und Spaß zu haben. Nach dem nassen Vergnügen, bemerkte ich sofort, dass mir mein Mobiltelefon, sowie eine, in der 10 Fahrtstunden entfernten nächsten Stadt, neu erstandene Dynamo-Taschenlampe fehlten, die noch vorher in meiner Jackentasche waren. Ich zweifelte erst mal an mir, dachte ich hätte es verloren oder doch zu hause. Nachdem noch abends und auch früh bei Licht ausgiebig jedoch aber vergeblich im Schnee und im Haus gesucht worden war, kam mir Verdacht auf. Zwei kleine Jungs, etwa so alt wie mein eigener Bruder, die abends ebenfalls zu der Zeit baden waren, und sichtlich vom Rodeln gekommen waren, hatten sich in der Nähe meiner Kleidung entkleidet gehabt. Aber sollten denn zwei kleine Jungs in so einem kleinen Dorf was mit der Unauffindbarkeit meiner Gegenstände zu tun haben? Ich glaubte eher an meine Dusseligkeit. Meine russische Freundin Xenia nötigte mich dann aber doch noch gleich an dem Wochenende zur Polizei zu gehen, um von dem Fall zu berichten. Es war gegen 13:00 Uhr, als wir das einfache Bretterhäuschen der Polizei betraten, fünf Minuten später standen wir bereits wieder draußen. Die zwei angetroffenen und offensichtlich unmotivierten Polizisten meinten, sie können da nichts machen, es gibt etwa 40 Jungs in dem Alter in Esso, und ohne die Seriennummer meines Telefons können sie mir eh nicht weiter helfen. Es ist vielleicht noch interessant zu erwähnen, dass die russische Polizei „Milizia“ vor etwa einem Jahr in „Polizia“ umgetauft wurde, da „MIlizia“ einen korrupten und nicht vertrauenswürdigen Ruf hatte. In Anlehnung an das deutsche Wort „Polizei“ wurde dann ein Neuanfang der Milizia vollzogen, indem sie den ehrenwerten Namen „Polizia“ erhielt. Korruptzia stand damals vielleicht nicht mit auf der Vorschlagsliste.
Als ich also nach dem Handyschwund am darauffolgenden Montag in der wöchentlichen Planungsrunde meiner Arbeitsstelle meinen Kollegen mitteilte, dass ich aus unerfindlichen Gründen kein Telefon mehr habe, meine mein Chef sofort, man müsse eine «заявления» oder Sajaflenija schreiben, sonst fängt die Polizia nicht an zu arbeiten. Zu meinem Glück oder Unglück (ich weiß noch nicht genau was es für mich ist) war Chef gerade geübt in dem Schreiben solcher Meldungen, da doch russische Männer die neue autarke Photovoltaik-Anlage in der 10 km entfernten Inspektorhütte des Naturparkes des Nachts im Suff mit deren Gewehr zerlöchert hatten und dies ebenfalls gerade bearbeitet wurde. So schrieben wir gemeinsam eine Meldung für die Polizia. Ich lief die etwa 300 Meter weiter zur Polizei, gab die beiden fertigen Sajaflenija-Meldungen ab, und plötzlich schien sich etwas zu regen.
Sie fragten mich genauer über die Jungs aus, mein Mitbewohner Micha, der mich zur Polizei begleitet hatte, konnte sich sogar noch an einen der Namen der Jungs erinnern und erkannte sie dann auch auf Fotos wieder, welche seltsamer Weise bereits bei der Polizia vorlagen. Während noch zig lange handschriftliche Formulare und Berichte ausgefüllt wurden und ich mir unendlich erscheinende Signaturen auf Papiere setzen sollte, welche ich nicht wirklich verstand, machten sich einige Polizisten in den uralten, rundgelutschten russischen Minibussen auf den Weg zu den Jungens. Kurz später ging ein Anruf ein, die Sachen seien gefunden worden. Ich war natürlich sofort erleichtert, da es nun doch ohne Seriennummer geklappt hatte (komisch!). Ich freute mich auf die Rückkehr meiner 500 SMS und aller Kontaktnummern meiner Freunde und Bekannten. Das Telefon an sich, nun gut, eben ein Telefon und ersetzbar, aber diese Daten, einmalig. Die rundliche nette Polizistin, mit dem rot gefärbten und perfekt liegendem Haar, die so geduldig mit mir war, meinte, sie rufe mich im Naturparkbüro an, wenn ich es abholen kommen kann.
Ich fuhr das Wochenende mit 5 Freunden zu der zerschossenen Sonnenstromanlage, um dort das letzte Wochenende vor dem Militärstart eines russischen Freundes zu genießen, mit russischer Banja und Schlafen in einer mit Rentierfellen ausgelegten Jurte. Nach der Rückkehr in die Zivilisation erkundigte ich mich bei meinen Arbeitskollegen, ob die Polizei angerufen hatte und wo sich meine Gegenstände befinden. Der erste leitete mich gleich weiter an den Chef, dieser meinte, ich müsse nochmal zur Polizia, denn irgendwas mit meinem Telefon stimme wohl nicht, es sei defekt. Aber sie rufen an, wenn wir vorbeikommen sollen.
Ich wartete gespannt weitere drei Tage, als sich immer noch nichts regte ging ich einfach selbst um mich zu erkundigen.
Die Pförtnerfrau hinter dem provisorisch zu einem Gitter geschweißten Stahlstreben, wie man sie vom Bau kennt, öffnete per Knopfdruck eine weitere solche, größere Gittertür und machte mir verständlich, dass ich eintreten solle. Hinter mir fiel die Stahlgittertür wieder ins Schloss, ich war nun in den heiligen Hallen der Polizia, die die deutschen Freiwilligen des Naturparkes sonst immer als Spione enttarnen will. So richtig verstehen die Dorfbewohner am Anfang der Welt eben nicht, warum junge Leute aus Europa in die weniger fortschrittliche Einöde Esso wollen und was diese hier genau tagtäglich tun, also sind wir Staatsspione, das würden sie jedenfalls anscheinend verstehen. Ich war also in den Klauen des Bären und gefasst wie gespannt auf das was mich erwarten würde.
Am Ende des Ganges bog ich in die letzte Tür links ein, eine hübsche, ebenfalls dickliche Polizistin mittleren Alters empfing mich und wusste auch gleich wer ich bin und was ich will, klar, das weiß ganz Esso, kommt es doch sogar im Radio und in den dörflichen Internetnachrichten, dass einem Volontär das Verbindungsstück zum Rest der Welt geklaut wurde und die Helden der Polizia dieses bereits aufspüren konnten, ja Helden, die erst beim zweiten Mal auf mich eingingen, als ich einen gefährlich aussehenden Deutschen und ein Papier mitbrachte, aber egal.
Sie berichtete mir, was sie erlebt hatte: Sie fuhren also an dem einen besagten Tag zu der Wohnung der zwei Brüder, welche bereits vor einem Monat die hart erarbeiteten Ersparnisse eines usbekischen Gastarbeiters aus dessen Wohnung geklaut hatten, welche er für die Hochzeit seiner Tochter angesammelt hatte. Dort angekommen trafen sie auf die beiden Knaben und deren Mutter. Auf die Frage der Polizisten, ob sie denn nicht ein Telefon am Thermalbad geklaut hätten, antwortete der kräftigere und ältere prompt: „Nein, ich habe nichts gemacht, wirklich Mama, ich weiß von nichts!“ Die Polizistin wusste aber aus Erfahrung, dass das Wort des Jungen keinen Wert habe und durchsuchte sein Zimmer. In dieser Unordnung stieß sie nach einer Weile tatsächlich auf einen schwarzen Beutel unter dem Kopfkissen des Jungen. Darin befanden sich neben Zigaretten, Kondomen, duzenden von Schlüsseln auch Überreste eines elektronischen Gerätes sowie eine gelbe Dynamo-Taschenlampe, wie ich sie beschrieben hatte. Daraufhin plauderte der jüngere Bruder, wie sie in meiner Jacke am Thermalbad nach Zigaretten gesucht hatten, aber nur eine interessante Taschenlampe und ein Handy fanden (meine Schlüssel ließen sie glücklicherweise in der Tasche, sie hatten vielleicht schon genug davon in ihrer Sammlung). Der Kleine sagte dem Großen, er solle das bleiben lassen, aber sein Kopf funktionierte in dem Moment schon nicht mehr. Wie besessen von Habgier oder Neugier, genau weiß das keiner, musste er es sich mitnehmen.
Das Wochenende darauf war keine Schule, die Mutter musste aber auf Arbeit, sie ist die oft unfreundliche Postfrau hinter Schalter 1. Die Jungs bekamen Angst, dass die Polizei das Diebesgut finden könnte, und so überlegten sie, wie die die Dinge zerstören könnten. Sie nahmen ein Messer und stachen auf Handy und Taschenlampe ein, eindeutig dreieckige Spuren von Messerspitzen konnte ich tatsächlich genügend auf der Taschenlampe entdecken. Das in China hergestellte Nokia Telefon hielt nicht lange Stand, die in Russland hergestellte Taschenlampe, Marke „Navigator“ war jedoch unkaputtbar, trotz Messer und drauf herumspringen (nur so als Schleichwerbung für echte Qualität!). Die Polizistin nahm die Überreste der Untat mit, den Rest des Telefons, sprich SIM-Karte, Micro-SD Karte, Handyschale, Silikonschutzhülle und Handyanhänger befinden sich irgendwo, waren angeblich nicht auffindbar (klar, man kann diese Dinge ja noch verwenden/ verkaufen).
Dieses Tütchen mit den sterblichen Überresten lag nun vor mir auf dem Polizeitisch. Ich sagte, ich könne nicht sicher sagen, ob es mein Telefon war, alle sichtbaren Merkmale waren weg, nur innere Teile lagen vor mir. Auch die Taschenlampe sah misshandelt aus, funktionierte aber noch, dennoch wollte ich sie so nicht zurück nehmen.
Die gute Frau machte mit mir noch einmal eine Grobrechnung auf einem kleinen Schmierzettel, wie teuer die Taschenlampe, das Telefon, SD-Karte, SIM-Karte, und Silikonschutzhülle waren. Natürlich ist es nicht leicht die Kassenbelege vorzulegen, wenn man 11 000 km vom Hauptwohnsitz entfernt ist, so wollte sie ungefähre Summen hören, also Handy 130€, SD-Karte weniger als 20€, Taschenlampe 450 RUB in Esso und 150 RUB in der Stadt, 300 RUB Restguthaben auf der SIM-Karte, doch wie teuer war der Silikonschutz? Es war ein Geschenk, erinnerte ich mich. Ach so, na dann ist das ja nicht dein Schaden, meinte sie dann zu mir, das dürfen wir nicht mit aufschreiben und in Rechnung stellen, schließlich hätte ich das ja nicht selbst bezahlt. Aha, interessant, dachte ich mir, aber andere Länder, andere Sitten. Am Ende belief sich die Summe auf etwa 160 Euro, welche mir die Mutter der Buben zurückzahlen soll.
Sie rief die Mutter an, fragte, ob sie das Geld zahlen wird, da sie den usbekischen Gastarbeiter von vor einem Monat auch noch nicht entschädigt hat. Diese sagte, sie gehe bald in Urlaub und würde während des Urlaubs das Geld verdienen und mir nach dem Urlaub Ende Dezember auszahlen.
Des Weiteren erzählte sie mir, wahrscheinlich, weil sie meinen Ärger in den Augen sah, was der ihrer Meinung nach aussichtslose Fall, den sie „Krankheit“ nannte noch alles angestellt hatte und wie sie ihn schon abgestraft hatte. Insgesamt saß der 11 Jährige sogar schon einen Monat in einer Art Gefängnis in der Stadt ein und schwor nachher nie wieder schlimme Dinge zu tun, das hielt immer jeweils einen Monat an. Danach kam stets eine neue Sache auf den Tisch der Polizistin. Der Bub hatte auch schon eine Kapelle beklaut, nachdem er sich vorher anständig vor dieser bekreuzigt hatte, wie es im orthodoxen Christentum brauch ist. Ein Video belegte dies alles, dennoch verneinte er seine Tat vehement, bis diese Polizistin und der Bub zusammen „Kino machten“, wie sie selbst sagte. Danach zeige er stets sie größte Reue und ist plötzlich ganz klein.
Ich bat die Polizistin noch um ein Gespräch mit den Jungs, nur damit es nicht ohne größere Unannehmlichkeiten für die Jungs ausgeht. Sie sollen merken, dass es mir nicht egal ist was sie tun oder was aus ihnen wird. Ich will nicht mit ihnen schimpfen, sondern ihnen ins Gewissen reden und ihnen sagen, dass es ihr eigenes Leben ist, was sie sich zerstören. Handy hin oder her, das Traurigste an der Sache sind für mich diese zwei scheinbar kleinen Jungs, die anscheinend viel allein gelassen wurden und das Leben und die Welt zu wenig erklärt bekommen haben. Sie haben keine Perspektive, sind schlecht in der Schule, haben keine Freunde, die Familie mit dem zweiten Mann an Mutters Seite ist laut Polizei auch nicht besonders reich (warum hat diese Postangestellte dann immer perfekt gemachte Plastikfingernägel und stets frisch blondiertes Haar? Hmm…).
Was ich noch von der Polizistin wissen wollte, war, warum ihre Kollegen nichts taten und mich indirekt ausgelacht hatten, als ich das erste Mal über meinen Verdacht berichtete. Daraufhin erwiderte sie nur, dass sie sich wirklich für ihre Kollegen schäme. Als ich noch mal nachhakte, ob das so normal sei und es wieder so laufen wird, zeigte sie mir ein Foto mit vier ihrer Kollegen, von denen keiner der besagte Faule war. Sie fragte, ob ich sicher sei, dass es nicht der oder der war, da sie es sich bei denen am ehesten vorstellen könne dass sie es waren, ich verneinte nochmals und beschrieb ihn kurz, ich glaub dann wusste sie welchen Kollegen ich beim ersten Besuch angetroffen hatte.
Sie zeigte viel Verständnis für mich und meinen Ärger, wobei ich nicht genau weiß, wie viel davon gespielt war.
Geschockt von diesen scheinbar rettungslosen Jungs und den „akkuraten“ Polizisten, verließ ich die Polizeistation, lief unter Tränen durch das weiße, sauber erscheinende Dorf. Der Schnee knackte unter meinen Schuhen, oft war die festgefahrene Schneedecke eisig glatt. Nein, heute könnte ich keinen anständigen Gedanken mehr zustande bringen, keine Betriebsanleitungen für zerschossene Solaranlagen mehr weiter übersetzen und auch keinen Deutsch- und Englischunterricht für die netten (und das meine ich an dieser Stelle ernst) Dorfbewohner mehr geben. In mir war Trauer, Wut, Rachegedanken, Zerstreutheit, Verwirrtheit- kurz: alles zusammen, was ich sonst so gut wie nie in mir trage.
Trauer um meine Gegenstände und um alle bereits Geschädigten und auch für diese Familie, Wut auf die Polizei, denn hätte diese bei meinem ersten Besuch und Verdacht auf zwei Jungs im Alter von 10 bis 11 sofort was getan, hätte ich vielleicht mein Telefon im Ganzen wieder und die arme Mutter müsste vielleicht kein Geld zahlen, aber nein, sie hatten ja offensichtlich keine Lust gehabt zu arbeiten, aber auch Wut auf diese Jungs und deren Mutter, die vielleicht irgendwas falsch gemacht hat bei ihrer Erziehung, Rachegedanken waren zum Beispiel einen Deal mit der Mutter auszuhandeln das Geld gegen die zwei Lenkschlitten der Jungs einzutauschen, damit die Jungs und nicht die Mutter den Schaden hat. Ja und die Verwirrtheit kam ganz von alleine dazu, ich packte meinen Kram im Büro zusammen, sagte meinen Schülern den Unterricht ab, meldete mich kopfkrank für den Tag und entwich.
Daheim in dem Haus der Freiwilligen angekommen wurde zuerst die sehr anhängliche Katze ausgesperrt und die Katzenklappe versperrt, dabei sah ich, dass dann neben der rausgeschmissenen Katze auch noch aufgerissene Tüten mit Karottenraspel-Klumpen und Beeren im Schnee lagen, die ich wegen Platzmangel und den wöchentlichen und manchmal einen halben Tag andauernden Stromausfällen und den damit verbundenen Auftauproblem in einer Kiste mit Deckel nach draußen auf die Terrasse in den sicheren Dauerfrost gestellt hatte. Anscheint fanden Raben oder andere Tiere dieses Versteck und freuten sich über frische Vitamine. Ich rettete einen Teil in den Tiefkühler, in dem sich zwischenzeitlich schon ein oder zwei Lachse einquartiert haben.
Ich machte mir Rammstein an und aß etwas, allmählich konnte ich meinen Kopf wieder aufräumen und danach diesen Text hier schreiben. Inzwischen bin ich bei Weihnachtsmusik angekommen und werde mich dann der Perlenstickerei widmen, die ich erst gestern angefangen habe von einer Freundin und Deutschschülerin zu lernen.
Ja, Probleme gibt es überall auf der Welt, man kann nicht vor ihnen davon laufen, sondern sollte sie anpacken und versuchen sie zu lösen. Man wird daraus etwas lernen und reicher an Erfahrung – ganz egal wie es ausgeht. Und Erfahrungen hat man dann immer bei sich, sie kann glücklicherweise niemand klauen! Das habe ich heute wieder einmal mehr erfahren und gelernt.