Upside down
Was beschäftigt uns eigentlich?
Raus aus dem Trolli, überquere die Straße, Menschen gehen an mir vorbei und das Licht der Ampel wechselt wieder von rot zu grün.
Leicht setze ich einen Fuß vor den andern, atme die frische Luft ein und bin in Gedanken irgendwo neben dem Hier und Jetzt.
Was ist alles passiert? Die vergangenen Wochen waren fast wie ein Wirbelsturm und so selten wie ich die Sonne in letzter Zeit sehe, finde ich auch kaum Zeit über alles nachzudenken.
Meine Finger werden immer unbeweglicher von der Kälte, die sich hier breit gemacht hat. Während des Tages noch ganz erträglich, entwickelt sie sich doch zu einem ungemütlichen Begleiter, sobald die Sonne ganz verschwunden ist und die Nacht beginnt. Zurzeit jeden Nachmittag um sechzehn Uhr.
Einige Mütter und Väter mit Kinderwagen kommen mir entgegen. Ich frage mich, was sie wohl machen, wenn tatsächlich nächste Woche der angekündigte Schnee kommt. Die Luft riecht jedenfalls schon mal danach.
Blätterlose Bäume säumen den Weg und ich erinnere mich an den bunten Herbst, der diese Allee vor Kurzem noch so zum Leuchten gebracht hat. Kolde puiestee.
Mit jedem weiteren Schritt, den ich gehe, fallen mir die Gedanken leichter. SIe formen sich zu einem Band und entwickeln sich. Plötzlich kann ich nicht mehr aufhörn - ich habe das Gefühl, als würde alles aus meinem Herzen in meinen Kopf sprudeln.
So viele Dinge, die hier und außerhalb passiert sind und bei denen es längst überfällig ist, sich mal damit zu beschäftigen.
Zum Einen ist da das leidige Flüchtlingsthema, das auch nur als leidig betrachtet werden kann, weil das Leid der aus Kriegsgebieten Flüchtenden mehr als je zuvor verdeutlicht wird. Es stellt alle Menschen vor eine Herausforderung und ich fühle mich schon fast wie eine Fremde, wenn ich politische Entscheidungen oder gesellschaftliche Ereignisse aus Deutschland mitbekomme. Ich habe langsam das Gefühl, kein Teil mehr davon zu sein, nicht mehr zu wissen, was die Leute aus meinem Land, meiner Gesellschaft beschäftigt, was sie denken und für welchen Weg sie sich entscheiden, während alle den Untergang der Europäischen Union prognostizieren. Dabei ist die einzige Blockade in dieser Sache unser Egoismus. Der Egoismus der einzelnen Länder, Regierungen und Menschen. Eigentlich sollten wir mittlerweile festgestellt haben, dass Zusammenarbeiten erfolgreicher ist als nur alleine gegen den Rest. Wir haben verlernt, Kompromisse einzugehen und Zuzuhören. Zu verstehen, was vor sich geht und vor allem warum.
War es nicht vor fünfundsiebzig Jahren noch so, dass Tausende Europäer vor dem Krieg nach Amerika geflohen sind?
Viele sind zurückgekommen, aber viele sind auch geblieben. Und haben sich die Amerikaner oder Kanadier jemals beschwert?
Was uns im Augenblick Angst macht, ist, etwas von unserem gut aufgebauten Wohlstand womöglich einbüßen zu müssen, indem wir es teilen.
Hier in Estland ist die Bevölkerung mehrheitlich dagegen Flüchtlinge aufzunehmen. Sei es, weil sie die Entwicklung ihrer noch jungen Wirtschaft nicht gefährden möchten oder weil sie noch immer mit den Unterschieden und Schwierigkeiten zwischen Russen und Esten beschäftigt sind.
Dennoch sind wir alle Europa und eigentlich ist die Europäische Union etwas, worauf wir stolz sein sollten, weil sie die Entwicklung unseres Wohlstandes erst richtig vorangebracht hat.
Die Frage ist, welche Identität wir haben. Als was wir unsere Heimat sehen. Von was wir ein Teil sind und sein wollen.
Wir haben so viel, wovon wir profitieren können, nicht zuletzt diese sprachliche Vielfalt und unterschiedliche Kultur auf so engstem Raum. Aber eben nur, wenn wir es gemeinsam tun.
Vor allem durch den EVS hier habe ich gelernt, was man mit Menschen unterschiedlicher Herkunft erreichen kann. Und auch persönlich entwickelt man sich dabei weiter.
Ich kam hier her, alleine und voller Erwartungen. Nun bin ich hier seit mehr als zwei Monaten und wenn ich daran denke, dass das alles schon in ein paar Monaten vorbei sein soll, krampft sich in mir etwas zusammen.
Mittlerweile habe ich meinen eigenen Physiotherapie-Workshop gestartet, war in verschiedenen Gruppen bei meiner Arbeit und entwickele immer wieder neue Ideen mit unterschiedlichen Menschen.
Das, was ich wohl am meisten zur Kenntnis genommen habe, ist, dass man alles erreichen kann, was man sich vornimmt. Nur schafft man es nicht alleine.
Etwas bewegt schaue ich auf den Sand unter meinen Füßen. Er fühlt sich weich an und bildet einen schönen Kontrast zu dem grauen, harten Asphalt daneben, der die Wege ebnet.
Am Wasser angekommen zu sein, spendet Trost. Ich lausche den Wellen und blicke in die Ferne. Ein heller Schimmer am Horizont zwischen den Wolken. Es scheint, als hätte er all die Gewissensbisse der letzten Tage verschluckt. Nun kann ich mich wieder konzentrieren und fühle mich erleichtert. Erleichtert, endlich Zeit gefunden zu haben, über alles nachdenken zukönnen. Worte zu finden, die meinen Gefühlen Ausdruck verleihen.
Und ich spüre wieder etwas von der Unbeschwertheit der vergangenen Jahre in mir.
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