"Und, wie ist China so?"
Unser Seminar in Nanjing. Drei Tage voller gedanklicher Anstöße, emotionaler Aufarbeitung und Reflexion.
Donnerstag Nachmittag machte ich mich alleine zum Flughafen in Shenyang auf. Mein Ziel: Nanjing. Dort hatte ich eine Verabredung mit weiteren Kölner-Freiwilligen, die seit letztem Jahr in verschiedenen chinesischen Städten an Goethe-Sprachlernzentren arbeiten. Von Freitag bis Sonntag fand unser Zwischen- bzw. Abschlussseminar statt.
Bevor es los ging, hatte ich noch die schöne Möglichkeit, mir ein bilinguales Theaterstück zu dem Verhältnis von China und einreisenden Ausländern, den Pepper Mountain und das Haus des John Rabe anzuschauen. John Rabe war ein Deutscher, Gesandter der NSDAP, der zur Zeiten des Nanjing-Massaker (durch die Japaner) mehreren 100.000 Menschen das Leben rettete.
Ab Freitag Nachmittag fand sich unsere Gruppe, bestehend aus 4 Freiwilligen und unser Seminarleitung, in den Räumlichkeiten des SLZ ein. Nach kurzer Vorstellungsrunde war die erste Frage, die im Raum stand: „Und, wie ist China so?“. Eine Frage, mit der wir alle oft konfrontiert waren bzw. sind bzw. nach unserer Rückreise sein werden. Eine Frage, auf die es keine klare Antwort geben kann – auch, wenn es sich viele wünschen. Eine Frage, bei deren Beantwortung schnell voreilige Schlüsse gezogen werden können. Eine Frage, mit der man sich stundenlang beschäftigen kann und, die eine gute Gesprächsgrundlage bietet. An diesem Nachmittag tauschten wir uns über allerlei Erfahrungen und Gedanken aus, über Beobachtungen und persönliche Empfindungen. Die Zeit raste.
Der Samstag wurde der arbeitsintensivste Tag. Während unseres Vormittagsblocks beschäftigten wir uns mit dem Thema „Kulturschock“. Wir schauten auf vergangene Herausforderungen und Erfolge. Wir versuchten unseren Stimmungsverlauf der letzten Monate zu erfassen. Dabei entdeckten wir, wie unterschiedlich unsere Zeit in China geprägt war. Wir lasen den Text „das normale Leben“ von Craig Starti. Dabei wurden wir mit dem Kulturschock konfrontiert, der uns nach unserer Rückkehr in Deutschland erwartet. Was viele unterschätzen. Der Textauszug enthielt Hinweise wie, dass „niemand nach Hause geht“, sondern „alle bauen ein neues zu Hause auf. Dieser Zustand der Heimatlosigkeit ist vielleicht das zentrale Merkmal der Rückkehrerfahrung“. Im nachfolgenden Gespräch wurde mir erneut bewusst, wie viele Herausforderungen mir doch in Deutschland begegnen werden, dass ich mir Strategien für gewisse Situationen überlegen sollte, und dass mein Freiwilligendienst durch meinen Rückflug noch lange nicht abgeschlossen sein wird.
Die emotionale Komponente in diesem Arbeitsblock bot ein Gedankenexperiment, bei dem wir uns mit dem unserer Rückreise, unserer Ankunft in Deutschland, den Worten „Nur Ausgang, kein Eingang“ beschäftigten. Die bildlichen Vorstellung ließ Emotionen in mir aufsteigen und mir wurde auf einmal wieder bewusst, wie sehr mich der Abschied hier und die Ankunft in Deutschland emotional aufrütteln werden. Im Nachmittagsblock des Samstag widmeten wir uns außerdem Fragen wie „Was habe ich bereits gelernt?“, „Wie nutze ich meine Erfahrungen in Deutschland?“, „Was werde ich vermissen?“, „Wie möchte ich über China berichten?“, „Was bedeutet Zuhause?“ und „Wie kann ich meine Erfahrungen verarbeiten?“. All diese Gedanken ließen wir am Abend auf dem Dach des SALZ-Gebäudes ausklingen. Mit Blick auf die tolle Nanking-Skyline. Mitten in der Stadt hatten wir einen Ort gefunden, um zur Ruhe zu kommen.
Am nächsten Morgen wachten wir alle energiegeladen auf. Nach ein paar Anfangsübungen setzten wir uns an die Rückmeldung für unsere Sprachlernzentrum. Eine umfassende Kritik zeigte, wie unterschiedlich doch die Abläufe an den SLZ sind. Wir alle konnten sowohl einige gute Punkte, als auch einige Verbesserungsvorschläge notieren.
In den letzten Schritten des Seminars befassten wir uns mit der „Taifler & Turner-Theorie“ aus den späten 80s. Sie befasst sich mit der sozialen Identität, Gruppenzugehörigkeit und der Frage „Wie viel braucht es, damit ich mich einer Gruppe zugehörig fühle und den Wert meiner Gruppe über die einer anderen Gruppe stelle?“. Die Antwort: Sehr sehr wenig. Um kognitive Prozesse zu vereinfachen und spontan Entscheidungen treffen zu können, ist unser Gehirn darauf angewiesen, die Umwelt zu kategorisieren. Das fängt bei sozial – nicht sozial an und hört bei der Einteilung von Mitmenschen in verschiedene Gruppen auf. Die Kategorisierung findet automatisch statt und verleitet uns dazu, sehr schnell über Menschen zu urteilen. In gefährlichen Situationen kann das nützlich sein, um uns zu schützen. In anderen Situationen fördert es Vorurteile. Kleine Unterschiede im Verhalten und Aussehen werden als Grundlage einer Kategorie genutzt. Die Abgrenzungen zu anderen Gruppen erscheinen allerdings sehr groß. Gute Beispiele für Verallgemeinerungen sind „alle Chinesen sind …“, „alle Deutschen sind ...“, „alle Jugendlichen sind ...“ oder „alle Flüchtlinge sind ...“. Dabei bekommen Persönlichkeiten – Menschen, die unfassbar viele Rollen in der Gesellschaft einnehmen (Familienmitglied, Teil einer Gesellschaftsschicht, eines Bildungssystem/der Arbeitswelt, eines Freundeskreises, einer Wohngemeinschaft, Zugehörigkeit zu Geschlecht, Altersklasse etc.) - einen Stempel aufgedrückt und werden nur im Hinblick auf eine von sehr sehr vielen Rollen betrachtet. Sich über diesen Mechanismus bewusst zu sein, kann bei dem Versuch helfen, interkulturelle Kluften zu überwinden. Der Blick kann weg von kleinen Unterschieden hin zu großen Gemeinsamkeiten gerichtet werden.
Unser Seminar schlossen wir mit einer Feedback-Runde ab. Beim Essen von Jiaozi (kleine Maultaschen) und Suppen-Baozi (Teigtaschen mit Suppe und Fleisch gefüllt) ließen wir unser Wochenende gemütlich ausklingen. Nur wenige Stunden später saß ich wieder in meinem Zimmer in Shenyang. Mein Kopf voller Gedanken. Nun heißt es: Mir selbst immer wieder Zeiten in meinen Alltag einbauen, in denen ich mein Wohlbefinden, meine Arbeit reflektiere, meine nächsten Schritte plane und mich emotional auf kommende Herausforderungen vorbereite. Unser Seminar bat die Möglichkeit, sich für einige Stunden auf sich selbst zu konzentrieren, auf Erfahrungen zurückzublicken und einen Blick nach vorne zu werfen. Es hat mein Bewusstsein in vielen Bereichen gestärkt. Ich denke, dass eine solche Austauschplattform innerhalb eines so intensiven absolut empfehlenswert ist.
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