Последный раз / Ultimă datâ / The last time / Ein letztes Mal
"Je undramatischer man einen Abschied vollzieht, desto leichter fällt er einem." Ganz nach diesem Motto beschreibt Lockenjule die letzten Stunden und Tage ihres Europäischen Freiwilligendienstes in Chisinau.
Je undramatischer man einen Abschied vollzieht, desto leichter fällt er einem. Ich persönlich habe alle meine Abschiede zwar als traurig, aber auch als zum richtigen Zeitpunkt gekommen empfunden. Einige Abschiede sind mir gar überhaupt nicht als solche bewusst geworden. Aber bei so vielen Dingen und Menschen, die man beim Verlassen eines Landes, eines anderen Lebens verabschiedet, kann einem auch kaum jeder Abschied bewusst werden.
Meine letzten Tanzstunden gab ich ganz genau wie immer, ohne große Ankündigung, dass sie die letzten sein würden. Natürlich hatte ich den Kindern von meiner baldigen Abreise erzählt, aber gleichzeitig immer versucht, keine Abschiedsstimmung aufkommen zu lassen. So gaben sich meine hopsenden Lieblinge zwar mehr Mühe, um das letzte Mal noch mal ganz brav und intensiv zu üben; taten mir aber außerdem noch unbewusst den Gefallen, nicht in die Kinder-übliche Wehmutstimmung zu verfallen. Ich selbst realisierte es auch nicht so recht, zum letzten Mal Unterricht zu geben, denn der gewohnte Ablauf nahm meine Konzentration wie immer voll in Anspruch.
Ebenso gestaltete sich meine Abschlussfeier. Die Kinder waren aufgeregt, weil sie ihre Tänze vorführen sollten (diesmal eine Choreografie von zwei Tanzgruppen zusammen, was natürlich besondere Erregung auslöste), ich war mit dem Schminken meiner Tanzmäuse und dem Kostümieren beschäftigt; die dicke Supervisorin rannte mit hochrotem, schweißbeperltem Kopf durch die Gegend und wusste doch nicht so recht, was sie nun eigentlich tun sollte.
Während der Feier machten wir Freiwilligen wie immer Spiele mit den Kindern, die Mädchen führten ihr Tänze vor, das leider nur kleine Publikum klatschte - kurz, die Menge hatte wie immer ihren Spaß. Einzig unterschied sich die Feier von anderen Festlichkeiten dadurch, dass ich von den Kindern reich beschenkt wurde: Kuscheltiere, Armbänder, Küsschen, Chisinau-Magneten und als mein persönliches Highlight eine selbstgefädelte Perlenkette mit passendem Armband, auf die Zettelchen mit den Namen aller Tanzmädchen aufgefädelt waren… Diesen Schatz werde ich wohl bis ans Ende meiner Tage hüten. Nicht so all die Kuscheltiere, die ich auch von den Supervisorinnen geschenkt bekam (die plüschigen Staubfänger sind in Moldau sehr beliebt und üblich als Erinnerungsgeschenk und als Ausdruck liebevoller Freundschaft). All diese zwar von mir als liebevolles Abschiedsgeschenk verstandenen, aber absolut nicht nutzbaren toten Tiere wanderten direkt weiter an die Freiwillige Lies und das Kinderheim, in dem sie arbeitete. Dort freute man sich mehr darüber und die Kuschelviehcher wurden und werden auch tatsächlich benutzt.
Nach Programm und Spiel bekam ich von den Supervisorinnen unter Lob und Dank noch eine Urkunde zum Zeichen meiner erfolgreichen Arbeit überreicht. Von allen Seiten wurde ich dann umarmt, abgeknutscht, angelächelt und vor diverse Kameras gezogen. Als der Tränenwasserfall der Dicken endlich versiegt war, ging es dann aber auch schon wie gewohnt zum Vollfressen ins kleine Projektbüro. Nach und nach gingen die Kinder, bekamen zum Abschluss noch mein kleines Geschenk (ein Glitzer-Armband, ganz nach moldawischem Geschmack)und nach und nach wurde es immer leerer im Projekt, bis wir schließlich nur noch ganz wenige waren.
Dann verabschiedete ich mich vom Rest der Gesellschaft, übergab noch all die Klingeltücher und Fächer an das Projekt (was sollte ich auch zukünftig mit all dem Zeug), packte meine sieben Sachen und… verließ mit zwei Mädchen an der Hand und einigen Freiwilligen im Schlepptau das Projekt. Wie immer durften die Mädchen mich noch bis zur nächsten Querstraße begleiten, wie immer drückten sie mich zum Abschied noch mal ganz fest… und dann war alles auch schon vorbei.
Ein wenig traurig war ich schon, als ich kurz darauf den Trolleybus Richtung Innenstadt bestieg und meine Arbeit, die Kinder und alles was dazugehörte für immer hinter mir ließ. Aber lange Zeit zum Grübeln und Trauern blieb mir nicht, denn ich war auf dem Weg zum nächsten Abschiedstreffen: Zur letzten Russischstunde mit meiner Lieblingslehrerin Olga. An der Bushaltestelle kaufte ich noch schnell einen großen Blumenstrauß (wie auch schon fürs Projekt, ganz in moldawischer Tradition). Kurz darauf stand ich auch schon vor Olgas Tür.
Wie üblich öffnete sie mir mit ihrem breiten Lächeln, bat mich herein, bot mir wie immer Tee und Kekse an. Für mich war das alles sehr beruhigend, kein großer Abschiedskokoloris; dachte ich zumindest bis dahin. Wir verbrachten wie üblich unsere Stunde mit Formen Abfragen, Texte Lesen, Übungen Durchgehen und vom Tag Erzählen. Erst als die offizielle Unterrichtsstunde vorbei war, begann Olga überhaupt von Abschied zu reden. Sie überreichte mir einen Stapel Kopien, die ich doch bitte allein in Deutschland bearbeiten sollte, damit ich Russisch nicht wieder verlernte. (Ja, ich gebe zu, ich habe bis heute noch keinen einzigen Blick darauf geworfen). Ich überreichte ihr mein Abschlussgeschenk, bestehend aus einem Abschlussbrief (natürlich auf meinem schlechten Russisch) und vielen kleinen Bildern, auf denen Dinge, Räume und Personen zu sehen waren, die allesamt mit Russischvokabular beschriftet waren - sozusagen neues Unterrichtsmaterial für sie.
Olga freute sich wie erwartet über das selbstgemachte Geschenk, bedankte sich überschwänglich bei mir und lobte mich als strebsame und wissbegierige Schülerin. Dann erhob sie sich entschlossen und meinte, ich solle ihr jetzt noch ein wenig Gesellschaft leisten und mit ihr zusammen die Torte essen, die sie gestern gekauft hatte - quasi als Abschiedsnaschen. Ich hatte nämlich in jeder ihrer von mir geliebten Stunden Kekse, Schokolade oder Bonbons bekommen und diese in meiner allseits bekannten Fresslust auch immer gern zu mir genommen. So auch in dieser letzten Unterrichtsstunde… nicht ahnend, dass noch eine Torte auf mich wartete.
Nach einer weiteren Stunde russischen Gesprächs, unzähligen Kalorien und literweise Tee verabschiedete ich mich dann endgültig von ihr; und rollte wiederum ein bisschen traurig in Richtung Bushaltstelle.
An diese "letzten Male" reiten sich noch weitere an, deren detaillierte Ausführung den Leser auf Dauer wahrscheinlich nur langweilen würden: Ich unternahm ganz früh am nächsten Morgen einen letzten Spaziergang durch meine Wohngegend, hin zu den beiden Stadtparks im Zentrum; vorbei an der zentralen Kirche der Stadt, vorbei an Stefan cel Mare, der auch noch in hundert Jahren unermüdlich in seiner stattlichen Pose stehen und das Land beschützen würde… vorbei an den vielen Büsten der berühmten Männer Rumäniens, vorbei an den Eis- und Popcornständen, vorbei an unserem Lieblingsrestaurant Andy’s Pizza, vorbei am von uns meistbesuchtesten Supermarkt, dem 24 Stunden geöffneten Fidesco.
Am Abend desselben Tages nahm ich zum letzten Mal an einem der zahlreichen Konzerte auf dem zentralen Platz der Stadt teil. Zahlreiche Sänger aus Moldawien und Nachbarländern traten auf, um das Publikum auf den dann folgenden Eurovision Song Contest vorzubereiten. Insgesamt acht Stunden stand ich mit wechselnden Mitfreiwilligen auf dem Platz vor der Bühne, um mir zuerst schlechte Techno-Popmusik aus der Region und dann ebenso wenig talentintensive Musik aus ganz Europa anzuhören und -sehen. Aber die Musik war ja auch nicht von Interesse; viel wichtiger war die gute Stimmung innerhalb der Freiwilligen, die Feier-, Tanz- , Trink- und Gröhllaune… insbesondere natürlich durch den Erfolg der Deutschen beim Eurovision Song- Contest.
Am Sonntag dann, dem letzten Tag vor meiner Abreise, versammelten sich einige der Freiwilligen in einem Park, um mir und zwei anderen Freiwilligen zu Ehren ein kleines Abschiedspicknick zu veranstalten. Zuerst trübten einige Regentropfen und zahlreiche Mücken unsere Feier- und Futterlaune ein wenig, aber je länger wir saßen und aßen, desto mehr kam die Sonne heraus und die Mücken verschwanden in den Büschen.
Mit den Sonnenstrahlen mehrte sich auch die Zahl der Picknickteilnehmer; und nachdem die ersten Plastikbecher Wein, Gurkengläser und Keksrollen geleert waren kam es zu meinem persönlichen Höhepunkt der Abschiedsfeier. Rosi überreichte mir feierlich ein – ganz in moldawischem Stil - pink-glitzerndes Buch, dessen viele einst unbeschriebene Seiten mit Fotos, Beschreibungen und Kommentaren unserer gesamten gemeinsamen Zeit in Moldawien gefüllt waren. Zudem hatten andere mit uns befreundete Freiwillige ihrerseits noch Sprüche zu einzelnen Fotos oder Ereignissen hinzugefügt. Ich war natürlich hoch erfreut über das aufwendige Geschenk, dessen Produktion wohl Tage und Wochen gedauert haben musste. In (wenn auch heiterer) Abschiedsstimmung bat ich noch alle anderen Freiwilligen, etwas auf die letzten Seiten des Buches zu schreiben, was auch eifrig und voller Kreativität wahrgenommen wurde.
Aber dieses Geschenk wurde noch durch weitere bereichert, die in ihrer Einzigartigkeit und liebevoll aufwendigen Bereitung dem Buch nichts nachstanden: Von Lies (jene Freiwillige, die sich meiner erbarmte und mir erste Altgriechischkenntnisse vermittelte) bekam ich ein selbstgeschriebenes Gedicht auf Latein und Altgriechisch: Die ersten Verse der "Aeneis", in all ihrer distichen Feinheit, umgeschrieben auf meinen Aufenthalt in Moldawien! Jeder, der auch nur ein wenig Unterricht in einer dieser klassischen Sprachen genießen durfte, kann sich jetzt ansatzweise vorstellen, welch Aufwand das gemacht haben muss...
Von Suse (der anderen Freiwilligen in meinem Projekt, mit der ich all meinen schlechten Humor am besten teilen konnte) bekam ich ein T-Shirt, auf dem die Kinder des Projektes und viele Freiwillige unterschrieben hatten. Zudem stand auf der Brust ein für uns geflügelter Spruch, der einst in einer komischen Situation gefallen war und uns seitdem alle humorlosen Minuten mit heller Schadenfreude versüßt hat. Auch dieses Geschenk werde ich, ebenso wie die anderen, ich größten Ehren halten.
Viel zu schnell verging der Nachmittag im Park, und als die Mücken uns am frühen Abend erneut den Kampf ankündigten, verließen wir schleunigst unser Lager im Gras und machten uns auf in eine Bar in der Innenstadt. Auch dort verlebten wir noch einige heitere Stunden, aber dann hieß es auch schon Abschied nehmen. Es war, zugegeben, ein trauriger Abschied; insbesondere von denen, die nicht innerhalb der deutschen Grenzen leben und mit welchen ein Wiedersehen wenn überhaupt in zeitlich wie örtlich weiter Ferne möglich sein würde. Aber nun ja, so ist das Leben… auf Anfang folgt Abschied und andersherum.
Am nächsten Nachmittag verließ ich dann voll gepackt mein leeres Zimmer, winkte meinem Häuserblock und meiner Straße, und machte mich zusammen mit Rosi vollgeladen und schnaufend auf in Richtung Busbahnhof. Da wir nun aber schon immer einen Hang zum Umweg hatten - in unserem Alter nimmt man schließlich alles mit, was man sehen und kriegen kann - bogen wir kurz vor dem Bahnhofsplatz in eine kleine Seitenstraße ein. Dort nämlich kehrte Rosi sonst dreimal wöchentlich ein, und ich hatte sie auch schon ein-, zweimal begleitet. Zusammen mit drei anderen weiblichen, mir allesamt höchst sympathischen Freiwilligen-Damen gingen wir zum 'Russenhopsen'. Russenhopsen, das beinhaltet einen kleinen, von Spiegeln umgebenen Trainingssaal voller Weiber, die sich den Problemzonen ihrer Figur bewusst geworden waren.
Eine Stunde lang hampelten wir also eifrig zwischen vielen anderen Frauen und Fräuleins, die zumeist selbst für Aerobic perfekt geschminkt und zur besseren Fettverbrennung mit Anti-Cellulitis-Cremes eingerieben oder mit Frischhaltefolie umwickelt waren. Wie immer war es anstrengend, aber mit den anderen Freiwilligen hochgradig amüsant: Mit Rosi beeierte ich mich über die höchst eigenwilligen Interpretationen der Aerobicbewegungen, die so manche Walküre an den Tag legte. Mit Suse feixte ich die ganze Zeit über unsere eigene Konditionsschwäche und die Sprüche, die Suse mit dem Finger auf den beschlagenen Spiegel schrieb.
Aber bald war auch diese letzte hautnahe moldawische Kulturerfahrung vorbei, die russische Rums-Bums-Techno-CD zu Ende und die Stunde vorbei. Husch, husch ging’s in die Umkleide, schnell frisch machen und anziehen, und dann mit dem gesamten Gepäck weiter zum Busbahnhof. Alle freiwilligen Hopsdamen kamen noch mit: meine Arbeitskollegin Suse, ihre französische Mitbewohnerin und talentierteste Aussprecherin des Wortes 'Arschloch' ("Ärrschlööch") Marion und meine liebste Freitag-Nacht-bei-mir-schlaf-Tante Romy. Rosi war natürlich auch von der Partie, aber sie fuhr dann ja auch mit mir nach dem schönen Bukarest - unserem gemeinsamen Abschlussreiseziel.
Am Busbahnhof erwartete mich noch eine freudige Überraschung: Der Praktikant der deutschen Botschaft und der Praktikant irgendeiner Nichtregierungs-Weltrettungs-Organisation, die vor kurzem ein paar Stockwerke unter uns eingezogen waren, waren extra zum Bahnhof gekommen, um mir Lebewohl zu sagen. Und mich überkam wiederum die Wehmut, als Rosi und ich nach innigem Abschied dann in den Bus stiegen, winkten und denen Grimassen zogen, die da alle extra für meine höchst unwichtige Verabschiedung gekommen waren.
Aber schon bald hatte der Bus den Bahnhof hinter sich gelassen, rollte aus der Stadt heraus und in den Abend hinein. Zum letzten Mal betrachtete ich die mehr oder weniger schönen Straßen der Stadt und die Menschen und Hunde, die auf ihnen liefen. Zum letzten Mal fuhr ich durch das 'Tor' von Chisinau (zwei riesige Häuserblöcke rechts und links neben der Straße Richtung Flughafen). Zum letzten Mal starrte ich gedankenverloren aus dem Fenster des Busses, währen die Dörfer und das weite grüne Land endlos an mir vorbeizogen, bis die Dunkelheit sie verschluckte.
Aber dieser Bericht soll kein trauriges Ende haben, sondern ein freudiges. Denn mit welchem Genuss, welchem Stolz und welcher Freude denke ich an all die schönen und vor allem lehrreichen, aber auch mühseligen Stunden meines Freiwilligendienstes. Unsere und meine Arbeit, Unterkunft, Freunde und Bekannte, unsere und meine Reisen, Partys und gemütlichen Stunden, unser und mein Lernen, Erleben und Erkennen - all das behalte ich bester und positivster Erinnerung. Und daher will ich diesen Bericht mit einem meiner liebsten Zitate schließen: "Schöne Tage… nicht weinen, dass sie vergangen, sondern lachen, dass sie dagewesen!"
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