Tourismus total in Metropolis
„Früher war alles besser. Da konnte man sich in einen Bus nach Newcastle setzen und fühlte sich wie am anderen Ende der Welt. Heutzutage muss man bis nach London fahren und alles auf eigene Gefahr selbst organisieren, um dieses Losgelöst-von-Zeit-und-Raum-Gefühl zu haben. Also: auf zur größten Touristentour aller Zeiten.“
Dieses ist der erste Streich: Mal schnell nach London
Früher war alles besser. Da konnte man sich in einen Bus nach Newcastle setzen und fühlte sich wie am anderen Ende der Welt. Heutzutage muss man bis nach London fahren und alles auf eigene Gefahr selbst organisieren, um dieses Losgelöst-von-Zeit-und-Raum-Gefühl zu haben. Auf der anderen Seite ist es schon toll, inzwischen spontan für ein Wochenende ans andere Ende vom Land zu fahren. Also: auf zur größten Touristentour aller Zeiten.
Wir machen den Weg frei
London – das war unser Ziel, Hannis und meins. Von ihr war ich wieder um Mithilfe und Begleitung gefragt geworden, um dort unten eine Familie zu treffen, die sie als Aupair einstellen wollten. Selbst nachdem sie inzwischen woanders zugesagt hat, wollten sie Hanni treffen, was bei mir zwiespältige Erinnerungen an Halifax wachrief. Diesmal wurden wir aber nicht sonderlich enttäuscht und – was weit wichtiger war – Hanni hat London gesehen. So ziemlich alles davon.
Ich war etwas genervt, weil am Ende sämtliche Organisation an mir hängen blieb. Was stressig war, denn die Bahn spielt im Moment verrückt und man kriegt kein Ticket unter £ 35 vor Mitte Juli. Als ich schon fast aufgegeben hatte wurde mir die Übernachtverbindung des National Express empfohlen, wofür wir dann erfolgreich Karten von und nach Durham bekamen. Dann erhielt ich noch die Gelegenheit, mich meinem kürzlich erlebten Trauma zu stellen und wieder ein Quartier zu suchen. Was dieses Mal wunderbar reibungslos mit einem Anruf erledigt war.
Freitag: Tea for two
Freitag ging es frühmorgens noch einmal nach Gibside. Diesmal konnte ich ja vorher nicht gleich in Newcastle übernachten und musste den ganzen Weg von der Farm zurücklegen; zum Glück hatte ich die Strecke ja am letzten Sonntag aber schon einmal ausprobiert. Dort war ein sehr ruhiger Tag, weil kaum jemand da war. Ich hab auch nicht viel gemacht, bin aber endlich am Freischneider ausgebildet worden. Was wirklich viel Spaß macht und vor allem beeindruckend aussieht. Das einzige Mal, dass ich ohne Regenmantel auftauchte; wenig überraschend fing es nachmittags an zu gießen. Aber nach bald einem Jahr Gewöhnung an Easington Colliery hab ich einfach Kleidung aus der Freiwilligenhütte geklaut. Diesmal war auch Natalia endlich mal richtig greifbar, mit der ich mich dann nach Dienstschluss in Newcastle in ein Café gesetzt hab.
Dinner for one
Gegen acht muss es gewesen sein, dass ich mit dem Zug nach Durham fuhr, um dort auf Hanni zu warten. Die ließ sich gerade genug Zeit, um mich auf der fruchtlosen Suche nach einer akzeptablen Lokalität (also einer ohne aufgetakelte Engländerinnen am Freitagabend) müde, hungrig und missmutig werden zu lassen. Außerdem hatte sie gerade erst gegessen, sodass man sie nicht einmal zu einem halbwegs gepflegten Dinner einladen konnte. Stattdessen Pizza Hut, nur für mich.
Danach haben wir uns bis elf an eine ruhigere Stelle am Fluss direkt unterhalb der Kathedrale gesetzt und der Dunkelheit beim Vorrücken zugeguckt. Durch die sind wir dann nach der Erfahrung vom letzten Mal zur Sicherheit eine Stunde vor Mitternacht zur Bushaltestelle gegangen. Diesmal lief aber alles wie am Schnürchen: um null Uhr saßen wir beide im Bus, waren müde und versuchten zu schlafen.
Reise ans Ende der Nacht
Was mir natürlich nicht gelang. Was mir nie gelingt in Bus oder Bahn. Schon gar nicht, wenn der Rest der Fahrgäste sich stundenlang unterhält oder um drei Uhr nachts essen muss, raschelnd die Chipstüten aufreißt oder noch besser das Handy rausholt. Und wieso sitzen diese Leute grundsätzlich direkt hinter oder neben mir? Was ist so schlecht am anderen Ende vom Bus, wo ich sie nicht höre? Oder an sich an einem anderen Bus? Oder zu Hause, hinter einer schalldichten, von außen verschlossenen Tür, mit dem Schlüssel in meiner Tasche?
Als wenn die Sitze nicht schon schlimm genug wären. Drei Stunden lang hab ich versucht, eine bequeme Position zu finden und es nicht geschafft. Ein Wunder das ich überhaupt von drei bis fünf die Augen zugekriegt hab, schon mit einer Angst vor dem nächsten Tag, wo ich ja vermutlich pünktlich mit der Ankunft todmüde werden würde.
Es hatte auch einen Vorteil, vor sechs wach zu sein. So hab ich mitgekriegt, dass der Bus zufälligerweise an der nächsten Bushaltestelle zur Jugendherberge Halt macht. Das war im Norden Londons, im Hampstead Heath, und hat uns eine Fahrt durch die ganze Stadt von Victoria Station im Süden gespart. Darum hab ich die friedlich schlummernde Hanni wach gerüttelt und den Busfahrer überzeugt, uns unser Gepäck auch vor dem offiziellen Haltepunkt zu geben, was er eigentlich nicht darf.
Samstag: Frühstück im Kindergarten
So standen wir nun also in der großen Stadt und Hanni wollte es mir kaum glauben. So frühmorgendlich verschlafen und ländlich war es da. Für jemanden aus Istanbul ist eine Stadt mit lediglich acht Millionen Einwohnern ohnehin kaum den Namen wert. Wir wurden wirklich nur zehn Minuten von unserer Herberge abgesetzt, wo wir auch gleich vom Nachtwächter eingelassen wurden, noch eine Stunde bis sieben herum brachten und dann eincheckten.
Nett wie sie waren konnten wir gleich unsere Zimmer beziehen, wo ich meine noch schlafenden Wohngenossen störte, der Versuchung des Betts widerstand, eine Dusche genoss und mich umzog. Vorletzteres war in Gemeinschaftsbädern möglich und ich will gar nicht wissen, wie viele verschiedene Pilze zwischen meinen Zehen gerade Zivilisationen aufbauen. Um uns herum wohnten massenweise Kinder – Schweizer, Spanier, Franzosen – die gerade aus ihrem Zimmer kamen. Außerdem wurde uns sogar ein Frühstück geschenkt, wofür insbesondere ich sehr dankbar war. Vor allem für die erhältlichen Croissants und noch mehr für den großen Garten, in dem man wundervoll essen konnte, unter grünen Efeulauben oder freiem Himmel. Ich hab mir gleich eine Mitgliedskarte für die International Organisation der Jugendherbergen gekauft, was mir jetzt bei jeder Übernachtung drei Pfund spart.
Tower Bridge: Allein in London
Danach ging es dann auf in die Stadt, wobei wir doppelt dankbar waren unser Gepäck im Hotel lassen zu können. Wie ich erst jetzt mitgeteilt bekam, war der Besuch dieser Familie erst am nächsten Tag, sodass wir einen ganzen Samstag für Sightseeing hatten. Was bedeutet, ich habe ihr die Sights gezeigt und selbst wenig Neues gesehen. Aber versteht das nicht falsch, mir hat es niemals nur annährend soviel Spaß gemacht, nicht mal zu Ostern.
Zum Glück konnte ich sie überzeugen, auf keine dieser furchtbaren organisierten Bustouren für Touristen zu gehen sondern lieber mir zu folgen. So sind wir zuerst zur London Bridge gefahren. Nein nicht die Tower Bridge, die London Bridge. Wo ich sehr der Versuchung widerstehen musste, nicht zu Oktawias nahe gelegener Wohnung vorbei zu schauen, auch wenn sie der Zeit nicht da war.
Wie ich ja vom letzten Mal noch sehr lebhaft in Erinnerung hatte, konnte man von der London Bridge die große Tower Bridge erstmal von Weitem sehen, und dann vor allem am Tower selbst zu ihr hinlaufen, entlang eines sehr schönen Wegs am Fluss. Extrem erstaunlich: auf unserem Weg sind wir kaum einer Menschenseele begegnet. Im Zentrum von London, Samstagvormittag. War es noch zu früh? Sind alle nach Glastonbury gefahren? Man kam sich vor wie in Templin! Natürlich hat das auch seine Vorteile und Hanni war schon mal sehr angetan.
Schlechte Botschaft
Mein ursprünglicher Plan war ja entlang der Themse nach Westen zu laufen, um dann etwas südlich von Buckingham Palace der deutschen Botschaft einen Besuch abzustatten. Dort muss Hanni nämlich scheinbar noch dreimal hin, da sie sich inzwischen für eine Familie in Lübeck als nächsten Arbeitgeber entschieden hat und ein Visum braucht. Wir sind dann aber doch lieber in die U-Bahn gestiegen, weil der Weg länger war als erwartet.
Es kostete uns einige Zeit, die Botschaft zu finden und dann – Überraschung – war sie zu. Absolut logisch: jemand, der von Leuten aus ganz England erwartet, für jede Unterschrift nach London zu kommen, hat nur unter der Woche auf. Natürlich, wir alle haben ja gerade in der Zeit nichts zu tun, keine Arbeit und können ohne Probleme so oft wir wollen für viel Geld vom anderen Ende des Landes sechs Stunden lang runter und genauso lang wieder zurück fahren. Und wenn wir dann da sind, bitte nur durch den Seiteneingang reinkommen, bevor wir mit unseren gewöhnlichen Straßenschuhen die roten Teppiche hinter der Haupttür der Botschaftsvilla schmutzig machen.
Buckingham Palace: Größe & Weitsicht
Das hat mich etwas genervt. Vor allem, weil wir jetzt in der Luft hingen, da ich keinen Plan hatte, wo wir jetzt hingehen könnten. Zum Glück waren wir ganz in der Nähe der großen Parks und des Buckingham Palaces, wo wir dann auch hingelaufen sind. Leider sind wir von hinten auf den Palast zugekommen, anstatt von vorn durch diese lange Allee. Dafür trafen wir gerade rechtzeitig zum Wechsel der Wache ein. Das war echtes Glück.
Auch für mich was es das erste Mal, dass ich das beobachtete. Ich konnte sogar etwas sehen, während Klein-Hanni nur Köpfe vor sich hatte. Erst nachdem die Soldaten mit Tschingderassabum abgezogen waren und sich die Touristenhorde langsam auflöste erhielt sie einen umfassenderen Blick und fand es ganz toll. Auch wenn ich, trotz wiederholtem Fragens, nun bei bestem Willen nicht wusste, ob die Queen daheim ist oder nicht.
St. James Park: Versuchung im Paradiesgarten
Danach haben wir etwas Pause gemacht in meinem Lieblingspark, St. James’ Park. Direkt vor dem Schloss, voller Teiche und Enten und zahmen Eichhörnchen und, wie ja schon beim letzten Mal erwähnt, Spaniern. Dort haben wir uns mit etwas Eis auf eine Wiese gesetzt, wobei ich dann doch meine Müdigkeit wahrnahm. Jedes Mal, wenn ich die Augen zumachte, musste ich höllisch aufpassen, nicht einzuschlafen. Obwohl der Himmel das ganze Wochenende bewölkt war, fühlte es sich sehr warm an und die Mittagspause auf den Wiesen von St. James’ Park war ein kleines Stück Himmel.
England total: Tennis auf Trafalgar Square
In bester Touristenmanier hab ich Hanni dann weiter zum nahen Trafalgar Square geführt. Wo zum kürzlich erlebten Schock der Nation englische Kinder versagen, bestand ich mit Bravour und konnte sogar erklären, wozu die große Säule da ist.
Ich mag den Platz wirklich sehr, mit seinen hellen Steinen und den blauen Springbrunnen wirkt er auf mich immer extrem entspannend. Diesmal war eine große Videoleinwand aufgebaut, auf der live Wimbledon übertragen wurde. So haben wir uns auf einen Brunnenrand gesetzt, die Beine baumeln lassen und Tennis geschaut. Eine desorientierte Hanni verwirrt an meinem Arm klammernd habe ich sicher zwischen den Touristen durchnavigiert – hin zu mehr davon, am Leicester Square.
Leicester Square: Alte Bekannte
Der war diesmal völlig zugebaut mit einer Bühne, von der sehr angenehmer Jazz tönte. Leider sind wir nicht auf das Gelände rauf gegangen, weil Hanni inzwischen wirklich mal Schuhe brauchte. Ich weiß ja nicht, wer ihr den Tipp gegeben hat, auf eine Tagestour in London ihre Highheels mitzunehmen… Jedenfalls war sie zu dem Zeitpunkt schon länger barfuss unterwegs, weil das natürlich nicht so überwältigend bequem ist.
Nach einer ganzen Weile Suchens in der nahe gelegenen Chinatown wurde sie in einer Boutique gleich doppelt fündig. Einmal mit einem Paar rosa Flip Flops, zweitens mit einer russischen Angestellten, die sie wohl von irgendwoher kannte. Das rote Kostüm hat sie dann doch nicht genommen. Dabei sah es verdammt gut aus. Aber egal, ich hab mich ganz klassisch eine halbe Stunde lang gelangweilt.
Dafür musste sie mir dann erstmal zurück zum Leicester Square folgen, wo ich aus alter Gewohnheit ins dortige Starbucks einkehrte. Dort wollte Hanni zwar erst nicht wirklich hin, dann aber nicht wieder weg, weil diese Polstersessel ach so bequem waren. Und dieses supersüße kleine Baby neben uns saß. Und das Leben ja so wunderschön ist. Ich wäre schon ganz profan mit einer Toilette zufrieden gewesen, aber die war natürlich ‚out of order’.
Westminster: Essen zum Vergessen
Da war es etwa vier Uhr und wir waren immer noch nicht müde. Deshalb sind wir noch einmal in die Tube gestiegen und zu Westminster Station gefahren. Dort ging es zuerst noch mal auf die andere Seite der Themse, damit Hanni die Houses of Parliament und Big Ben im vollen Panorama sehen konnte. Was ihr äußerst gut gefiel.
Wieder zurück über die Brücke und um Westminster Abbey herum gelaufen, wovon sie wohl leider nicht soviel mit gekriegt hat, weil sie Ewigkeiten mit ihrer Schwester telefoniert hat. Damit war die Touristentagestour dann aber auch zu Ende und wir haben uns entschieden, in der Stadt zu essen statt in der Jugendherberge. Was sich später als Fehler rausgestellt hat, da wir in eine ziemlich billige Spelunke in Chinatown geraten sind, mit Papierdecken, warmem Wasser und schlechtem Essen. Da wäre das sehr preiswerte Menü bei uns weit besser gewesen.
Das haben wir also ganz schnell wieder vergessen und nach einigen Irrwegen zur U-Bahnstation auch wieder nach Haus gefunden. Wo Hanni schnurstracks ins Bett verschwand und ich in diesem schicken Garten noch bis zehn „Herz der Finsternis“ zu Ende gelesen hab. Ich mag den Film lieber.
Netterweise waren dann auch schon alle kreischenden Kinder auf ihre Zimmer verschwunden. Leider hab ich auf meinem Weg zum Waschraum meinen Zimmerschlüssel vergessen und musste in Unterhose und Handtuch runter zur Rezeption und mich hinter einer spanischen Familie anstellen, um Ersatz zu kriegen. Aber dann, hey, um zehn im Bett, wann konnte ich das das letzte Mal schreiben? Zehn Stunden Schlaf warteten auf mich und ich auf sie.