Tauwetter
„Heiße Schokolade mit Chili, Pfeffer, Rum und Gorgonzola.“ Dielene überbrückt die trüb-nass-kalte Frühlingszeit in Estland mit ein paar kulinarischen Experimenten, zu denen sie ein Tallinner Café inspirierte.
Hallo, Ihr Lieben!
Ich glaube, es ist mal wieder Zeit für einen neuen Eintrag, denn ich habe schon wieder so viel zu erzählen, dass ich Angst habe, die Hälfte zu vergessen, wenn ich noch länger mit dem Schreiben warte ;).
Hier in Sillamäe, wo wir eigentlich nie was zu tun hatten und ich mich des Öfteren über Langeweile beklagt hatte, geht es im Moment echt rund! In letzter Zeit gehe ich meist früh aus dem Haus und komme irgendwann abends wieder heim, bin dann hundemüde und falle nur noch tot ins Bett! Na ja, ganz so schlimm ist es nicht und eigentlich ist es mir ganz recht, dass es endlich mal was zu tun gibt ;)
Die letzten Wochen im Waisenhaus waren nämlich sowas von langweilig! Es gibt im Moment einfach keine Arbeit für uns dort, und obwohl ich weiß, dass es für die Kinder gut ist, dass wir da sind, und sie sich immer freuen uns zu sehen und etwas mit uns zu unternehmen, kommt man sich doch ziemlich überflüssig vor, wenn man zu dritt auf vier Kinder aufpasst... Und das war leider in der letzten Zeit allzu oft der Fall! Und im Kindergarten, den wir uns eigentlich als Ausgleich zu der wenigen Arbeit im Waisenhaus gesucht hatten, in der Hoffnung uns dort etwas mehr einbringen zu können, ist es sogar noch schlimmer! Die Kinder haben dort den ganzen Tag ein richtig gutes Programm, in das wir leider überhaupt nicht einbezogen werden. Insofern sind die Vormittage, die wir dort verbringen, eigentlich pures "Zeit absitzen", in denen man alle zwei Minuten auf die Uhr schaut, wann es denn endlich vorbei ist! Es macht wirklich Spaß mit den Kindern zu spielen, aber immer nur Legohäuser zu bauen ist auf die Dauer eben doch nicht befriedigend!
Wir hatten wegen diesem Problem mit unserer Arbeit vor zwei Wochen ein Gespräch in der Nationalagentur, nach welchem wir dann beschlossen, uns noch einmal nach einem neuen Arbeitsplatz umzusehen. Da Ilja vor Monaten nach Tallinn umgezogen ist, weswegen wir ihn äußerst selten zu Gesicht bekommen, und wir außerdem schon lange gelernt haben, dass wir uns auf seine Hilfe nicht verlassen sollten, wollten wir das Ganze selbst in die Hand nehmen.
Wir sind also gestern ins Rathaus spaziert und haben mit unseren spärlichen Russischkenntnissen versucht den Leuten zu erklären, dass wir "Freiwillige" sind und irgendeine soziale Arbeit suchen, in der wir uns ohne Bezahlung ein bisschen nützlich machen könne. Zu erst haben die Leute ziemlich komisch geschaut; ich kann mir schon vorstellen, dass es echt lustig ausgesehen haben muss, wie wir da dem Sicherheitsmann am Eingang unsere Geschichte vorgestottert haben! Aber wir wurden dann weiterverwiesen und es ging alles überraschend schnell, denn schon heute haben wir ein Krankenhaus für alte Leute angeschaut und ein bisschen beim Füttern geholfen. Echt super! Bin mal gespannt wie es damit weitergeht!
Die Arbeit mit alten Leuten ist für mich eine ganz neue Erfahrung und teilweise ist es schon ziemlich hart zu sehen, wie die Leute da vor sich hin vegetieren. Der Mann, den ich gefüttert habe, kann nicht mehr reden und man hört den lieben langen Tag seine Schreie durch das ganze Gebäude hallen. Die Schwestern, die uns heute supernett und offen empfangen haben, meinen, er sei nicht mehr ganz richtig im Kopf und verstehe überhaupt nichts, aber ich bin mir da nicht so sicher, denn sobald man sein Zimmer betritt und er nicht mehr alleine ist, wird er ruhig! Niemand kümmert sich wirklich um ihn und die Schwestern wussten noch nicht mal seinen Namen...
Ich glaube, das ist eine Arbeit, die ich mir nie und nimmer für mein ganzes Leben vorstellen könnte, aber mal so eine Zeit lang da mitzuhelfen und einen Eindruck zu bekommen ist echt interessant!
Und, welch Wunder, Ilja hat sogar ausnahmsweise auch noch was organisiert: Morgen werd ich mich auch noch in einem "neuen" Kindergarten vorstellen, in dem ich eventuell den Kindern ein bisschen Englisch beibringen soll. Es gibt also endlich mal was zu tun! Da wir seit letzter Woche auch Sprachkurs haben (viel zu spät: im September wäre es wichtiger gewesen!) dank Iljas Organisationstalent sogar bei zwei verschiedenen Lehrern (mehr oder weniger erfolgreich, denn von einem Muttersprachler, der keine Erfahrung im Unterrichten der eigenen Sprache hat, die russische Grammatik "erklärt" zu bekommen, macht einen nicht wirklich schlauer!) sind meine Tage im Moment voll ausgebucht. Aber das ist, wie gesagt, ganz gut so. Ich muss nur schauen, dass ich auch noch die Zeit finde, mich endlich um meine Uni-Bewerbungen zu kümmern!
Auch von der Arbeit mal abgesehen war bei mir (wie immer) in den letzten Wochen viel los. Mein Bruder Jonas ist mit einem Freund, Bifi, für gute zehn Tage zu Besuch gewesen. War echt schön, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, Neuigkeiten von zu Hause zu erfahren, über alte Zeiten zu quatschen und einfach eine schöne Zeit hier zusammen zu verbringen! Außerdem bin ich jetzt wieder mit deutscher Schokolade eingedeckt und konnte einen Teil meiner dicken Winterklamotten gegen sommerlichere Sachen (für die es leider noch immer zu früh ist) umtauschen.
Natürlich wollten die Beiden auch etwas von Estland sehen und so verbrachten wir die ersten Tage mal wieder in Tallinn bei Katharina mit Altstadtbesuchen und Kneipentouren. Wir haben "Mili Malikas" (keine Ahnung, wie man das schreibt; übersetzt heißt es "Qualle"), ein Getränk aus Wodka, Tabasco und einer geheimnisvollen dritten Zutat getrunken, das man angeblich unbedingt getrunken haben muss, wenn man nach Tallinn kommt, und hatten leider auch einen ziemlich schockierenden Abend, an dem wir erfahren mussten, wie stark die rechte Szene in Estland vertreten ist. Egal wo wir hinkamen: Alle Esten, mit denen wir an jenem Abend ins Gespräch kamen (und es waren einige!) waren in ihrer Einstellung deutlich rechts. Es war wirklich verhext! Einer hatte sogar das Hakenkreuz deutlich sichtbar auf die Glatze tätowiert! Ich lebe jetzt schon seit sieben Monaten in Estland und dass viele Esten einen gewissen Patriotismus besitzen habe ich schon oft mitbekommen. Das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Estland eine so junge und noch dazu sehr kleine Nation ist, die eigentlich immer von irgendwelchen Fremdmächten besetzt war und in der auch jetzt etwa 30 Prozent der Bevölkerung keine Esten sind. Aber dass das mit dem Nationalstolz hier so krass ist und bei vielen Esten anscheinend in Fremdenhass und Antisemitismus ausufert, war mir wirklich nicht bewusst! Ich will nichts pauschalisieren und hoffe immer noch, dass es einfach nur Zufall war, dass wir an jenem Abend so viele Rechte getroffen haben; dass das also nichts über Estland und die Esten im Allgemeinen aussagt! Und zum Glück kenne ich ja selbst auch andere Esten!
In die Zeit des Besuchs von Jonas und Bifi fielen außerdem noch zwei Freiwilligengeburtstagsfeten in Tartu und Tallinn, so dass die beiden einen Eindruck vom Freiwilligenleben "in allen Lebenslagen" bekamen. Der Besuch von Narva an der Grenze zu Russland stand dann auch noch auf dem Programm und am vorletzten Tag unternahmen wir sogar noch einen Ausflug mit der Fähre nach Helsinki, wobei leider das Wetter nicht mehr so recht mitspielen wollte (nachdem wir die ganze Zeit über nur Sonnenschein hatten) und wir deshalb nur einen recht "trüben" Eindruck von der finnischen Hauptstadt bekamen. Und dann ging es für die Beiden auch schon wieder nach Hause.
Für mich wurde es nach dem Besuch allerdings keineswegs ruhiger. Letztes Wochenende hatten wir nämlich in Sillamäe in unserer Wohnung "Full House": Die tschechischen Freiwilligen Jirka und Vera hatten sich mit Anhang angemeldet, der Franzose Pierre mit Freunden aus Litauen, sowie Katharina. Da wird dann die Zweizimmerwohnung eben vorübergehend von zwölf Leuten bewohnt und die Küche zum Schlafzimmer umgewandelt... Ich hab’s echt genossen, dass ausnahmsweise auch mal bei uns in Sillamäe was los war, denn normalerweise verschlägt es ja nicht so viel Besuch zu uns!
Für Samstag stand dann auch noch was ganz Besonderes auf dem Programm: Jirka und Vera wollten unbedingt zu Fuß nach Narva-Joesuu gehen, das ist circa 25 Kilometer von hier; ein superschöner Kurort mit langem Strand, an dem im Sommer richtig was los ist. Wir machten uns also morgens auf den Weg, sechs Tschechen und zwei Deutsche, und ich muss zugeben, dass ich am Anfang etwas skeptisch war, ob wir jemals ankommen würden, da keiner von uns den Weg kannte. Aber entgegen meiner schlimmen Erwartungen sollte es eine super Wanderung in strahlendem Sonnenschein durch teils kniehohen Schnee übers Meer mit abenteuerlichen Kletterpartien auf Bäumen und Steilhängen an der Küste (da unser Weg im Nichts endete!), mit nassen Füssen werden. Am Ende des Tages waren wir alle sowas von fertig, aber wir hatten das erste Eis in diesem Jahr auf der Straße gegessen, Katharina und ich hatten den ersten Sonnenbrand kassiert und wir waren alle in super Frühlingsstimmung! Echt klasse!
Katharina blieb dann ein paar Tage länger und wir hatten noch eine schöne Zeit zusammen. Zum Beispiel haben wir, durch die Chocolaterie, einem total schnuckeligen Café in Tallinn inspiriert, ein paar neue Rezepte ausprobiert: Heiße Schokolade mit Chili, Pfeffer, Rum und Gorgonzola. Ich weiß, es klingt schrecklich, aber ob ihr’s glaubt oder nicht, es schmeckt wahnsinnig lecker!
Mittlerweile ist das Wetter hier wieder umgeschlagen: Tauwetter ist angesagt, der Himmel ist trüb und wolkenverhangen und ich habe nach vier Monaten das erste Mal wieder Regen auf der Haut spüren dürfen! Die Straßen gleichen im Moment eher Bächen als irgendetwas anderem, und wenn man irgendwohin zu Fuß gehen muss, sollte man, wenn man mit einigermaßen trockenen Füßen ankommen will, für den Weg die doppelte Zeit einplanen, da man, um den größten Pfützen auszuweichen, nur im Zickzack-Kurs vorankommt. Und man muss natürlich auch besonders vorsichtig sein, wenn ein Auto nahe an einem vorbeifährt, damit man keine unfreiwillige Dusche bekommt. Ich bin nur froh, dass in Sillamäe so wenig Verkehr ist! Im Moment ist es hier wirklich nicht so schön, da unter den ganzen Schneebergen jetzt zum Beispiel auch der Müll und die Hundescheiße des gesamten Winters zum Vorschein kommt! Ich kann nur hoffen, dass diese hässliche Seite des Frühlings so bald wie möglich vorbeigeht und der schönen Seite weicht, nach der ich mich schon so lange sehne: Ich möchte endlich Blumen sprießen sehen und die warmen Sonnenstrahlen genießen!
Das war’s mal wieder von mir. Ich hoffe, Euch geht’s allen gut - lasst von Euch hören!
Eure Lene
P.S.: Ich bin jetzt schon öfters gefragt worden, wann ich denn wieder heimkomme: Also, wenn alles so klappt, wie ich mir das im Moment vorstelle, werde ich wohl erst Ende Juni kommen, da ich schon eine Karte für das Metallica-Konzert in Tallinn im Juni habe. So weit ich weiß ist es das einzige Konzert, das Metallica in Ost- und Nordeuropa dieses Jahr geben; war schon nach drei Tagen ausverkauft! Bin total glücklich noch eine Karte bekommen zu haben! Und außerdem würde ich gern noch das Johannesfest und die "weißen Nächte" hier mitbekommen. Dann geht es gen Heimat.