Tage wie diese – Tag 6
Bilanz: 15 km, 2 Stunden
Der letzte Tag der Fahrradtour steht an. Ein bedrückender Tag, sollte heute doch schon alles wieder vorbei sein. Die Tour, der wunderbare Start in ein erfolgreiches Jahr gemeinsam mit meinen Kollegen und Schülern an der Plhov-Schule.
Viel steht an diesem Tag nicht mehr an. Die Rückkehr eben. Was nicht heißen soll, dass der Tag völlig frei von Aktivität sein wird. Um sieben Uhr wird aufgestanden. Um acht Uhr gibt es das letzte Mahl. Aufgrund des Eintreffens weiterer Lehrer ist für mich kein Platz mehr am Lehrertisch, was mich jedoch nicht stört, schließlich hätte ich ohnehin kein Wort verstanden, wenn sich auf Tschechisch unterhalten wird. Also setze ich mich zu den Schülern, wo ich stets damit rechnen kann, dass meine Portionsgrößen belustigt kommentiert werden. Statt einem Schöpflöffel Joghurt sind es eben vier mit Tendenz nach oben. Einer der Vorteile, zusammen mit den gesprächigen, aber weder dem Englischen oder Deutschen mächtigen Schülern zu sitzen, ist, dass ich neue tschechische Vokabeln lerne. Im Gegenzug helfe ich ihnen mit den korrekten englischen Bezeichnungen und flechte hie und da auch ein deutsches Wort mit ein. Dass man in einem fremden Land auf eine Sprache ausweichen muss, die von beiden nicht die Muttersprache ist, habe ich bereits in der Vergangenheit kritisch bemerkt. Nun ist hier in Tschechien die Rolle des Deutschen noch bei weitem größer als in allen bisher von mir bereisten Ländern. Es ist tatsächlich wahrscheinlicher, in der Öffentlichkeit an jemanden zu geraten, der Deutsch spricht als jemandem, der Englisch spricht. In einem Café in Náchod war das mal ganz interessant. Die Konversation mit der Kellnerin verlief folgendermaßen:
Mluvíte anglicky?
- Ne.
Говорить по-русски?
- Ne.
Německy?
- Ein bisschen.
Die konsequente Verneinung der Tschechen dem Englischen gegenüber ist äußerst interessant. Bei der Suche nach einer Bar, die noch offen hat, haben wir einmal zwei Tschechen kennengelernt. Beide etwa Mitte zwanzig. Vermutlich Studenten. Trotzdem sprachen sie kein Wort Englisch. Nicht mal rudimentärste Kenntnisse über Satzbau etc. waren vorhanden. Als sich einer der beiden am Ende des Abends für die schöne Zeit bedankte, indem er sagte: „It was nice.“, fiel der zynische Kommentar, dass das der erste korrekte englische Satz gewesen sei, den dieser an diesem Abend von sich gegeben hätte. Leider war das korrekt. Auf der anderen Seite konnte er Deutsch. Ein leider komplett untergegangenes Talent, schließlich wollten sich die anderen Freiwilligen nicht selbst ins Aus schießen, indem sie uns Deutschen das Zepter der Sprachhoheit in die Hand geben. Den Tschechen, die sich tatsächlich zum Ziel gesetzt haben, die deutsche Sprache zu erlernen, kann ich nur meinen tiefsten Respekt zollen.
Einige der Kinder zeigen dieses Interesse ebenfalls. Sie erfreuen sich zudem am Klang deutscher Wörter. Ein paar Grundvokabeln haben alle drauf. Über deren Einsatz sind sie sich noch nicht vollständig im Klaren. Großes Interesse gilt natürlich den Schimpfwörtern. Hier müssen sich sogar die Lehrer zum Teil zurücknehmen. Bisher war Deutsch ihre Geheimsprache, in der sie nach Lust und Laune fluchen konnten. Nun war ein Deutscher da, der alles versteht. Meist bemerken sie es zu spät, was zu zwei grinsenden Gesichtern führt. Selbstverständlich war eines der ersten Rituale auch bei den Lehrern die Einführung in die Welt der tschechischen Beleidigungen. Wobei ich sagen muss, dass es sich rein quantitativ in Grenzen hält. Während ich im Italienischen ein Wort-Schimpfwort-Wortschatz-Verhältnis von 1:1 habe, ist es im Tschechischen deutlich verschoben, und zwar zum Guten hin. Den vier oder fünf Schimpfwörtern, die ich kenne, stehen Hunderte Nicht-Schimpfwörter gegenüber.
Auch das letzte Frühstück bleibt in seinem Wesen ereignislos. Man isst, man redet, man geht auf sein Zimmer. Lieber schon jetzt mit Packen anfangen. Ebenso muss das Bett abgezogen werden. Es kommen wieder die unschönen Verzierungen auf der Matratze zum Vorschein. Ich habe es überlebt. Noch immer habe ich das lustige Bild im Kopf, wie mein ehemaliger Klassenkamerad, der später Jahrgangsbester wurde, damals im Schullandheim im italienischen Luttach der Chefin des Hotels zu erklären versuchte, dass er gern neue Bettwäsche hätte, da die jetzige Cola-Flecken aufweise. Gern hätte ich ihm dieses Zimmer gezeigt. Mit schützender Bettwäsche war es immer noch eisig kalt, aber zumindest hygienisch. Dann packe ich meine Sachen zusammen. Das geht relativ schnell, da ich komplett aus der Tasche gelebt habe. Es hat sich eindeutig nicht gelohnt, die riesige Reisetasche mitzunehmen. Andererseits hat man vor jedem längeren Ausflug die triviale Angst, dass die Wäsche nicht ausreicht. Was, wenn ich in ein Schlammloch falle und das vielleicht gleich zweimal? An Irrationalität nicht zu überbieten und doch nicht wegzubekommen. So waren noch ein Dutzend Kleidungsstücke übrig. Besser so als umgekehrt. Den Ernstfall hatten wir auch schon. Den männlichen Freiwilligen ging nach und nach die Unterwäsche aus, doch statt den langwierigen Waschprozess zu beginnen, gingen sie lieber in den Supermarkt und erweiterten ihre Unterhosensammlung. Mit meinen acht Reisetaschen Gepäck lief ich nie Gefahr, in die gleiche Lage zu geraten.
Der Tag der Rückreise ist im Falle einer solchen Fahrradtour berechenbar und hauptsächlich der Rückfahrt gewidmet. Große Ereignisse auf dem Weg nach Hause sind eher selten. Stattdessen ist man bedacht, nichts zurückzulassen, außer das Zimmer in gutem Zustand. Für die Lehrer ist der Tag dennoch nicht stressfrei, da sie nun die Verantwortung dafür haben, dass die gesamte sportliche Ausrüstung und nicht zuletzt die Schüler wieder an ihren rechten Platz kommen. Die Tennisschläger, Korfballbälle, Federbälle und Wurfscheiben sind schnell eingesammelt. Die Schülerschaft ist da schon chaotischer, doch trotz alledem schaffen sie es, pünktlich mit dem Packen fertig zu sein. Wir hätten noch genug Zeit gehabt, denn das Mittagessen kam auch noch. Zwar nicht gerade förderlich direkt vor einer Fahrt, aber so ein Angebot kann man ja auch nur schlecht ausschlagen. Apropos Angebot: vor der Fahrradfahrt hatte mir meine Koordinatorin mitgeteilt, wie es mit den Kosten aussehen würde. In meinem Fall ist das hochkompliziert, da ich weder Lehrer noch Teilnehmer, also Schüler bin. Ich bin eine Art Begleiter, der zudem von der EU gesponsert wird, jedoch nicht auf Basis von Kostenübernahme. Die Spesen, die in diesem Fall anfallen, müsste dann, wenn sie einer übernimmt, die Schule übernehmen, denn der Europäische Freiwilligendienst funktioniert so nicht. Doch ich bin ja auch kein vollwertiger Mitarbeiter. Zwar habe ich ein vergleichbares Stundenpensum wie ein offizieller Lehrer, aber ich habe eben keinen Arbeitsvertrag, kurz: ich bin kein Lehrer. Andererseits ließ man mir ja keine Wahl, auf die Ausfahrt mitzugehen. Dass es eine einmalige Chance ist, die ich mir auch nicht hätte entgehen lassen, ist dabei unerheblich. Fakt ist, dass ich geplanterweise auf diese Reise geschickt wurde, wobei noch nicht klar war, wer die Übernachtungskosten und die Kosten für die Verpflegung übernehmen würde. Als würde Sie ihr Arbeitgeber auf eine Konferenz nach Hongkong schicken, obwohl Sie noch nicht wissen, wie sie die Hotelrechnung bezahlen sollen. Stand vor der Fahrradtour war, dass ich lediglich für die Verpflegung aufkommen müsste, was einen Betrag von 90 Kronen pro Tag ausgemacht hätte. Folglich nicht einmal vier Euro pro Tag und das für drei Mahlzeiten bei deutlich überdurchschnittlichem Essverhalten. Das wäre auch völlig in Ordnung für mich gewesen. Es implizierte, dass ich für das Doppelzimmer nicht einmal hätte bezahlen müssen, was ich dem Wirt hoch anrechnete, da er mich nicht kannte. Er wusste ein wenig über die Rahmenbedingungen Bescheid; dass ich Freiwilliger sei, die Lehrer begleiten würde – bei dieser Tour wie auch im Unterricht – und dass mein Budget deshalb eben nicht gerade groß sei, wenn ich nicht auf mein prävolontäres Konto zugreifen möchte. Diese Möglichkeit steht einem als Freiwilligen immer offen, obwohl vorgesehen ist, mit dem monatlichen Taschengeld auszukommen, was für sich allein betrachtet bereits Herausforderung genug ist. Ein jeder könnte hergehen und sein Erspartes plündern, um sich während diesem Jahr eine schöne Zeit zu machen. Das widerspräche jedoch ein wenig den Grundsätzen des EVS, zumal man durch höhere Ausgaben nicht unbedingt einen Mehrwert hat. Man kann als Freiwilliger mit relativ wenig Geld auskommen, wenn man gut plant und es nicht darauf anlegt, am Monatsende blank zu sein.
Jedenfalls wusste der Wirt nichts über die genauen finanziellen Umstände. Tragischerweise stellt man als deutscher Freiwilliger in Tschechien eine Art Oxymoron dar. Man hat immer noch die Vorstellung vom reichen Deutschen mit Haus, Auto und sonstigen Statussymbolen. Als Freiwilliger ist die Herkunft jedoch nicht (mehr) von Bedeutung, da alle den gleichen Betrag Taschengeld erhalten, der weder reicht um ein Haus abzuzahlen noch um ein Auto zu finanzieren. Es sei denn, man macht sich die momentane Zinslage zunutze und bittet die Bank um eine 600-monatige Ratenzahlung, dann könnte das vielleicht was werden. Wobei der Freiwilligendienst maximal 12 Monate geht. Die Kurzversion lautet, dass man sich als Freiwilliger keins von beiden Dingen leisten kann, ob man nun Deutscher ist oder nicht. Man kommt mit diesem Geld aus, so ist es nicht, aber man verkörpert auch nicht einmal ansatzweise den Stereotyp, den manche Tschechen von den Deutschen haben, was aber nicht unbedingt von Nachteil sein muss, schließlich wissen die Erwachsenen oft Bescheid über die bescheidene finanzielle Lage. Ein Grund, weshalb man sich eben verstärkt bemüht, die finanzielle Belastung so gering wie möglich zu halten. Einem nackten Mann kann man schließlich nicht in die Taschen greifen.
Ich hatte die Kronen schon zurechtgelegt und den Geldbeutel dabei, da ich nun damit rechnete, dass die Bezahlung anstehen würde. Die paar Kronen war es völlig wert, wenn man bedachte, wie viele unvergessliche Erfahrungen ich gemacht hatte. Klar, mein Doppelzimmer war kalt und das Essen manchmal unidentifizierbar, aber im Großen und Ganzen war es in Ordnung, zumal man bedenken muss, dass ich mit meinen Ansprüchen nicht gerade selten Ernüchterung erfahre. Es war eine der ersten Wochen in Tschechien, alles war noch neu, ungewohnt, verwirrend – vor allem die Sprache – und nicht immer hatte ich ein erwartetes Ergebnis. Trotzdem war die Fahrradtour eine tolle Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Mein kleiner Eigenanteil war daher völlig angemessen und das Minimum an Beteiligung, das man von mir fordern hätte können.
Als Jarda zu mir kam, rechnete ich mit ein paar Hinweisen zur Rückfahrt, Organisatorischem, wie wir es bisher auch gehandhabt hatten. Jedoch war das keine der Themen, die er im Sinn hatte. Stattdessen informierte er mich, dass er mit dem Wirt gesprochen habe und dieser mir sämtliche Kosten erlassen würde. Ich war sprachlos. Keine Krone musste ich zahlen, die ganze Tour war umsonst, nicht umsonst im Sinne von sinnlos, sondern im Sinne von kostenlos. Was soll man da noch sagen? Einen Grund nannte Jarda nicht. Lediglich, dass man meine Mithilfe schätzen würde. Was auch immer den Wirt dazu bewegt hat, es war auf jeden Fall eine unerwartete und wunderbar nette Geste seinerseits, die mir den Tag und die ganze Woche einmal mehr versüßte. Von den paar Kronen mehr oder weniger wäre ich nicht arm geworden, aber darum geht es nicht. Es ging ums Prinzip, die symbolische Wirkung dieser Geste, die mich eben vom Hocker riss. Gerade auch in Hinsicht auf den noch bevorstehenden, wirklichen Freiwilligendienst, der in der Schule vonstattengehen würde, war es ein schönes Signal in die richtige Richtung. Wenn man einen Arbeitgeber hat, der einem seine Wertschätzung etwa dadurch ausdrückt, dass er einen Business-Class fliegen lässt oder in ein hochwertiges Hotel schickt, vergisst man schnell die Strapazen, die so eine Dienstreise durchaus mit sich bringen kann. Zumal ich am Ende nicht nur bei einer schwarzen Null, sondern sogar noch mit einem leichten Überschuss an Geld herauskam. Das monatliche Taschengeld ist nämlich zum Großteil zur Verpflegung vorgesehen. In dieser Woche aß ich nicht daheim, weshalb dafür auch keine Kosten anfielen. Beim Europäischen Freiwilligendienst muss man knallhart kalkulieren, um mit dem Geld auszukommen, jedoch sind es Ereignisse wie diese, die einem ein kleines Polster, einen Zeitvorteil verschaffen und das Leben ein wenig lebenswerter gestalten lassen. Zwar hat man noch das Konto in Deutschland und zur Not die Eltern, die, um ihren Sohn noch zu retten, „Geld und Zigaretten“ schicken könnten. Letzteres ist in Tschechien zwar nicht gerade nötig, da die Preise hier deutlich unter den deutschen liegen, aber Geld ist schon manchmal hilfreich. Bisher musste ich den Geldhahn noch nicht anzapfen und das bleibt hoffentlich auch so. Schließlich ist es die Selbstständigkeit, die man sucht. Alleine leben, Wäsche waschen, kochen, arbeiten, planen. All das ist ebenso Teil des Freiwilligendiensts. Mir persönlich hilft die räumliche Trennung bei der Gestaltung eines eigenverantwortlichen Lebens, denn ohne die Basis zuhause ist man eben doch nicht so frei, wie man es in Deutschland wäre. Diese Schwierigkeiten braucht es jedoch, um zu lernen, wie man lebt. Denn jahrelang war das ein natürlicher Prozess, der so vor sich hin floss, dabei unterstützt vom Elternhaus, den Geschwistern, Freunden und den Strukturen in Form von Staat, Schule und Stadt. Nicht unbedingt finanziell, sondern allein als Rückgrat, auf das man zurückgreifen könnte, wenn man tatsächlich mit Schwierigkeiten konfrontiert sein sollte.
Beim Freiwilligendienst werden diese Instanzen ausgetauscht, ersetzt durch alternative Institutionen, die begrenzte Möglichkeiten des Eingriffs und keinen persönlichen Bezug haben. Soll heißen: man hat Anlaufstellen, aber sie sind einem nicht vertraut und können auch nur begrenzt helfen, was sie für die meisten Freiwilligen obsolet werden lässt. Wo, wenn nicht hier, kann ich lernen, wie man ein selbstbestimmtes, aber eben auch selbstverantwortliches Leben führt. Und sind es nicht gerade die Probleme, an denen wir wachsen?
Die Entscheidung des Wirtes, mich nicht finanziell zu belangen, wusste ich jedenfalls zu schätzen. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob es ein tschechisches und allgemein post-sowjetisches Phänomen ist, vermehrt auf das Wohl des Anderen Acht zu geben. Jedoch manifestiert sich dieser Eindruck, wenn man an die zahlreichen anderen Erfahrungen denkt, in denen uns Kosten erlassen oder großzügige Rabatte gewährt werden, nur aufgrund der Tatsache, dass wir jung und Freiwillige sind. In Prag werden Sie so etwas nicht erleben, weshalb klar zwischen Stadt und Peripherie unterschieden werden muss. Wo sich Touristen tummeln, ist Betrug nicht weit, welcher dann auch deutlich größer ausfällt, als es mir bisher in italienischen oder französischen Städten untergekommen ist, was diese Taten nicht gutheißen soll. In Prag ist der Kontrast größer. Man kann einen Teller Gulasch für vier oder für vierzehn Euro essen, kann ein Bier für einen oder vier Euro trinken. Ein Mitfreiwilliger erzählte mir von einem betrügerischen Taxifahrer, der exorbitante Summen verlangt habe, woraufhin eine Beschwerde folgte, das Geld erstattet und der Taxifahrer höchstwahrscheinlich gefeuert wurde. Hier liegt auch der Hund begraben. Der typische Tscheche gehört zu den ehrlichsten Menschen, die mir je begegnet sind. Man kann Schränke in der Umkleide offen, Schüssel auf der Theke liegen, Elektronik in vierstelligem Warenwert herumstehen lassen und keiner wird sich daran bedienen, es auch nur wagen, etwas anzufassen. Gerät man an den Falschen, kommt es schnell zu einem unwahren Bild. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir auf dem Land leben, denn hier wird man nirgends einen Teller Gulasch für vierzehn Euro finden. Auch in allen anderen Bereichen ist das Preisniveau generell niedriger und die Wahrscheinlichkeit, dass man einen Preisnachlass erhält, ist ebenfalls höher, weil die Verkäuferinnen mehr mit einem arbeiten als gegen einen. Maximaler Profit für den Arbeitgeber hat nicht erste Priorität, sondern das Wohl des Kunden. Es hat jeder selbst zu entscheiden, inwiefern so ein Verhalten moralisch vertretbar ist. Jedenfalls ist es als Freiwilliger schön, wenn einem entgegengekommen wird. Auf diese Weise ist es auch möglich, mit dem monatlichen Taschengeld auszukommen. Man kann mit diesen Erlässen nicht rechnen, man kann sie nicht einkalkulieren, weshalb im Haushaltsplan bereits die geplanten, voraussichtlichen Kosten eingerechnet sind. Fällt dann ein Posten weg, hat man das Geld dennoch und kann sich nächstes Mal vielleicht die schwarzen Oliven statt der grünen leisten. Die sonnengereiften, nicht die mit Eisen-II-Gluconat.
Kleine Gesten sind es, die Großes bewirken. Zumal der Freiwilligendienst nie materielle Früchte trägt. Immer ist es Unfassbares, Gesagtes, Gedachtes, die Währung der Philanthropie. Von der man sich nichts kaufen kann, denn sie gilt nur in ihrem eigenen, abgeschlossenen Mikrokosmos, ist nicht universal, sondern spezifisch, lässt sich nicht ummünzen. Umso glücklicher ist man, wenn man neben dem ohnehin dauerhaft vorhandenen Zuspruch auch einmal einen Gegenwert erhält, der greifbar ist und einem nicht in der Hand zerrinnt.
Von Anfang an stand der Tag unter einem guten Stern, wiewohl ebenfalls klar war, dass es größtenteils der Tag der Rückreise sein würde. Es herrschte Aufbruchstimmung bei allen. Nicht nur mir schien die Fahrradtour gefallen zu haben, sondern auch vielen anderen. Zuallererst war es kein regulärer Schulunterricht, was für Schüler allerorten positiv ist, darüber hinaus war es auch bezogen auf die Aktivitäten eine von Grund auf positive Erfahrung. Die Schüler waren bereits in ihrer Freizeit sportlich aktiv, weshalb auch wir Aufsichtspersonen, ob nun Lehrer oder Freiwilliger, uns nicht unbedingt langweilen mussten. Im Gegenteil. Gerade beim Schlafbedarf bin ich schon längst nicht mehr konkurrenzfähig mit der Schülerschaft. Beim Sporteln war es in etwa ausgeglichen, insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass keiner zu kurz kam. Es war für Schüler und Lehrer gleichermaßen eine bereichernde Veranstaltung, der es nicht an sportlichen Herausforderungen mangelte. Ich muss gestehen, dass ich recht enttäuscht vom Bergmangel in Náchod und direkter Umgebung war. Die Litauer scheuten sich zwar nicht, die Erhebungen als „Berge“ zu bezeichnen, was für mich aber nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass es in meinem Verständnis nur Hügel waren. Als hätte man meine stillen Klagen gehört, verfrachtete man mich scheinbar sogleich in eine Gegend, in der es Berge en masse gab. Wieder konnte ich meinen geliebten Bergen frönen und mich bergauf wie bergab mal so richtig austoben. Muss schließlich einige Monate halten, bis es wieder ertragbare Temperaturen, zumindest jedoch keinen Schnee mehr gibt, sodass ich mit meinem Fahrrad vielleicht ein weiteres Mal von Gipfel zu Gipfel treten kann. Im Adlergebirge kann man solche Aussagen leicht treffen, denn während man in den Alpen für so etwas Stunden bis Tage bräuchte, ist es im Adlergebirge fast schon zu einfach, ebendies zu machen, weshalb ich die Deschneyer Großkoppe auch immer nur halbherzig „Gipfel“ nenne. Dennoch ist es allgemein höher als in Náchod, ideal also, um fahrradzufahren. Náchod ist erstaunlich nahe an diesem Gebirge gelegen. Mit dem Fahrrad ist man in weniger als zwei Stunden da und die Straße dorthin ist gut machbar, sprich hat keine nennenswerten Höhenunterschiede. Was mich an eine Fahrradtour um den Bodensee mit meinem Onkel erinnert, die mittendrin einen wirklich nur kurzen Höhenanstieg nötig machte, den ich vorher noch verachtend belächelt hatte. Später stellte sich dieser Hügel dann aber als schwieriger als gedacht heraus. Ich weiß nicht, wie lange ich meinen Onkel warten lassen musste. Eine halbe Stunde bestimmt, wobei es zugegebenermaßen auch eine schlechte Idee war, die schweren Geländefahrräder zu nehmen, wenn die “idyllische“ Bodenseeumrundung sowieso die meiste Zeit, um nicht zu sagen immer, auf feinstem Asphalt stattfand. Im Nachhinein ist man immer klüger. Damals war dann ein Körbchen Erdbeeren die verdiente Belohnung nach diesem Aufstieg. In Tschechien kam ich ohne etwas Vergleichbares aus, zumal die Touren insgesamt von der Intensität her deutlich einfacher zu bewältigen waren. Allerdings sind wir auch nicht jeden Tag zwischen 60 und 70 Kilometer gefahren. Es war gut machbar, zwar ohne Erdbeeren, Promenade und überteuerte Schweizer Hotelzimmer, dafür aber mit einer neuen Sprache, neuen Kollegen und vielen “Gipfeln“.
Vor der Abfahrt gab es nochmal Essen. Ein letztes Mittagessen noch, dann würde es wieder nach Náchod gehen, wo mich ironischerweise schon das nächste Mittagessen erwarten würde. Das hatte meine Koordinatorin so eingefädelt. An meiner Schule läuft es folgendermaßen: jeder Schüler und Lehrer verfügt über einen kleinen Speicherbaustein, den man etwa am Schlüsselbund befestigen kann und auf welchem das Essensguthaben gespeichert ist, wobei genug Geld noch keinen Freifahrschein fürs Mittagessen bedeutet. Dieses muss man nämlich anmelden. Dazu geht man ins Netz und wählt eine der zwei Optionen aus, woraufhin sich das System die Wahl und ob man überhaupt gewählt hat merkt. Hat man das nicht, geht man leer aus und muss zur Dame am Schalter, die einem mit einem kritischen Blick nachträglich die Auswahl einträgt, sodass man doch noch etwas bekommt, denn die Frist zur Essensanmeldung beträgt zwei Tage. Ohne diesen Vorlauf ist man auf die Dame angewiesen und muss die unangenehme Stimmung ertragen, die diesem Begehren beiwohnt. Hat man keinen Speicherbaustein, muss man abermals zu dieser Frau, um für den normalen Tarif eine Marke zu bekommen, mit dieser man ebenfalls für das Essen bezahlen kann. Um zwei Uhr schließt die Kantine. Hat man bis dahin sein Essen nicht abgeholt, verfällt der Warenwert des Essens. Während ich dies schreibe, wird mir langsam erst klar, wie kompliziert dieser Prozess eigentlich ist. Für diesen Tag war es ein wenig anders gehandhabt, schließlich gibt es auch die Option, eine Wertmarke im Voraus zu erwerben, was meine Koordinatorin netterweise für mich übernahm, obwohl das erstaunlich viel Schriftwechsel erforderte; eben nicht alles so einfach in einem neuen Umfeld. Jedenfalls hatte ich zugestimmt, da nicht vorgesehen war, vor der Rückreise noch ein Mittagessen zu bekommen. Nun kam es eben anders. Mit anderen Worten: ich hatte einen Mittagessenüberschuss. Wenn man sonst keine Probleme hat…
Das Mittagessen in Rzy ließ ich mir trotzdem schmecken. Wieder einmal hatte der Koch erstklassige Arbeit geleistet. Ich aß nicht viel und nicht wenig an diesem Tag. Mit vollem Magen lässt es sich nur schwer Sport treiben. Nach dem Essen soll man zwar Tausend Schritte tun, doch zwei Stunden Fahrradfahren? Das muss nicht sein, zumal ich denke, dass es deutlich mehr als Tausend Tritte in die Pedale sein würden. Ich rechne das jetzt nicht vor, obwohl das eine schöne Abituraufgabe wäre. Gegeben: 29-Zoll-Reifen, 27-Gang-Schaltung, 15 Kilometer, das Höhenprofil samt Reibungskoeffizienten sehen Sie in Abbildung 1, die Abhängigkeit der Gangwahl von der Steigung in Abbildung 2. Bestimmen Sie die Anzahl der Tritte, die unter Berücksichtigung der gegebenen Parametern nötig sind, um die Distanz zu überwinden.
Hoffentlich würde mein Magen in zwei Stunden wieder leer sein. Die mehr als 1000 Tritte begannen schließlich recht zeitnah, nachdem ich mein Gepäck im Transportwagen untergebracht hatte. Im Rucksack blieb nur das Nötigste. Die Ausfahrt würde sowieso nur zwei Stunden gehen; nicht (mehr) der Rede wert nach so einer Woche. Die Strecke kannte ich noch. Den ersten Teil vor allem. Die Schotterpiste zur Straße, den Weg nach links, der zuvor für den defekten Reifen Filips sorgte, bis meine Erinnerungen immer vager wurden und ich froh war, mit den Lehrern unterwegs zu sein, die ortskundig waren. Ereignisreich war die Fahrt zwar nicht, aber wenigstens gab es keine Komplikationen. Keine zerbersteten Reifen, Unfälle oder fahrverdrossene Schüler. Alles lief nach Plan und schon bald waren wir schon wieder in Náchod, dieser langgezogenen Stadt. Erst durch unzählige Wohnviertel und über sieben Brücken muss man fahren, bis man wieder an der Schule ist. Einen Teil der Strecke mussten wir unsere Fahrräder schieben. Zum einen wegen des Straßenverkehrs, zum anderen wegen der Polizei, die einen gerne für alles mögliche zur Kasse bittet, wobei man nie sagen kann, ob sie sich tatsächlich auf eine Gesetzesgrundlage beziehen oder das Vergehen gerade erfunden haben, so obskur erscheinen diese manchmal.
Mehr und mehr begann ich, mich wieder auszukennen. Das letzte Stück zur Schule kannte ich bereits, weshalb es auch keine Schwierigkeit mehr dargestellt hätte, allein hin zu finden. Eine Schar von Eltern wartete bereits draußen vor der Schule. Ich fuhr an ihnen vorbei und stellte mein Fahrrad ab. Die meisten Eltern kannten mich noch nicht. Weder aus Erzählungen noch aus nächster Nähe, was dazu führte, dass ich generell erhöhter Aufmerksamkeit ausgesetzt war und mich fühlte wie ein Löwe im Zoo. Das Auto mit den Reisetaschen stand außerdem bereits ordnungsgemäß und pünktlich bereit. Man lud die Taschen aus dem Kofferraum und stellte sie neben den Wagen. Meine war schnell gefunden, doch war es undenkbar, sie selbst mitzunehmen, da ich ja auch noch irgendwie das Fahrrad mit nach Hause nehmen musste. Meine Koordinatorin hatte daher angeboten, die Reisetasche schon einmal mit dem Auto zur Wohnung zu fahren. Da wir fast nebeneinander wohnten, war das eine ideal. Sie kam mit ihrem Ehemann und ich überreichte ihm die Tasche. Es ist immer wieder amüsant, die Reaktionen auf das Gewicht meines Gepäcks zu beobachten. Solange ich nicht fliege, macht mir keiner Vorgaben zum Höchstgewicht, weshalb ich an Gepäck selten geize. So mancher Busfahrer, der behilflich sein wollte, hatte schon mit den diversen Kilos zu kämpfen. Oft werde ich gefragt, ob ich Steine transportieren würde. Das ist nur selten der Fall und bestimmt nicht diesmal. Außer Kleidern war kaum etwas drin. Ich sagte, dass es auch die Option gäbe, die Tasche wie einen Koffer zu ziehen, da sie über Rollen verfügt. Das ist deutlich rückenschonender, nur recht laut. Immer noch galt das Angebot mit dem Mittagessen, das ich nicht (mehr) ablehnen konnte, auch wenn ich kaum Hunger hatte. Ich ging also in die Kantine, die eigentlich schon geschlossen hatte, für mich jedoch extra nochmal eine Portion Essen auf den Teller zauberte. Es gab Bohnen mit Brot. Und davon nicht zu knapp. Es war die letzte Portion an diesem Tag und scheinbar war noch genug übrig, sodass man meinen Teller füllte, bis dieser überzuquellen drohte. Während ich sonst die Portionsgröße schätze, war es in diesem Fall eine Herausforderung, so viel Nahrung zu verdrücken, ohne Hunger zu haben. Der Höflichkeit halber wollte ich das jedoch durchziehen. Seit dem Ende der Pubertät sank meine Magenkapazität zwar, aber irgendwo würden die Bohnen schon unterkommen. Wenn ich neige, satt zu werden, sinkt meine Essgeschwindigkeit enorm ab, was Tischnachbarn zur Verzweiflung treiben kann. In diesem Fall war ich zum Glück der einzige in der ganzen Kantine. Jedenfalls zu Beginn. Auf halbem Weg, als ich mit den Bohnen und dem Brot kämpfte, gesellte sich die Küchenchefin dazu, saß zwar nur still da und schaute mir beim Essen zu, dennoch setzte es mich unter Druck, weshalb ich versuchte, schneller zu essen. Was sie bemerkte und mir zu verstehen gab, ich könne mir Zeit lassen. Gut gemeint, aber ich kann nachvollziehen, wie sie sich wünschen muss, ich solle nicht so eine Zeremonie abhalten und einfach essen. Leichter gesagt als getan, denn ich aß über den Hunger hinaus. Wie ein Wasserglas, das bis oben hin gefüllt ist. Man kann noch ein paar Tropfen hineingeben, die Oberflächenspannung ermöglicht das, aber irgendwann ist das Maß voll, die Spannung reißt ab. Ich aß gemächlich weiter, doch es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Die arme Köchin, deren Feierabend ich gerade hinauszögerte. Ich kann nachvollziehen, wie ärgerlich es sein muss, wegen einer Person extra länger als sonst bleiben zu müssen. Als Lehrer hat man zwar große Klassen, aber bis auch der letzte sein Zeug zusammengepackt hat und man den Raum abschließen kann, vergehen so manche Minuten Pausenzeit für den Lehrer. Ein Lehrer ist nur so schnell wie sein langsamster Schüler. Immerhin – und da bin ich auch ein wenig stolz drauf – war ich imstande, den ganzen Teller inklusive der paar Scheiben Brot vollständig zu verspeisen. Ich fühlte mich zwar aufgebläht wie eine Hüpfburg, aber wenigstens war die Pflicht erfüllt. Auf eine Serviette kritzelte ich ein kurzes „Danke“ an die Küche inklusive 50 Kronen. Nicht unbedingt viel für deutsche Verhältnisse, aber in Tschechien schon ein halber Stundenlohn. Einige Tage später gaben sie mir blöderweise die 50 Kronen zurück. Vielleicht durften oder wollten sie kein Trinkgeld annehmen. Ich blieb dennoch in ihrer Schuld, weshalb ich ihnen kurzerhand Zwetschgenkuchen mitbrachte, den sie nicht ablehnen konnten.
Das Essen war geschafft, jetzt müsste ich nur noch den Helm loswerden. Dazu musste ich David finden, von dessen Ehefrau ich ihn ausgeliehen hatte. Erstaunlicherweise traf ich in der völlig leeren Schule David in einem der Gänge an und gab ihm den Helm, versuchte es zumindest, denn er sagte, er wolle ihn nicht. Ich verstand nicht ganz und erinnerte ihn, dass es der seiner Frau sei, nicht meiner. Das wisse er, aber er könne ihn trotzdem nicht brauchen. „Was soll ich dann damit machen?“, fragte ich ihn. „Bring ihn am Montag mit in die Schule.“, antwortete er. David war ebenfalls mit dem Fahrrad da und zwei Helme brauchte er beim besten Willen nicht. Also nahm ich ihn mit nach Hause, um ihn später wieder mit in die Schule zu nehmen. Die Rückreise war abgehakt, das Essen war es, den Helm bin ich nicht losgeworden, aber es war geklärt, was mit ihm geschehen soll. Ich verließ die Schule, stieg auf mein Fahrrad und fuhr die letzte Etappe; von der Schule aus Richtung Wohnung. Erst noch zu meiner Koordinatorin, die das Auto aufschloss und mir die Reisetasche übergab, woraufhin ich endlich alles beisammen hatte und in das Haus gehen konnte. Das Fahrrad konnte endlich wieder im abschließbaren Fahrradkeller Platz finden und ich in meiner beheizten Wohnung ohne jugendliche Nachbarn sein. Die Beine fühlten sich taub an, als ich die Treppen hochschlenderte, doch endlich war ich wieder da. Die Reisetasche legte ich schnell ab, der Rucksack kam in die Ecke und ich genoss es, endlich wieder zuhause zu sein. Darüber hinaus war auch noch der Beginn des Wochenendes; besser konnte es also gar nicht sein. Ich duschte mich, füllte die Waschmaschine bis oben hin mit Sportklamotten, und ließ mich final auf mein Bett plumpsen.
Nach diesem kleinen Ausritt in eine ganz andere Welt war ich wieder in der Normalität angelangt. Es deckte schon zu Beginn einen der beiden Sektoren der Arbeit an der Schule ab. Von der Praxis wusste ich nun, wie sie aussehen würde. Die Theorie war noch ein unbeschriebenes Blatt Papier, aber auch das lässt sich ändern. Erfahrungen wie diese sind einzigartig und wiederholen sich nicht allzu oft, weshalb man den Moment wertschätzen sollte. Die Woche war ein Konzentrat an Entdeckungen und Einblicken. Die Unmittelbarkeit, die direkte Konfrontation mit all den fremden Sachen war bestimmend, da sie es einem ermöglichte, mit Altbekanntem zu brechen und sich einzulassen auf eine neue Umgebung. Ein sportlicher Kontext verband schlussendlich viel mehr Elemente als ich es mir hätte erträumen können. Als Einstimmung auf die Schularbeit und Tschechien allgemein hat es mir weitergeholfen. Nicht jeder erhält eine solche oder vergleichbare Chance, weshalb ich umso dankbarer bin, dass ich diese bekommen habe. Einmal mehr zeigt es, dass ich im idealen Projekt untergekommen bin.