Tage wie diese – Tag 3
Bilanz:
47 Kilometer
7 Stunden, 40 Minuten
Mal wieder beginnt der Tag in der Frühe. Doch bin ich heute erstaunlicherweise schon früher als sonst nicht nur wach, sondern auch geistig ganz bei Sinnen. Das verwundert, wenn man bedenkt, dass die Menge an Schlaf der Anzahl der Stunden Sport nicht im Geringsten gerecht wird.
Das dauerbereite Frühstück entschädigt für die kurzen Nächte. In meiner Wohnung in Náchod ist es egal, ob ich lang oder kurz geschlafen habe, es steht nie ein Frühstück für mich bereit. Eine zynische Konstanz. Und mal abgesehen von allen sportlichen Strapazen, kann man den Luxus dieser Mahlzeiten nicht abstreiten.
An diesem Morgen schöpfe ich mir eine extra große Portion Joghurt, welchen ich mit Zucker garniere. Ja, Zucker, die schlimmste aller Ernährungssünden. In Anbetracht der bevorstehenden Mammut-Tour ist mir das herzlich egal. Purer Naturjoghurt schmeckt eben auch nicht. Das obligatorische Müsli oben drauf und etwas Milch zum Verdünnen. Dann der zweite Anlauf, um ein Brötchen, Meggle-Butter und Käse zu holen. Selbst mit Zucker ist der Joghurt keine Gaumenfreude. Ich stehe ein drittes Mal auf und hole Marmelade. Zucker ist das Lebenselixier, das mich heute am Leben halten wird.
Exklusive Teebeutel bekommen wir an diesem Tag leider nicht. Entweder wurde es vergessen oder das war nur die tschechische Entsprechung einer Aufmerksamkeit eines Hotels bei der Ankunft in Form eines Glases Sekt oder eines Saftgetränks.
Nachdem ich die Zwei-Mann-Portion Joghurt gegessen habe, schmiere ich mir sogleich das Brötchen mit der deutschen Butter und dem Käse. Das war in Ordnung. Vielleicht verschaffen mir die Alkaloide im Mohn auf dem Brötchen beim späteren Fahrradfahren ja mehr Leistung. Zumindest die eigentlich gar nicht schmerzenden, aber tauben Beine könnte er noch weiter betäuben.
An diesem Tag gehen die Uhren in einem anderen Takt. Alles muss schneller passieren und pünktlich enden, sodass wir in die Gänge kommen. Ich haste gleich in mein Zimmer und überlege mir anhand der Information durch Jarda eine passende Kleiderkombination. Funktionelle Kleidung habe ich schon mal nicht. Super. Dann eben mein zweites Baumwoll-Sport-Kurzarmhemd, diesmal in rot, kombiniert mit langer Skiunterwäsche, einem Rollkragenüberzieher und der winddichten Jacke, die ich ursprünglich erhielt, weil mein Bruder seine verlegt hatte, eine neue gekauft hat, die alte dann wiedergefunden hat und eine Jacke zu viel hatte. In den Rucksack kamen dann nur noch folgende Sachen: ein Elektrolytgetränk, ein Ersatzfahrradschlauch, mein Geldbeutel, Telefon, Halstuch, sowie ein paar Taschentücher und der Corny Großfrüchtige-Moosbeere-Riegel. Alles in allem super kompakt, von geringem Gewicht und trotzdem ist alles Notwendige immer dabei. Gut, war das also auch geklärt. Wieder in die sportlichen Treter, aus dem Haus und zu den Fahrrädern. Nochmal alles kontrollieren. Bremsen, Schaltung, Federgabel, Reifen, Luftdruck. Passt.
Dann kann es losgehen. Die erste Etappe unserer Reise ist stets dieselbe Strecke. Einen Ort weiter, von dort aus erreicht man die wichtigsten Ziele. Zu Beginn geht es steil den Berg hinauf. Die frischen Beine haben damit noch kein Problem. Am Morgen kann man so etwas durchaus auch mal machen. Der bevorstehende Ort ist ein Wintersportort. Folglich weisen genug Schilder auf die Vorzüge der hiesigen Höfe hin. Was allein die Schönheit der Umgebung trübt, ist die nasse Kälte, die sich in den Wäldern leider richtig wohlfühlt. Nach einer gefühlt halben Ewigkeit, in Wahrheit aber nur etwa 40 Minuten seit der Losfahrt, erreichen wir die erste Station des heutigen Tages. Einen alten Bauernhof, der im Winter als Gasthof dient. Wir rasten, ziehen dann jedoch rasch weiter. Der Schatten kühlt uns sonst nur noch mehr aus. Wieder geht es steil bergauf, doch haben wir eine gewisse Motivation. Nach 400 Metern kommt die polnische Grenze. Diese als erster an diesem Tag zu überqueren, ist nun das Ziel aller. Nach besagten 400 Metern kommt tatsächlich die “Grenze“, allerdings ist diese ganz schön öde. Auf einem Schild steht „POZOR! STÁTNI HRANICE“ (Achtung! Staatsgrenze). Na ja, dieses Schild wirkt etwas lächerlich in Anbetracht der nicht mehr wirklich vorhanden Trennung oder Möglichkeit der Unterscheidung Tschechiens und Polens, zumindest an dieser Stelle. Stattdessen verläuft über die Grenze ein kleiner Schleichweg, der die Hauptstraße auf polnischer Seite mit den Wintersport-Gasthöfen in Tschechien verbindet. Mit dem Fahrrad fahren wir eine unnötige Ehrenrunde, um mal in Polen gewesen zu sein und danach wieder zurück, denn so nah wir Polen auch sind, wir werden das Land heute nicht mehr betreten. Rechts geht es weiter. Wie in Polen. Direkt entlang der Grenze. Nach ein paar Kilometern wieder relativ gesehen landeinwärts, da diese Grenze anders als bei den Grenzen der Bundesstaaten der USA keine mit dem Lineal gezogene Linie durchs Niemandsland ist. An den Schneisen im Wald bietet sich ein toller Ausblick auf die gegenüberliegenden Hänge. Am Straßenrand liegt dann das frisch geschlagene Kiefernholz. Der Regen hat scheinbar nochmal zur Verstärkung des Geruchs des Harzes beigetragen. An diesen Stellen zu fahren, war ein Dufterlebnis der Extraklasse.
Auf dem höchsten Punkt machen wir wieder eine Pause. Wenn es nach mir ginge, könnten wir diese sein lassen. Ich fahre meist durch, sehe aber natürlich ein, dass die Kinder noch nicht so belastbar sind. Zu meiner Linken sehe ich einen riesigen Haufen Karotten. Stichwort „Karotte“. Da gab es vor kurzer Zeit einen Art innerdeutschen Konflikt über die Verwendung des scheinbar richtigen Begriffes für diesen Doldenblütler. Karotte, Möhre, Gelbe Rübe oder Mohrrübe. Jeder sah das anders. Jedenfalls war neben mir ein großer Haufen dieser orangefarbenen Kegel. Die seien für die Wildschweine, lässt man mich wissen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass jetzt noch ein Witz in Richtung: „ Für Wildschweine und Wildkinder.“ kommt, da die meisten Kinder ebenfalls davon aßen. Leider verpasste Jarda diese Steilvorlage. Ich stehe nur unbeteiligt mit dran und nippe an meinem blauen Wunderwasser. Glucose, Einfachzucker, sowie alle wichtigen Mineralien, sind enthalten. Zudem schmeckt es mir. Meine Mutter hatte dafür ja nie etwas übrig und bezeichnete das Getränk immer abwertend als „Spülmittel“. Liest man die Zutatenliste, ist diese Annahme gar nicht so verkehrt. Allerdings bin ich bisher noch nicht von innen übergeschäumt, nehme also an, dass es nicht das gleiche ist.
Nachdem fast alle mal vom Gemüse gekostet hatten, geht es weiter. Bergauf, bergab, dann wieder hinauf. Verlässlich sind die Berge nicht. Ständig drehe ich an der Voreinstellungsschraube meiner Federung herum. Verlässlich sind da schon eher die Kennzeichnungen an den Bäumen. Symbole mit zwei gelben Streifen bedeuten „Fahrradweg“, welche mit weißen Streifen bedeuten Wanderweg. Manchmal findet man beide. Konnten sich die Tschechen eben nicht einigen. Wie die Deutschen mit der Karotte.
Während zuvor kleine Abfahrten den Adrenalinspiegel auf ein ausreichend hohes Niveau brachten, um den nachfolgenden Anstieg souverän zu meistern, ging es jetzt nur noch in eine Richtung. Und zwar nach oben. Unaufhörlich schlängelte sich der Pfad gen Gipfel. Die Straße hatte geendet. Endlich war man in der freien Natur. Nach ein paar Minuten hatte ich schon alle überholt und konnte nun alleine die Natur genießen. Endlich war das Gefühl von Vertrautheit weg. Das mit Morgentau – nicht zu verwechseln mit Henry Morgenthau, einem US-amerikanischen Politiker, der vorhatte, Deutschland in einen Agrarstaat zu verwandeln – verzierte Gras, die kleinen Büsche am moosbedeckten Waldboden, die winzigen Bäume links und rechts. Dazu das glitzernde Gestein. Wir waren im Adlergebirge angelangt. Es deutete nichts mehr auf bekannte Langeweile hin, endlich war alles neu. Manches hat man schon einmal gesehen. Die Blaubeersträucher in Südtirol, den Quarz in Österreich, und doch waren die Elemente in dieser Kombination einzigartig. Bei so einer wundervollen und durchaus mystischen Umgebung macht das Fahrradfahren am Berg plötzlich gar nichts mehr aus. Nebelschleier werden vom Wind durch die Wälder geweht und die Morgensonne sorgt für eine schöne Stimmung und tatsächliche Sonnenstrahlen, die zwischen den Kiefernnadeln hervorblitzen.
Man hofft stets auf ein baldiges Ende des Aufstiegs, ist dann aber doch überrascht, wenn es endlich kommt. Für mich heißt das, dass in der Ferne eine der Lehrerinnen und meist ein paar Schüler/innen stehen. Warum bei dieser Truppe ausgerechnet die Mädchen so sportlich sind, bleibt mir ein Rätsel. Sie dürfen nach den Pausen früher starten, aber dieser Vorsprung ist gut wieder aufzuholen. Jetzt sind wir jedenfalls da. Eine Schneise im Wald gibt uns wieder die Möglichkeit, nach unten bis ins Tal zu blicken. Wirklich schön hier oben. Mit der Pause meinen es die Lehrer wieder einmal gut. Zwanzig Minuten dauerte diese bestimmt. Ich nutze die Zeit und frage einen der Schüler, ob ich sein Fahrrad probefahren dürfe. Er bejaht. Es ist ein Fabrikat von Scott. 27,5-Zoll-Reifen, hochwertige Federelemente von „RockShox“, schwimmend gelagerte Bremsscheiben von Shimano. Bei der Probefahrt fallen die qualitativen Bauteile gleich auf. Die Unterschiede sind einfach enorm. Wäre der Rahmen größer, würde ich gleich tauschen.
Neben diversen Probefahrten werden auch noch Bilder gemacht und Blaubeeren gepflückt. An diesem Ort könnte man noch ewig verweilen, doch ist die Vernunft in diesem Fall stärker. Es geht den Berg hinab. Vierzig Höhenmeter. Nicht die Welt, aber spaßig. Nur der hohe Luftdruck verdirbt die Abfahrtsfreude etwas. Immerhin platzen die Reifen nicht. Ist auch schon vorgekommen. Gleich am ersten Tag nach dem Kauf, um genau zu sein. Leider folgt jeder Abfahrt ein Aufstieg. Diesmal über Stock und Stein, durch Pfützen, Schlamm, Wiesen. Kurz: durch die Natur. Wieder bin ich nach einiger Zeit alleine, kann in Ruhe nachdenken und die Natur genießen. Die Luft wird dünner, das merkt man. In Náchod sind wir ja geradezu verwöhnt mit unseren 346 Metern. Mir sind 1000 Meter da schon lieber, wobei auch das noch nichts im Vergleich zum Hochgebirge ist. Als es langsam nur noch flach vorangeht, sieht man wieder Zeichen von Zivilisation. Die Gipfelstation des Skiliftes ist ja nur schwer zu übersehen. Einerseits schade, dass dieses moderne Ding die Landschaft so verschandelt, andererseits gut zu wissen, dass man hier im Winter ebenfalls die Natur genießen kann. Hundert Meter noch, dann erreichen wir die Skihütte. Ein paar Kinder sind schon da. Ich stelle das Fahrrad ab. Endlich geschafft. Vor dem Haus wartet bereits der Wirt unseres Unterkunft im unaussprechlichen Ort „Rzy“ mit dem Essen. David, der Lehrer, hat einen Bruder (Karel), dem die Hütte anscheinend gehört. Daher ist es kein Problem, unser eigenes Essen in den Räumlichkeiten zu verspeisen. Versuchen Sie das mal in der Servicewüste Deutschland. Da bekommen Sie bereits von vornherein per Schild gesagt: „Selbst mitgebrachte Speisen und Getränke dürfen nicht im Restaurant verzehrt werden.“
Karel spricht erstaunlich gutes Englisch und zeigt uns die Hütte. Man sieht eindeutig, dass sich die Gaststätte auf den Wintersport spezialisiert hat. Überall hängen Requisiten, auch Jagdtrophäen, dazu wohnliche Räume komplett aus Holz. In einer Art Vorraum erspähen wir den Lehrertisch. Da ist es ruhiger und nicht so umtriebig. Zum Essen gibt es Schnitzel mit Brot und Essiggurken. Als Nachtisch Äpfel und Tatranky, eine Art Neapolitaner Waffel. Doch aufgepasst: „Tatranky“ bedeutet auch „Nackenklatscher“, also einen Schlag auf den Nacken. Seien Sie also vorsichtig, wen(n) Sie um ein Tatranky bitten.
Das Schnitzel schmeckt gut, ebenso das Brot und die Gurken. Allerdings ist es enorm trocken. Aus der schwäbischen und auch tschechischen Küche bin ich da ganz andere Soßenmengen gewöhnt. Ein Schnitzel ist übrig. Ich wollte es eigentlich gar nicht, aber die Lehrerinnen schwätzten es mir auf. So kaute ich bestimmt eine Viertelstunde auf dieser Schnitzel-Brot-Mischung herum. Dann endlich der Jablko, der Apfel. Eine seltsame Sorte. Die Konsistenz einer Birne und der Geschmack pelzig-mehlig. Da ist mir die Tatranky-Waffel lieber. Kalorientechnisch konnte die Flinte getrost ins Korn geworfen werden, deshalb ging ich zur Theke und bestellte neben einem tschechischen Espresso ein Stück Torte.
Zusammen kosten die beiden Dinge 71 Kronen. Ich gebe 80. Immer wieder kommt mir der Vergleich mit Skihütten in den Alpen in den Sinn. Für den Gegenwert von 80 Kronen (2,9620 € mit Stand 01.01.2017) hätte ich da maximal den Kaffee bekommen. Gut, dass ich nicht auf dem Fellhorn bin.
Kurze Zeit später erhielt ich die Torte. Eine Sahnetorte mit Waldbeeren. Dazu verfeinert mit weißer Schokolade. Herrlich. Torten backen können sie, die Tschechen. Neben der sagenhaften Torte habe ich auch noch den Kaffee. In Tschechien gibt es selten klassischen Espresso. Wer hier einen Espresso bestellt, bekommt zwar starken Kaffee, davon allerdings gleich eine ganze Kaffeetasse voll. Dazu wird Smetana gereicht. Nicht der Komponist, sondern Sahne. Man zahlt selten mehr als dreißig Kronen dafür. Etwas mehr als einen Euro. Als auch der Kaffee weg ist, kann ich mich endlich zurücklehnen und darüber grübeln, ob es die beste Idee war, sich vor der noch bevorstehenden Etappe derart den Bauch vollzuschlagen. Bei der Konversation am Lehrertisch verstehe ich ohnehin nichts, da die Tschechen, wenn sie dürfen, mit einer derartigen Schnelligkeit sprechen, dass einer wie ich nicht die geringste Chance hat, etwas zu verstehen. Ähnliches ist mir auch schon aufgefallen, wenn die spanischen Freiwilligen miteinander auf Spanisch reden. Wie ein Wasserfall strömen die Worte aus ihnen hinaus. Dagegen empfinde ich die deutsche Sprache als recht wortkarg. Es ist ihre charmante Eigenschaft, mit so wenigen Wörtern so viel zu sagen.
Irgendwann scheinen alle weiteren Pläne geschmiedet, sodass wir aufbrechen können. Der Gang in den Gang, um zur Wanderkarte zu gelangen, gab bereits einen kleinen Vorgeschmack auf die Kälte, die uns draußen erwarten würde. Das bedeutet: Alles anziehen, was geht. Kurzarmhemd, darüber das lange Skiunterhemd, darüber den Rollkragenüberzieher, darüber die winddichte Jacke und für den Kopf ein Halstuch, das vor der eisigen Kälte schützt. Eingepackt wie vor einer Südpol-Expedition, gehe ich nach draußen. Die Sonne scheint, aber der kalte Wind signalisiert schnell, dass es gut war, so viel angezogen zu haben.
Nach unten geht es über eine Wiese. Nun verstehe ich auch, wie es so viele Leute auf die Berghütte geschafft haben. In etwa fünf Gehminuten Entfernung ist ein großer Parkplatz, auf dem sich die typischen Vehikel befinden. VW Tiguan, Škoda Yeti, solche Wagen eben.
Nach dem vollen Parkplatz geht es wieder den Berg hinauf. Mehrere hundert Meter noch auf Asphalt, danach wird dieser von Kies abgelöst. Man möchte ja schneller fahren, aber schon nach der kürzesten Beschleunigungsfahrt merkt man, dass die Muskeln nicht mitmachen. Lieber nochmal ein paar Schlücke vom blauen Wunderwasser. Während es muskelbedingt immer langsamer vorangeht, kann ich wenigstens die Natur in vollen Zügen genießen. Im Wald war sie ja schon ganz schön, doch fehlte damals die Weitsicht. Links und rechts noch Büsche, Sträucher, Bäume, in der Weite dann wunderbar fließende Berge, die von der Form her mehr Hügel sind, sowie ein endlich mal blauer Himmel mit beeindruckenden Wolkenformationen. Mein ehemaliger Physiklehrer Herr Hoffmann wäre stolz.
Das Adlergebirge ist nicht das höchste Gebirge, es ist kein Gebirge mit eindrucksvollen nackten Berggraten wie in den Dolomiten. Es liegt, anders als in den Alpen, kein Schnee auf den Gipfeln. Ewig lang erstrecken sich dagegen die nie enden wollenden Bergrücken, dabei stets von den immergrünen Fichten und Tannen bedeckt.
Nach der relativ kurzen Fahrt in dieser Idylle machen wir wieder eine Pause bei einer nur im Winter bewirteten Hütte, die eines dieser tiefen Dächer hat, das fast bis auf den Boden reicht. Es gibt drei Bänke. Steigt man auf die höchste von ihnen, so kann man große Flächen des Adlergebirges überblicken. Ein atemberaubendes Panorama offenbart sich einem. Die Pausen gehen meist solange, dass alle Langsamen zur Gruppe aufschließen können. Wenn der letzte endlich ankommt, geht es vorne schon wieder los. Um auf dem Rundweg zu bleiben, müssten wir geradeaus. Doch unser nächstes Ziel ist nicht die direkte Weiterfahrt, sondern der höchste Gipfel des Adlergebirges. David beschreibt ihn mir folgendermaßen: „Eigentlich ist dort oben nichts besonderes, aber es ist eben der höchste Punkt des Adlergebirges.“
Ein kleiner Wanderweg, der vollständig aus losem Gestein besteht, führt uns hin. Und es kam, wie es David prophezeit hatte. Eine kleine Lichtung macht den Ort kenntlich. Der Wegweiser muss daran erinnern, dass das hier ein Gipfel ist. Der höchste im ganzen Adlergebirge. Ganze 1115 Meter misst er. Trotzdem gibt es kein Gipfelkreuz, was ich aber nachvollziehen kann. Wenn Sie sich auf den Malediven auf einer Höhe von zwei Metern ü. NN befinden, sind Sie schon in relativ großer Höhe. Betonung auf „relativ“, denn die höchste Erhebung ist lediglich 2,4 Meter hoch. Ein wenig lächerlich wirkt die geringe Höhe schon. In Südtirol waren 1100 Meter unsere Starthöhe für die Wanderung. Von 1100 Metern ging es bis auf über 2400 Meter. Wer die Höhe sucht, ist woanders möglicherweise besser aufgehoben. An Schönheit ist das Adlergebirge allerdings nur schwer zu überbieten. Vor allem für Freizeitsportler ist es ideal. Die Fahrradstrecken sind wirklich super. Deutschland mit seinen dümmlichen Treppen überall, wo es ein bisschen steiler wird, ist als Fahrradfahrer und im Besonderen als Geländefahrradfahrer die Hölle. Zum Glück bin ich hier in Tschechien gelandet. Denn aus sportlicher Sicht komme ich hier vollends auf meine Kosten.
Ein gemeinsames Gipfelfoto erinnert an unsere erfolgreiche Expedition. Als wir den Ort wieder verlassen, kann ich endlich mal wieder etwas zügiger fahren. Auf dem Gestein hat man zwar null Halt, dafür aber viel Spaß. Die Gruppe wartet bereits mal wieder aufgrund der bevorstehenden Abfahrt. Jarda, der die Strecke kennt, warnt die Kinder vor gefährlichen Kurven und rutschigen Stellen. Außerdem klärt er die Kinder über die Wichtigkeit eines ausreichend großen Sicherheitsabstand auf. In großzügigen Zeitabständen fahren dann alle nach und nach los. Den Rausch der Geschwindigkeit kann man einfach nicht ersetzen. Rasend schnell geht es bergab in schönen, langgezogenen Kurven. Ich kann Ideallinie fahren und die Bremsen mal so richtig an ihre Grenzen bringen.
Nach einer langen Abfahrt kommen wir nun auf einer Wiese zum Stehen. Keiner wusste den Weg, deshalb waren wir gezwungen, auf David und Jarda zu warten, die sich meist um die langsameren Schüler kümmerten. „Langsam“ ist noch eine Untertreibung. „Lahm“ trifft es schon eher. Meine Geduld hält ja für gewöhnlich recht lange, aber irgendwann ist das Maß dann auch voll. Nicht mal besonders effizient gehen diese Kinder vor. Wenn sie sehen, dass es erst kurz bergab und dann wieder weiter bergauf geht, nutzen sie nicht etwa diesen Schwung, um schon mal ein paar Meter am Berg weniger zu haben, sondern treten gar nicht mehr, freuen sich anscheinend über diese paar Sekunden, in denen ihre Beine nicht arbeiten müssen, bloß um dann von ganz unten den Berg mit Muskelkraft und ohne Schwung wieder hochzufahren.
Vorerst war das nur deren Problem. Wir Anderen warteten dann eben auf der Wiese. Mittendrin war die Endstation eines Skiliftes, denn die Berge hier dienen im Winter als Skipiste. Dort steht also die im Sommer recht seltsam wirkende Station mit einer kleinen lebensechten Puppe in dem kleinen Häuschen neben der Station, von welchem man im Winter den Lift steuert, völlig allein auf der Wiese. Einer der Zweiersessel, die wohl gar nicht abgenommen werden, war in solch passender Position, dass man sich wunderbar hineinsetzen konnte. Als Jarda ankommt, erzählt er mir etwas über das Skigebiet. Die regulären Pisten seien meist roten oder blauen Schwierigkeitsgrades, dagegen gibt es im Wald sogar eine schwarze Piste. Das freut mich, denn wie Jarda ebenfalls erzählt, wird der alljährliche Skiausflug mit den Schülern höchstwahrscheinlich hierhin gehen. Den genauen Sachverhalt hat er mir bereits am ersten Tag des Ausflugs bei der Hinfahrt erklärt. Es gibt jedes Jahr mehrere Skiausfahrten, die jeweils eine ganze Woche gehen. Eine Gruppe geht nach Italien. Vom Niveau her ist das natürlich nicht mit dem Adlergebirge zu vergleichen. Allerdings ist auch das Preisniveau entsprechend hoch mit 7000 Kronen für den ganzen Trip. Zwar immer noch preiswert, doch in Tschechien sitzt das Geld bei manchen Familien eben nicht so locker. Und leider gibt es in Tschechien auch kein Bildungs- und Teilhabepaket, das kurz mal 2539 Euro (oder 68605 Tschechische Kronen) pro Schüler für eine Studienfahrt des Robert-Koch-Gymnasiums in Berlin nach New York bereitstellen kann. Aus diesem Grund wird noch eine Skiausfahrt im Adlergebirge angeboten. Falls ich Interesse hätte, könne er sich mal erkundigen, sagt Jarda. Eventuell könnte ich mit zum Skikurs ins Adlergebirge.
So schlecht sahen die Pisten im Übrigen gar nicht aus. Vor allem in den Wäldern lässt es sich bei entsprechend viel Schnee mit Sicherheit gut fahren. Während ich schon voller Vorfreude über mögliche Abfahrten nachdenke, starten die anderen und fahren den Berg hinab. Erst noch über die Wiese, danach geht es nur noch über einen wieder recht steinigen Weg, der zudem auch noch recht steil ist. Ich halte nach den ersten Metern an und lasse Luft aus meinen Reifen. Anders hat man keine Chance. Zumindest geht es mit niedrigem Luftdruck besser. Beide Ventile für 5 Sekunden gedrückt, das macht einen riesigen Unterschied. Ich kann endlich mit Karacho den Berg hinunterheizen. Mein eigentliches Element. Die Kinder schieben schon nur noch, während ich links an ihnen vorbeischieße. Viel zu früh ist die Fahrt schon wieder zu Ende. Der Adrenalinspiegel allerdings auf einem Allzeithoch. Daher fahre ich gleich weiter über die schwarze Kiespiste. Als ich gerade wieder Höchstgeschwindigkeit erreicht habe, sehe ich, dass vorne gehalten wird. Also noch ein kleiner Sprung mit dem Fahrrad über eine Bodenwelle als krönender Abschluss dieser berauschenden Fahrt.
Wir stehen vor einer völlig verfallenen Kirche. Ein ungewohntes Bild. In so gut wie jeder Stadt ist die Kirche eines der prachtvollsten Gebäude. Nicht so hier. Der Friedhof sieht keinesfalls besser aus. Das passiert also, wenn sich keiner um die Gräber kümmert. Manche sind älter als die Erfindung des Automobils. Nicht zu glauben und eindrucksvoll, wenn auch mehr durch den jetzigen Zustand und nicht der Pracht wegen. Viele der Grabinschriften sind auf Deutsch. Ein Kreuz wurde von ehemaligen deutschen Einwohnern gespendet. Jarda erklärt den Kindern die Geschichte des Ortes. Leider auf Tschechisch und dieses Mal nur auf Tschechisch, was recht ungewöhnlich ist. Was ich verstehe, ist, dass es etwas mit den Sudetendeutschen zu tun hat. In dieser Hinsicht hat der Geschichtsunterricht in Deutschland versagt. Dabei kann ich mich ja noch glücklich schätzen als Baden-Württemberger. In Berlin werden tatsächlich die Schulfächer Geographie, Politik und Geschichte zusammengelegt.
Was aber selbst der baden-württembergische Geschichtsunterricht nicht abdecken konnte, waren die kleineren Konflikte bei Hitlers großem Reich. Frankreich, die Ostfront, Großbritannien, darüber weiß man Bescheid. Aber jegliche Themen in Verbindung mit den Sudetendeutschen? Ein weißer Fleck im Geschichtsverständnis einer ganzen Generation.
Nachdem wir die Kirche in aller Ausführlichkeit gewürdigt haben, fahren wir weiter. Diesmal fahre ich mit Jarda ganz vorne. Der Landschaft merkt man den Tourismus an. Schöne Häuserfassaden, relativ neue Gaststätten, ein Skiverleih. Alles eben ein bisschen internationaler. Nach der ewigen Abfahrt kommt, was kommen musste: der nächste Anstieg. Während die ersten Meter wie immer wunderbar einfach gehen, merkt man recht schnell, wie wenig Kraft noch in den Beinen steckt. Sie fühlen sich schwer an. Als seien sie aus Gold. „Das ist Gold, Mr. Bond. Schon mein ganzes Leben lang hab ich seine Farbe geliebt, seinen Glanz, seine göttliche Schwere.“ Die göttliche Schwere ist es, was mir nun zum Verhängnis wird. Goldfinger wusste es scheinbar schon. Jede weitere Beschleunigung rächt sich mit exponentiell sinkenden Energiereserven. An Schieben ist trotzdem nicht zu denken.
Aus rein subjektiver Sicht waren wir schon deutlich näher an unserer Unterkunft in Rzy als wir es dann tatsächlich waren. Meine Motivation wird zunehmend größer, die Tritt- und Herzfrequenz steigen. Trotzdem will das Örtchen Olešnice einfach nicht auf den Straßenschildern erscheinen. Im nächsten Dorf trennen wir die Gruppen und ich darf den schnellsten Trupp übernehmen. Das war Fluch und Segen zugleich. Zu Beginn ging es ja noch ganz gut. Dann merke ich, dass die Kinder erstaunlich nah hinter mir bleiben. Sie müssen wissen, bei den anderen Kindern war ich meist mehrere hundert Meter voraus. In diesem Fall fuhren die Kinder munter hinterdrein. Also hebe ich die Geschwindigkeit an. Ein paar Tritte mehr pro Minute machen schon einiges aus. Die Truppe dünnt sich zunehmend aus, der Abstand zwischen den Kindern wird größer, zwei Kinder, der Junge mit dem Scott-Fahrrad, das ich probefahren durfte und das Mädchen mit dem Cannondale-Geländefahrrad, das konsequent Tschechisch mit mir sprach (das Mädchen, nicht das Fahrrad), blieben jedoch direkt hinter mir. Folglich nochmal ein bisschen schneller, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass ich nicht mehr konnte, schließlich ist eine Hauptvoraussetzung für mein Projekt Sportlichkeit. Und zwar eine aktive. Dass ich viel über Turnen oder die Formel 1 weiß, bringt mir also nichts. Nach über 40 Kilometern am Ende zu sein, war daher nicht vorgesehen.
Dann kam das erlösende Ortsschild. Nach kilometerlanger Landstraßenfahrt endlich ein Zeichen der Hoffnung. Olešnice 4 km. Vier Kilometer sind für gewöhnlich gar nichts. Wenn man an diesem Tag aber bereits 41 km gefahren ist, ist das eine nicht zu verachtende Distanz. Mich verlässt die Lust und ich gebe den Kindern zu verstehen, dass wir jetzt anhalten. Erst jetzt sehe ich, dass sie völlig aus der Puste sind. Röchelnd wie Hunde stehen sie dort und sind erleichtert, dass der scheinbar nie anhalten wollende Kerl vor ihnen endlich genug hat. Selbst nach den heftigsten Aufstiegen waren die Kinder auch nicht annähernd so erschöpft. Scheinbar haben sich die beiden Verhaltensweisen gegenseitig aufgeschaukelt. Ich dachte, ich sei zu langsam, während die Kinder versuchten, an mir dran zu bleiben. Blöd, dass wir keine gemeinsame Sprache sprechen. So haben sich am Ende alle beteiligten Parteien mehr verausgabt als nötig. Um die Kinder für die Strapazen zu entschädigen, biete ich ihnen etwas von dem Corny Großfrüchtige-Moosbeere-Riegel an. Die meisten wollen etwas haben und sind dankbar. Frisch gestärkt könnte es von mir aus schon weitergehen, doch nun erreicht Jarda die Stelle (das will was heißen; mehrere Minuten waren wir vor ihm da) und teilt mit, dass hier am besten die ganze Gruppe halten solle. Das kann dauern. Zu der Jungen Glück befindet sich auf dem Parkplatz ein riesiger Haufen Rindenmulch. Fünf Meter waren es bestimmt. Und während die Jungs sonst immer versuchen, schon möglichst erwachsen zu wirken, merkt man jetzt, dass es noch Kinder sind. Der Kumpel wird nach unten geschubst und es gibt waghalsige Sprünge beziehungsweise Fälle in das weiche Rindenmulch-Material.
Eigentlich war die Pause nur zur Nährstoffaufnahme gedacht. Zwei Minuten und weiter. Nun waren es schon wieder um die zwanzig Minuten. Beim besten Willen. Vier Kilometer nach Olešnice und dann noch die verbleibenden zwei zur Unterkunft sind jetzt nicht die Welt. Das würde ich persönlich eben noch zu Ende fahren, ohne kurz vor dem Ziel nochmal eine halbe Ewigkeit lang zu warten. “Meine“ Gruppe um die sportlichsten Kinder ist jedenfalls schon wieder hoch motiviert und möchte sofort wieder starten. Mir geht es genauso. Also wieder auf den Sattel geschwungen und weiter geht's. Anfangs führt eine ewige Gerade den Berg hinauf. Wobei „Berg“ an dieser Stelle noch unpassender ist als die die Bezeichnung „Gipfel“ für die 1115-Meter-Anhöhe. Es geht eben leicht nach oben. Für die meisten Kinder dennoch eine Herausforderung. Dank den Kohlenhydraten läuft es nun jedoch wie geschmiert. Einmal links an allen vorbei, bis eine ausreichend große Lücke gefunden ist, um dort zu bleiben. Denn wie auf der Autobahn gilt auch hier striktes Rechtsfahrgebot. Viel Verkehr gibt es nicht. Ich wundere mich, welcher Stadtrat sich hier durchsetzen konnte. Eine unnötig breite Straße mit Allee und das alles brandneu. Da war wohl nicht nur Steuergeld im Spiel. Als ortsansässiger Bauer, der eine breite Straße für seine Traktoren möchte, ein paar Entscheidungsträger zu korrumpieren dürfte gerade in Tschechien nicht gerade zu den schwierigen Dingen zählen. Doch wir wollen den an uns vorbeifahrenden Landwirten nichts unterstellen. Vielleicht hatte auch die Europäische Union ihre Finger im Spiel. Sie werden gar nicht glauben, was die in Tschechien und im Übrigen auch in der Slowakei alles finanziert. Von der Wanderkarte über die Schulrenovierung bis hin zum Kino-Sessel. Als ich in Straßburg war und die Möglichkeit hatte, mit einer Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu sprechen, sagte mir diese, dass das Geld relativ knapp sei und man deshalb nicht alle Ziele erreichen könne. Mich dünkt, ich weiß nun, wohin das Geld verschwindet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Belohnt werden wir mit einer schönen, kurvigen Abfahrt. Schon bald sind wir auch wieder in unserem geliebten Olešnice. An der Bushaltestelle warten ein paar junge Leute. Könnten in meinem Alter sein. Was diese jedoch hierher verschlagen hat? Außer Wandern und Fahrradfahren kann man hier kaum etwas machen. Dem Gras beim Wachsen zuschauen vielleicht. Die Gruppe hat weder adäquate Wander- noch Fahrradbekleidung an. Ist man aus Olešnice erst einmal heraus, dauert es auch nicht mehr lange, bis man wieder in Rzy ist. Einmal links abgebogen, die Schotterpiste hinauf und schon sind wir da. „Schon“ ist gut, denn insgesamt hat die Fahrt fast acht Stunden gedauert. Mit Pausen, versteht sich. Die reine Fahrzeit dürfte lediglich um die vier Stunden betragen haben. Das wäre dann eine kombinierte Durchschnittsgeschwindigkeit von ungefähr 12 km/h. Könnte hinkommen. Nach dieser Tour sind wir alle richtig am Ende. Da kommt das Abendessen gerade recht. Doch wir sind erstaunlich früh dran, sodass ich noch duschen kann. Das tut gut. Anfangs kommt kein warmes Wasser, was jedoch auch nicht mehr ins Gewicht fällt. Nach der für Tschechien üblichen Wartezeit kommt dann endlich auch heißes Wasser. Für mehrere Minuten führe ich Wechselduschen durch. Bisher hatte ich noch nicht einmal Muskelkater bei der Tour, daher behalte ich diese Praxis bei.
Nach der erfrischenden Dusche ziehe ich mir neue Kleider an und gehe zum Abendessen. Besser könnte es nicht sein. Es gibt Hähnchenfleisch en masse sowie Spaghetti und Zigeunersoße. Ach nein, das darf man ja nicht mehr sagen. Es gab Sinti-und-Roma-Soße. Oh Herr, laß Hirn regnen und nimm den Bedürftigen die Regenschirme weg. Wenn ich das Wort „Zigeuner“ in diesem Kontext verwende, kann doch nicht von einem beabsichtigt pejorativen Beiklang ausgegangen werden. Sind Wiener Würstchen beleidigend?
Beim Hähnchen konnte man zwischen Schlegeln und Filet wählen. Keine ganzen Filets selbstverständlich. Wohl aber ganze Schlegel. Ich schöpfte mir reichlich. Meinen sportbedingten Eiweißbedarf zu decken, glich in den letzten Wochen einer Herkulesaufgabe. Ständig gab es nur Nudeln, Gemüse oder kalte Kost. Desaströs für mich. Nun konnte ich endlich wieder in die Vollen gehen. Die erste Portion war rasch verputzt. Weiter geht’s! Diesmal jedoch keine Nudeln. Nur noch Soße und weißes Fleisch. Das Hähnchenfleisch fiel quasi von alleine vom Knochen. Lediglich die ganzen Einzelteile störten. Mit der Anatomie des Gallus gallus domesticus’ habe ich mich zwar bisher nur immer beim Grillhähnchenessen beschäftigt, allerdings reicht diese Kenntnis aus, um zu merken, dass hier etwas nicht stimmt. Überall Bruchstücke von Knochen oder Knorpel. Ich weiß nicht, was dieses Huhn vor seinem Tod gemacht hat, ob es etwa durch die Mondtüre gestoßen wurde. Jedenfalls kaue ich nur vorsichtig, weil überall die dreisten Knochensplitter lauern. Wäre dem jetzt auch noch ein Streit mit meiner Ehefrau vorangegangen, hätte das durchaus lebensgefährlich werden können. Grüße an Sie, Herr Nachbar. Da Sie jetzt schon Blut geleckt haben, möchte ich ausführen, wie es weiterging. Damals hatte sich – nach besagtem Streit – eine Fischgräte in der Speiseröhre meines Nachbarn verfangen. Und wenn man die eigene Frau derart verärgert hat, bringt es einem auch nichts, dass sie Ärztin ist. Jedoch erbarmte sie sich und half ihrem Mann, die Fischgräte wieder loszuwerden, sodass es nicht zu einer Ösophagusperforation kam, wie ein Speiseröhrendurchbruch in der Fachsprache genannt wird. Es hatte also ein gutes Ende, zudem der Streit vielleicht nicht vergessen, wohl jedoch längst überwunden ist. Die beiden leben glücklich zusammen und sind die besten Nachbarn, die man sich vorstellen kann, wenngleich sie im Sommer derart oft und vernehmbar grillen, dass man sich wünscht, am selben Tisch zu sitzen.
Die Soße macht das Tranchieren keinesfalls leichter. Da schwimmt schon genug Zeug, wie soll man da noch zwischen Fleisch und Soßeninhalt unterscheiden? Ich habe ja Zeit. Peinlichst genau durchsuche ich das Essen, stark über den Teller geneigt, um am Ende nur noch Fleisch und Haut zu haben. Auf dem anderen Teller sammeln sich derweil die ungenießbaren Überreste, Knochen und Knorpel der Hühner. Vier Schlegel und zwei Brustfilets waren es immerhin. Genug Protein für heute. Der Magen trägt mir Trägheit auf. Wie an den Tagen zuvor, lege ich mich direkt ins Bett. Nur noch verdauen will der Körper. Ordnet Ruhe an. Eine halbe Stunde später wache ich auf, tippe gerade auf dem Telefon herum, als ich von meiner Vierergruppe vom Vortag zum Spielen eingeladen werde. Wieder das Spiel von gestern, bei welchem ich so famos abschnitt. An der Türschwelle werde ich dann aber wider Erwarten ausgebremst. Scheinbar benötigt man doch nur drei Spieler. Die erlösende Geste kommt. Ich kann zurück in mein Zimmer. Endlich kann ich mich mal ausruhen. Erst im Bette liegend, spüre ich alle zuvor ausgeblendeten Spuren, die der Tag hinterlassen hat. Eine wunde Nase und gleichzeitig ein übler Sonnenbrand. Bei einstelligen Temperaturen rechnet mit so etwas allerdings auch kaum einer. Also wieder raus aus dem warmen Bett und Gesicht eincremen. Eine der letzten Tätigkeiten an diesem Tag. Zähne putzen, Licht aus und der Tag endet. Früher als sonst, denn mein Körper muss sich erholen. Darf nicht, sondern muss, denn es wird weitergehen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Nun ist Fahrradfahren kein Spiel, aber dennoch gilt, dass man die Erholung nach der Anstrengung nur als Vorbereitung auf die nächste Herausforderung zu sehen hat.