Soweit die Füße tragen. Ein Lauf durch Stirling. Teil I
Teil I: Aufwärmung
Teil I: Aufwärmung
Hanni hat kein Geld, Hanni kann nicht verreisen. Und während die Tage weiterhin an meinem Verstand nagen, drücke ich soviel Erleben in die Zeit wie möglich. Dieses Wochenende ist es Stirling in Schottland, nordwestlich von Edinburgh, an der Grenze zwischen Low- und Highlands. Früher Hauptstadt des Landes mit einem ganzen Eimer voll Geschichte und Schauplatz des berühmtesten Siegs gegen die Engländer durch William Wallace. Chronologisch geht es schon etwas früher los, weil sich im Gewusel der letzten Wochen aktuelle Reisen, Organisation für zukünftige und lokale Veranstaltungen munter vermischten.
Mittwoch: Ausgleichende Gerechtigkeit
Mittwoch (27.07.) hat sich Paul gleich morgens wieder abgemeldet, um mit einer Migräne zurück ins Bett zu verschwinden. Nachdem ich mich den Vormittag über mit einem Sekundärjob auf Trab gehalten hatte, nahm ich den Nachmittag dann auch frei. Hab ja jetzt 24 Urlaubstage, die ich nicht zusammen nehmen kann. Wo ich nichts Sinnvolles hätte machen können, hab ich die Gelegenheit genutzt, zum letzten Abend des Tall Ships Race nach Newcastle zu fahren. Eigentlich hatte ich schon gedacht, keine Zeit mehr dafür zu finden. Bevor ich losfuhr erwirkte ich noch ein Wunder und ergatterte eins der letzten Jugendherbergs-Betten für das nächste Wochenende in Glasgow.
Ein schöner sonniger Abend war es auch, selbst wenn die Bahn in die Stadt der großen schwarzen Wolkenfront direkt entgegen fuhr. Newcastle war wirklich etwas auf den Kopf gestellt; mir wurde das erste Programmheft in die Hand gedrückt bevor ich den Bahnhof verlassen konnte, wo ich außerdem erfreulich billige Tickets nach Stirling erstand.
Der Weg runter zur Quayside ist mir ja immer noch nicht so wahnsinnig vertraut, aber diesmal musste man einfach nur dem Menschenstrom folgen. Da war dann auch die Tyne voll mit Schiffen, das BALTIC immer noch in rosa mit dem Riesenrad zwischen ihm und dem Sage. Das war alles abgesperrt und voller Menschen, die sich an den Kais entlang schoben. Ich hab mich etwas mit schieben lassen, vorbei vor allem an Segelyachten aus aller Herren Länder, mit etwas Eis in der Hand. Das war wirklich nett. (Unter anderem auch, weil ich weiß, dass das in den nächsten fünf Jahren kein anderer Freiwilliger erleben kann. Schlimm genug dass sie mir meinen Platz wegnehmen.)
Sinnfrage
Über die Millenium Bridge bin ich rüber zum BALTIC Gelände in Gateshead gegangen, wo man übrigens nur per hoffnungslos langer Schlange rein konnte; zu schade, von ihrer Aussichtsplattform hatte man bestimmt einen tollen Blick. Auf der Seite lagen die ersten etwas größeren Schiffe, vor allem ein historischer russischer Segler, von dem mir schon Paul erzählt hatte. Außerdem gab es den obligatorischen Markt von importierten Franzosen, die ihre überteuerten Delikatessen feilboten. Und natürlich hab auch ich mich dem Konsum ergeben und natürlich haben sie mein Französischgestotter schlichtweg ignoriert. Die winzige Salami für £2 ist aber wirklich gut. Ach und da war ein toller Bäckereistand... Und was steht da auf dem Schild? Thüringer Rossbratwurst? Oh, nein, die schon wieder. Wozu bin ich überhaupt ins Ausland gegangen?
Erkenntnis: Planarbeit funktioniert nicht
Wieder zurück auf der Newcastler Seite versuchte ich zu den wirklich großen Schiffen zu kommen, die näher an der Tyne Mündung festgemacht waren. Aber dann sah ich, wie sich eine träge Menschenmasse in dieselbe Richtung quälte und entschied, dass ich so scharf darauf dann doch nicht bin.
Außerdem hatte ich in der Zwischenzeit versucht, Hanni zu überreden, nächste Woche mit mir nach Glasgow zu kommen. Gerade, als ich es dann endlich geschafft hatte und in der Jugendherberge nach einem zusätzlichen Bett fragte, waren die natürlich ausgebucht. Das hat mir dann keine Ruhe lassen und ich bin wieder nach Hause, um den ganzen Abend damit zu verbringen, Jugendherbergen anzurufen und Ticketspreise zu vergleichen. Am Ende hab ich Glasgow um eine Woche verschoben und muss jetzt für das nun frei gewordene Wochenende auf mein Improvisationstalent bauen. Soviel zu den gemachten Plänen.
Am Donnerstag war ich dann wirklich froh, mir das Volksfest angesehen zu haben. Nicht nur, weil es da bereits vorbei war, sondern vor allem weil es der Beginn eines tagelangen Regens war. Und wir auf der Farm hatten keine andere Wahl als draußen zu bleiben, um den Hof auf ein Treffen nächsten Mittwoch (3.8.) vorzubereiten, zu dem wir als Fallbeispiel herhalten sollen. Ja wir haben auch gut gelacht. Eine Menge zu tun, zu putzen und zu übermalen. Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen, abends Richtung Newcastle zu verschwinden, wo am nächsten Tag wieder Gibside angesagt war.
Freitag: Hundewetter
Aber bekanntlich habe ich mein Gewissen sehr gut unter Kontrolle und so freute ich mich viel mehr auf die Reise nach Stirling. Selbst wenn es im morgendlichen Nieselschleier gleiche einige Stimmungsdämpfer gab, etwa, dass Hanni sich doch vom Glasgow-Plan verabschiedete und ich dort noch einmal anrufen musste, um für sie abzusagen.
Gibside war eine unspektakuläre Angelegenheit mit kaum jemandem anwesend und wenig Arbeit. Meine Stiefel waren schon nass bevor ich ankam. Ich war nur froh, diesmal den Regenmantel mitgebracht zu haben, denn den Vormittag über stand ich mit Steve Nicholson vor dem fast fertig renovierten Stall, dessen Innenhof von Regenwasser geflutet war, und buddelte mit ihm ein Abflusssystem. Dabei haben wir ein kleines Loch in die ursprüngliche Drainage gebrochen, so hatte ich wenigstens etwas Spaß bei dem Zerstören von Dingen. Also zumindest vermuten wir, dass das die ursprüngliche Drainage war, so ganz sicher sind wir uns nicht, wo wir da ein Loch rein geschlagen haben.
Zu Mittag gab es ein geschenktes Käsebrot und einen Schwank aus der halblegalen Vergangenheit. Und nachdem am Nachmittag irgendwie alle verschwanden, hab ich mich auch abgemeldet.
Wer zu spät kommt...
Man vergebe mir, dass ich über solche Details schreibe. Aber unter anderem wird dieses Tagebuch ja auch von meiner Nachfolgerin gelesen, und der möchte ich ab und zu einen Einblick in unseren Alltag geben.
Daher auch eine kleine Erfahrung aus Newcastle, wo ich in der Stunde Wartezeit ein neues Café ausprobierte. Das ist direkt an der Dean Street und sieht von außen ziemlich exklusiv aus. Nennt sich „Mark Toney“ und verkauft wohl vor allem Eis. Naja, nicht an diesem Tag. Innen ist es das absolute Gegenteil seiner stilvollen Einrichtung, in der alles glänzt. Zum einen ist sowohl Kundschaft als auch Bedienung extrem... normal. Die Musik ist einfach nur grausam. Dafür ist es überraschenderweise relativ billig und bis achtzehn Uhr kriegt man den Kuchen sogar umsonst, wenn man Kaffee bestellt. Tja, ich war natürlich drei Minuten zu spät da.
Interkontinentalproleten
Mein Zug ging viertel vor sieben und ich machte mir wirkliche Sorgen um das Wetter. Wenn es bei uns schon durchgehend gießt, wie wird es da bloß in Schottland sein? Aber, ob man es glaubt oder nicht, der Wetterbericht in der geborgten Zeitung sagte, ich hätte England genau zur richtigen Zeit Richtung Norden verlassen. Ich hatte ziemlich nette Reisegenossen. Ein junger RAF-Flieger hat sehr lustige Geschichten aus der Luftwaffe erzählt. Der war übrigens zufällig aus der gleichen Staffel wie diese Helikopterpilotin von meinem Working Holiday, Penny. Aber das nur am Rand.
Gegen acht war ich mal wieder auf Edinburgh Waverley, wenn auch bloß zum Umsteigen, und dann halb zehn in Stirling. Nach einer dreiviertel Stunde eingekeilt zwischen amerikanischen Touristen. Ich gebe zu, vermutlich hat das populäre Vorurteil doch auf mich abgefärbt. Wahrscheinlich könnte man mit dem Akzent das Telefonbuch vorlesen und es würde mir auf den Geist gehen. Gut, immerhin gucken sie sich Europa überhaupt an, aber wirklich, so wenig Ahnung...
Geschichte wiederholt sich
Mein Hostel war nahe dem Schloss auf dem Hügel in einer ehemaligen Kirche untergebracht. Ich glaub, so schick hab ich noch nie gewohnt. Meine vier Zimmergenossen haben zwar alle schon geschlafen, aber ich hab meine Sachen nur abgestellt und bin noch mal raus.
Zuerst in einen Pub mit Internetanschluss, um zu sehen ob Trine geantwortet hat. Die wohnt in einem Projekt nahe Stirling und ich dachte, die könnte mir einige Tipps zur Stadt geben oder gar eine kleine Führung geben. Hat nicht geklappt, weil sie gerade an dem Wochenende nach Edinburgh unterwegs war, aber den Versuch war’s wert. Fast hatte ich damit gerechnet, dass die Türsteher mich in meiner fleckigen, billigen Arbeitskleidung nicht einlassen, aber dann haben sie mir nur die Tür aufgehalten.
Auf dem Weg zurück bin ich noch im Dunkeln auf den Schlosshügel gelaufen, um die Stadt und die Landschaft einmal nachts von oben zu sehen. Hat sich wirklich gelohnt; Stirling ist ja wie gesagt zwischen Hoch- und Flachland gelegen, sodass man nach Süden meilenweit in die Ebene und nach Norden auf die ersten Berge sehen kann. Ich lief über den Friedhof hoch zur Burg. Plötzlich tauchen zwei Gestalten mit Taschenlampen auf, blenden mich und fragen wer ich bin...
Plädoyer für die Wiedereinführung der Lynchjustiz
Nein, ich konnte den Polizisten wieder nicht bei ihrer Suche helfen. Wieder im Hotel hab ich mich dann wenigstens bemüht, die Störung so gering wie möglich zu halten. Ich frag jemanden im Dunkeln, ob ich das kleine Licht anmachen darf, der nörgelt mir entgegen „Hier schlafen Leute!“. Nein wirklich?! Ich frag auch völlig ohne Grund, obwohl ich denke, ich bin ohnehin allein. Dreimal dürft ihr raten, wo dieser Experte herkam. Bloß das kleine Licht angemacht; nur eine Dusche, die brauchte ich nach dem Arbeitstag doch. Dann ging es direkt ins Bett. Augen zu.
Bis auf einmal jemand ins Zimmer kommt. Das große Licht geht an. Rumms! Ein Koffer kracht auf den Boden. Raschel. Schepper. SUUURRRRRR! Es ist eine Stunde vor Mitternacht, alle schlafen und eine elektrische Zahnbürste wird angeschmissen. Der Wasserhahn läuft. Und läuft und läuft und wird nicht still. Eine halbe Stunde steht der Mensch da rum und pflegt seine Zähne. Purer, ungetrübter Hass. Dann wird es wieder dunkel, er steigt in sein Bett. Und fängt an zu Schnarchen. Ich schwöre, es ging nach drei Sekunden los.
In der Nacht hab ich keine drei Stunden geschlafen. Meine Zimmerkollegen murmeln die bösesten Schimpfwörter, aber Egoisten schlafen bekanntlich fest und gut. Natürlich steht er auch als erster auf und weckt jeden mitten in der Nacht. Wir alle waren froh, als er die nächste Nacht nicht mehr erschien.