Soroca
Über kein anderes Volk gibt es so viele Vorurteile wie über die Sinti und Roma. Lockenjule beschließt, sich ein eigenes Bild zu machen. Zusammen mit Freunden besucht sie Soroca, die Hauptstadt der Roma.
"Zigeuner klauen wie die Raben, betteln um Geld und verkaufen ihre Töchter auf dem Markt. Die Männer sind Pferdekenner, die besten Schummler beim Kartenspiel, schlagen ihre Frauen und lassen die Kinder für sich arbeiten. Die Frauen sind den Männern trotz jedes Gewaltaktes treu, schlagen dafür die Kinder und lügen dir für ein paar Münzen das Blaue vom Himmel herunter, wenn du ihnen deine rechte Hand zur Wahrsagung zu Verfügung stellst. Für Geld und zur Schaustellung des eigenen Reichtums würden Zigeuner alles tun."
- Kein anderes Volk hat einen so schlechten Ruf wie die Roma. Und trotzdem, trotz aller Verfolgungen, Vorurteile und Märchen gibt es sie immer noch, insbesondere in Osteuropa. So auch in Moldawien. Da uns schon bei der Romashow am Wochenende zuvor aufgefallen war, dass die Damen und Herren nicht durch und durch schlecht sein können, beschlossen wir (Rosi, Katharina (eine deutsche Freiwillige), Ingrid (eine belgische Freiwillige) und ich) unser verschwommenes Bild von den Roma ein wenig zu schärfen und einen Tagesausflug zur Romahauptstadt des Landes zu machen - nach Soroca. Dort, so sagte man uns lebe und residiere der König der Roma, ihr Baron. Und den wollte ich schon immer gern mal kennen lernen.
Letzten Sonntag (6.12.) morgens um acht trafen wir uns also an der Bushaltestelle für Fernreisen ins In- und Ausland. Nachdem Rosi und ich noch schnell eine Frühstückchen besorget hatten (bestehend aus zwei Quarkschnecken, zwei Muffins und vier Bier) ging’s auch schon in den Bus Richtung Soroca. Nun, "Bus" ist eigentlich eine übertriebene Bezeichnung, es war eigentlich nur einer dieser Minibusse (Vans), die auch innerhalb von Chisinau fahren. Die drei Stunden Fahrt vergingen wie im Flug, denn neben den kurzen Wachphasen, in denen wir uns schnell den Muffin reinschoben, schliefen wir die ganze Zeit wie die Babies. Das lag nicht nur an der unchristlichen Uhrzeit, sondern auch am Bus an sich: Er ruckelte über die schlecht befestigten Straßen mit ca. 70 km/h und schaukelte uns so wie ein Baby im Kinderwagen, eingelullt von russischen Liebesliedern und eingekuschelt in dicke Pullover, Schal und Kapuze. Draußen klatschte Nieselregen an die Fensterscheiben, drinnen wärmten uns Heizung und Sitznachbar.
In Soroca angekommen regnete es leider immer noch. Aber wir ließen uns vom schlechten Wetter die Erkundungslaune nicht nehmen, zischten unser erstes Bier und stapften los. Mehr auf gut Glück als mit Verstand, da die Bushaltestelle außerhalb des eigentlichen Ortes lag und der einzige Reiseführer, den wir mithatten, nicht wirklich viel über Soroca und seine Lage zu berichten wusste. So entschieden wir uns, zunächst zu einem auf einem naheliegenden Berg stehende Denkmal zu laufen, um von oben unsere Lage einzuschätzen und so den Weg zur Stadt zu finden. Die Treppen hinauf waren glitschig und beschwerlich, aber der Ausblick, der sich uns dann über Land bot, entschädigte dies. Das wie ein winziger Turm aussehende Denkmal stellte sich als noch winzigere Kirche im Inneren heraus. Hineingelassen wurden wir von einem netten älteren Herrn, dessen einzige Aufgabe es war den ganzen Tag vorm Denkmal zu hocken und darauf aufzupassen. Er erklärte uns die orthodoxen Heiligenbildchen und erzählte über Stefan cel Mare, den Helden des Landes. Alles auf Russisch, versteht sich, und ich habe sogar einiges verstanden.
Nach der Erkundung des Denkmals entschlossen wir uns wiederum auf gut Glück, den einzigen davon abgehenden Weg über die Berge (naja, eher große Hügel) zu nehmen, der rein theoretisch in Richtung Stadt führen sollte. Einen besseren Weg hätten wir nicht wählen können, wie uns im Nachhinein auffiel. Der Weg entwickelte sich nämlich zur Hauptstraße von Sorroca, welche sich durch die gesamte Stadt mit all ihren Gesichtern zog. Zuerst liefen wir, noch in den Höhen gelegen, durch einen Teil, der eher aussah wie ein riesiges Dorf.
Typisch moldawische Dorfhäuschen, blau oder grün, viereckig und mit grauem Spitzdach, mit Hühnern und Wäsche im Garten und blau umzäunt. Eine ziemlich lange Zeit erstreckte sich die Stadt so, bis auf einmal erste Blickfänge erschienen. Dorfbrunnen nicht mit Holzdach, sondern mit silbernem und verschnörkeltem Dach. Ebenso silbern verzierte Hauseingänge; immer aufwändiger gearbeitete Zäune, immer öfter größere, neu verputzte Häuser. Das Bild begann sich zu wandeln; man merkte, dass im nächsten Stadtteil nicht mehr die ‚normale‘ moldawische Bevölkerung wohnte.
Dann machte die Straße eine Kurve in Richtung Tal, und mit der Kurve änderte sich das Stadtbild völlig: Große bis riesige, teilweise palast- ähnliche Häuser, aber alle noch nicht fertig gebaut oder als Bauruine wegen Geldmangel hinterlassen. Ca. 500 m säumten diese etwas gruselig wirkenden Rohbauten die Straße, bis endlich die ersten fertigen Villen erschienen. In einer Ausgestaltung, in einer Architektur wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe und sie auch kaum zu beschreiben ist. Nur einige Beschreibungen treffen auf all die generell vollkommen verschieden aussehenden Häuser zu: groß, prunkvoll, oft verziert, oft mit silbernem Dach. Ich hätte jedes einzelne Haus fotografieren wollen.
So liefen wir staunend bergab durch die Stadt, nebenbei beständig auf der Suche nach der Residenz des Barons, die man sich angeblich auch von innen anschauen konnte. Eine andere Freiwillige, die bereits dort gewesen war, erzählte uns, dass in jede Stufe seines Hauses Dollarscheine eingelassen worden waren, zum Zeichen seines Reichtums. Allerdings war es sehr schwer zu erkennen, wussten wir doch nicht, wie es aussah und hätte doch jedes Haus hier sein Palast sein können. Gleich vorweg - wir haben es als solches nicht finden können, auch wenn wir durch nachträgliche Internetrecherche herausfanden, dass wir zweimal davor gestandenen hatten.
Dafür eröffnete uns die Suche danach aber neue Erkenntnisse über die Roma. Leider nicht wirklich positive. Als erstes fragten wir eine ältere Frau nach dem Haus des Königs. Sie hingegen antwortete mit der Frage, woher wir kämen. Da ich als einzige Russischlernende ihre Frage verstand und beantworten konnte, wurde mir dann auch gleich die Hochzeit mit einem ihrer beiden Söhne angeboten. Als ich nach mehrmaliger Wiederholung endlich verstand, was sie von mir wollte, und dankend ablehnte, bat sie darum, wenigstens eine Spende von uns zu bekommen, weil sie so arm und alt sei. Wiederum lehnten wir ab und beschlossen, uns möglichst schnell von der Dame zu entfernen.
Um keine Zeit mit unnötigem Suchen zu verschwenden, setzten wir unseren Marsch durch die Stadt erst einmal ohne den Besuch des Barons fort und liefen hinunter ins Tal, wo uns dann der Teil anlächelte, der mit so freundlich, liebevoll und aufwendig gestalteten, alten sowjetischen Hochhäusern bestückt war. An ihnen vorbei fließt ein Fluss, an dessen Ufer eine uralte Burg liegt, welche wir dann noch besuchten. In der Burg war alles rund: Die Burg selbst war in Kreisform, die Türme waren rund, die Räume ebenso. Wieder etwas völlig anderes in dieser vielseitigen Stadt.
In der Burg erfuhren wir dann auch von der dortigen Pförtnerin, wie wir zum Haus des Barons, der sich übrigens Arthur nennt, gelangen könnten. Sie zeichnete uns den Weg sogar auf und rief einen jungen, ebenso wie wir Besucher der Burg zu sich, für uns ins englische zu übersetzen. Mit der Beschreibung in der Hand verließen wir also das Burggelände und folgten dem Weg der Karte. Verwunderlicher Weise führte uns der Weg immer weiter weg vom Romaviertel, hin zu alten Hochhäusern. Nach einer halben Stunde Suche (nebst exaktem Halten an die gemalte Karte, deren Anhaltspunkte wir auch alle auf dem Weg gefunden hatten), fragten wir dann entnervt einen Anwohner, der uns grinsend erklärte, dass das Haus des Barons oben auf dem Berg im Romaviertel läge. Die Dame aus der Burg hatte also alles genau in falscher Richtung gemalt… und trotzdem hatten wir alle Punkte auch in der falschen Richtung gefunden. Zum Glück gibt es auch in Sorroca Minibusse, mit denen wir zumindest ein Stück wieder zurück und bergauf fuhren.
Dann ging die Suche von neuem los. Wir fanden immer neue Straßen mit prunkvollen Häusern; fragten nochmals eine ältere Dame, die dann gleich wieder unsere Telefonnummern haben wollte, um ein Treffen zum Hochzeitsarrangement mit ihren Söhnen auszumachen… und nach dankender Ablehnung zumindest ein paar Scheine sehen wollte. Schließlich starteten wir unseren letzten Versuch bei zwei älteren Herren, die uns dann nach mehrmaligem Hinweisen auf "Baron niet doma" (Der Baron ist nicht Zuhause) in eine Straße wiesen, die sich in nachträglicher Recherche als die richtige Erwies.
Als wir von allen dort als Residenz in Frage kommenden Palästen Fotos gemacht hatten und zurück kamen, saß einer der Männer immer noch da und… natürlich, bat um Geld für seine Auskunft. Auch diesmal lehnten wir ab und verschwanden schnellstmöglich in Richtung Tal. Dort machten wir uns dann auf den Weg zurück zur Bushaltestelle. Dabei kamen wir noch durch einen kleinen Teil der Stadt, der wiederum vollkommen anders aussah und sehr der Altstadt von Chisinau ähnelte. Einstöckige hübsche Häuser direkt an den Fußgängerweg gebaut, eines direkt ans andere, in hellen Pastelltönen und klassizistischer Verzierung. Auch davon noch schnell eins, zwei Fotos gemacht, erreichten wir dann die Bushaltestelle und unseren Minibus zurück nach Chisinau.
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