Shake that ХЪЛМ! Balkanfestival bringt Hügel zum Beben
Shake that ХЪЛМ ist ein dreitägiges Umsonst-und-Draußen Festival im Rahmen des Warm Up Programms für die Kulturhauptstadt 2019 - "Plovdiv together". Das Festival bietet ein umfassendes Programm an aktuellen Musikern der Balkanszene und lockt somit über 5000 Besucher an.
Plovdiv wurde als es 4000 v. Chr. Gegründet wurde auf sieben Hügeln erbaut. Diese sieben Hügel finden sich auch auf dem Wappen der Stadt – wer die sieben Hügel jedoch auf der Karte sucht, der sucht vergeblich. Im Moment sind es noch vier, alle anderen Hügel wurden dem Erdboden gleich gemacht. Der Nachteil der Hügel: jeden Tag fühlt man sich gezwungen bei sengender Hitze hochzuklettern um die Aussicht auf der Spitze zu genießen.
Der höchste aller Hügel ist der Младежки хълм (sprich: mladeschki chalm), der etwa 10 Minuten Busfahrt vom Stadtzentrum entfernt liegt. Dort findet das „Shake that ХЪЛМ!“ Festival statt, welches ein buntes Line-Up der gegenwärtigen Balkanmusikszene bietet und über 5000 Besucher an 3 Tagen anzieht. Als ich ankomme sitzen schon einige hundert Leute auf der Wiese am Fuße der steilen Felsen. Eine Hüpfburg, bunte Fähnchen und eine Bar mit bunter Lichterkette schmücken das Gelände, alte Kartoffelsäcke dienen als beliebte Sitzgelegenheit. Mit der für Bulgarien typischen Verspätung von 2 Stunden beginnt der erste Act zu spielen.
DJ Balkansky eröffnet das massive Soundsystem, an Subwoofern hat man glücklicherweise nicht gespart. Er spielt vor allem Dubstep, mal treibende, mal vertackte Beats. Nicht umsonst nennt sich der DJ „Balkansky“: immer wieder ertönen Sounds aus traditioneller Balkanmusik in seinem Set, welche seinen Stil so einzigartig macht. Doch sein Set ist auch sehr düster, seine Basslines wirken sehr bedrückend. Ich bin mir nicht sicher ob der DJ eine Mitverantwortung daran trägt, dass ich etwas Bauchweh bekomme. Meiner Meinung nach wäre sein Set um 3 Uhr nachts besser aufgehoben gewesen, wenn jeder – ob mit oder ohne entsprechende Substanzen – seinen Weg in die Ekstase gefunden hat. Um 21 Uhr jedenfalls bringt sein Set nicht die Massen in Bewegung, mit einem Sicherheitsabstand von ca. 15 Metern versammeln sich vereinzelte Tänzer, nur eine Gruppe herumtollender Kinder springt begeistert vor den Boxentürmen herum. Als ein etwa fünfjähriger kleiner Raver mit Stirnlampe an mir vorbeistapft muss ich grinsen. Man scheint hier früh zu lernen.
Ich vermute bereits, dass auch an diesem Abend die Hemmungen der Bulgaren zu groß sind um eine große tanzende Masse zu bilden – ein großer Irrtum. Als der DJ fertig ist beginnt die traditionelle Balkanband Оратница (sprich: Oratniza), sie besteht aus 5 Mitgliedern: ein Sänger, ein Flötist, ein Trommler, ein Didgeridoospieler und ein DJ. Kaum haben sie ihr Gig begonnen versammeln sich große Massen um die Bühne. Das Didgeridoo lässt sich ähnlich einer Posaune in der Länge variieren und erweist sich als gute Quelle für eine massive Bassline. Der Flötenspieler bringt eine quirlige, schnelle Melodie zum Besten. Als der Sänger zu singen beginnt recken hundert Bulgaren um mich herum ihre Hände in die Luft, singen den Text mit und springen wild durch die Gegend. Ich bemerke, dass mein Mund offen steht und schließe ihn. Ich bin überrascht, über das junge Alter des Publikums. Auf dem Konzert einer bayerischen Volksmusikgruppe würde man wohl kaum jemand unter 20 erblicken. Oder Joints. Die musikalischen Fähigkeiten der Band sind beeindruckend: die Didgeridoomelodien sind sehr komplex und fesselnd. Der Flötenspieler beginnt plötzlich in Rekordtempo zu rappen und setzt kurz danach seine Flöte an um eine Melodie voller sechzehntel Noten zu spielen – muss dieser Mann eigentlich nie Luft holen?! 3 Jungs, die ich vorhin noch beim shuffeln beobachtet habe formen jetzt Herzen mit ihren Händen die sie in die Luft strecken. Wenig später stürmt ein begeisterter Typ die Bühne um den Sänger zu umarmen. Dieser erwidert die Umarmung. Security gibt es auf diesem Festival nicht, brauch aber auch keiner. Nach den ersten 3 Songs komme ich auch endlich in den Groove, vergesse meine sonst so komplizierten Schrittfolgen beim Tanzen und springe munter Auf und Ab. Beim letzten Song fordert der Sänger das Publikum auf, den bulgarischen Volkstanz zu performen. Es bildet sich eine riesige Menschenkette, soweit das Auge reicht erblicke ich Tänzer, die sich Hand in Hand kreisförmig auf der Wiese bewegen. Mit diesem Auftritt kann sich keiner der folgenden Acts messen.
Der nächste Tag steht vor allem im Zeichen von Workshops. Das Angebot ist reichhaltig, es dreht sich vor allem um Kunst und Sport. Im kühlen Schatten der vereinzelten Bäume kann man in einer Hängematte entspannen oder Malen. Bunte Textildrucke an einer Wäscheleine schmücken das Gelände. Wer gegen die drückende Hitze und die brennende Sonne resistent ist balanciert auf der Slackline, macht „Fly-Yoga“ oder nimmt am Sportprogramm teil, für das meine EVS Organisation BG Be Active zuständig ist. Frisbees und Federbälle fliegen durch die Luft, Schlachten mit Luftballons, die mit Wasser gefüllt sind bereiten eine beliebte Erfrischung. Wir stehen in einem Kreis und spielen zusammen mit einem Fußball, wer zufällig vorbeikommt bleibt stehen und steigt ein. Die Gruppe besteht aus Teilnehmern aus allen Altersgruppen und Fitnesslevels. Ein kleine Junge spricht mit mir auf Bulgarisch, da ich kein Wort verstehe grinse ich nur und sage immer wieder „да“ (=ja). Das scheint ihn wahnsinnig zu machen und ich habe meinen Spaß. Völlig am Ende verlasse ich das Festival an diesem Tag früh, inklusive Sonnenstich.
Am nächsten Tag kann ich mich gerade noch aufrappeln um die serbische Band „Fluid Underground“ zu sehen. Ein Haufen kleiner Kinder springt begeistert einer Drohne hinterher, welche durch die Luft fliegt um Videos zu machen. Auch tänzerisch gesehen sind die Kleinen heute wieder top und bekommen dafür ein Dankeschön des Sängers der Band. Musikalisch gesehen liegt der Fokus heute auf Rock, „Fluid Underground“ bauen jedoch immer wieder kleine Breaks ein, in denen sie mit ruhigen, psychedelischen Melodien Spannung aufbauen, die dann im fulminanten Drop endet.
Einen kleinen „Aftermovie“ gibt es auch. https://vimeo.com/138716328
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