Rache ist süß
Kulinarische Konfrontation
Am zweiten Tag unseres “Sommercamps” war meine Gruppe mit dem Kochen dran. Durch eine undemokratische Entscheidung hatte sich mein Vorschlag durchgesetzt. Da wir die Zutaten selbst mitnehmen mussten, musste ich von vorherigen Überlegungen, welche gewisse Schwierigkeiten mit sich gebracht hätten, absehen. Fleisch ging schon mal gar nicht, obwohl wir nur eine Vegetarierin unter uns hatten, Maultaschen – als typisch deutsches Gericht – ebenso wenig. Bei den Nährwerten unseres Essens war sowieso schon Hopfen und Malz verloren, wenn es gut haltbar und transportabel sein sollte. Außer dem sättigenden Aspekt und einem Mindestanspruch an Geschmack war dann nicht mehr vieles von Bedeutung. Aus diesem Grund hatten wir beschlossen, ein einfaches Gericht zu kochen. Nudeln mit Béchamelsauce. Etwa so anspruchsvoll wie Wasser abzukochen, daher perfekt für unser gemeinsames Kochen. Weil wir in Tschechien sind – und viel wichtiger: weil ich es mag – hatte ich entschieden, Pilze als Beilage zu servieren. Besonders schwierig war das Gericht dadurch trotzdem noch nicht.
Pünktlich fingen wir an, sodass das Essen rechtzeitig serviert werden kann. Bei den ganzen Mengenangaben kam ich mir vor wie in einem Mastbetrieb. Bei den Pilzen kam es zur ersten Meinungsverschiedenheit. Die Mädchen meinten: „Ja, die Pilze waschen wir einfach kurz unter dem Wasser ab.” „Nein, Pilze darf man nicht waschen, denn sonst saugen sie das Wasser auf wie ein Schwamm.” Nachdem diese Sache geklärt war, konnte es weitergehen. Ich nahm einen großen Nudeltopf und füllte ihn mit Wasser. Die Mädchen äußerten Bedenken bezüglich der Wassermenge. Ich erklärte ihnen das sogenannte Eier-Paradoxon, was sie nicht verstehen wollten. Meine Güte, man muss doch nicht Archimedes heißen, um das Prinzip der Wasserverdrängung zu verstehen. Gut, dass ich die Karriere als Koch verworfen habe, das hätte zu viel Stress bedeutet. Während das Wasser von einer der noch funktionierenden Gasflammen auf Temperatur gebracht wurde, bereitete ich schon einmal die Béchamelsauce vor. Mit der Butter fing es an. Hier hatten wir zur hochwertigen Tatra-Butter gegriffen. Zum einen, weil die Verpackung so schön gestaltet war, ich es nur zum Teil selbst zahlen musste und zum anderen, weil in Tschechien unzählige seltsame Mischbuttersorten zu finden sind. Allerdings ist nicht illustriert, um was es sich handelt. Ob man später einen Butter-Margarine-, Butter-Schmalz- oder Butter-Kokosfett-Hybriden hat, kann man also nicht vorher wissen. Statt die Katze im Sack zu kaufen, kaufte ich stets immer nur pure Butter. Die aus Polen ist noch besser. Dort bekommt man gleich einen 500-Gramm-Barren. Angesichts der Menge unserer Zutaten ein durchaus sinnvoller Gedanke. Allerdings muss man die Kirche auch mal im Dorf lassen. Extra nach Polen zu fahren wegen einem Stück Butter? In der Soße geht der Geschmack sowieso unter, da hätte sich dieser Schritt nicht gelohnt. Mit der Butter begann jetzt die Soße. Bis man ein Pfund Butter aufgelöst hat, vergehen einige Minuten. Ich begutachtete schon einmal das Mehl. Während wir alle anderen Zutaten selbst eingekauft hatten (Nudeln, Butter, Pilze, Pfeffer, Muskatnuss), vertrauten wir beim Mehl auf die Reste, die noch von den vorherigen Freiwilligen in der Wohnung waren. Ich stand der Idee von Anfang an kritisch gegenüber. Mehl ist ein Pfennigartikel, das wäre also auch nicht mehr ins Gewicht gefallen. Komische Konsistenz. Pulvrig mit Klumpen, die sich sich zwischen den Fingern zerrieben ließen. Zudem so weiß. Sicher, dass das kein Kokain war? Was auch immer für Bleichmittel hier im Einsatz waren, nach Mehl sah das nicht aus. Aber wo Mehl draufsteht, muss auch Mehl drin sein.
Nachdem sich die Butter vollständig verflüssigt hatte, nahm ich den riesenhaften Rührbesen zur Hand – hier waren wohl Pimpernell und Lukulla mit der Zauberpaste am Werk – und gab das Mehl vorsichtig dazu. Es war nicht das erste Mal, dass ich diese Soße zubereitete. Zwar kam ich mir ein wenig wie in der Hexenküche in Goethes Faust vor, allerdings war diese Soße mitnichten ein Hexenwerk.
Als ich das Pfund Mehl im Topf hatte, begann ich mit „ständigem Rühren”, wie man das in einschlägigen Kochrezepten findet. Doch nanu, was ist denn das? Da tut sich ja gar nichts! Ein großes Fragezeichen bildete sich in meinem Kopf. Hatte ich die Mengen falsch kalkuliert? Mathematik war noch nie meine Stärke. Nein, unmöglich, ich hatte es oft genug überprüft. Vielleicht lag es am Mahlgrad des Mehls. In der Galenik macht man sich die Gesetzmäßigkeit zunutze, dass die Auflösungsgeschwindigkeit einer Substanz proportional zur Teilchenoberfläche ist. Das geht aus der Noyes-Whitney-Gleichung hervor. Die Teilchenoberfläche hängt wiederum von der Partikelgröße ab. Je feiner Sie das Mehl mahlen, desto kleiner werden die Partikel und desto größer wird die Oberfläche. Da das Mehl pulvrig war, mutmaßte ich, dass es wohl damit zusammenhängen könnte.
Das Ergebnis wurde dadurch aber kaum zufriedenstellender. In unschlauer Voraussicht hatten wir nur das Nötigste mitgenommen. Somit war kein Mehl mehr da. Man musste die Butter-Mehl-Mischung irgendwie binden. Auf dem Küchentisch stand noch ein verschlossenes Päckchen Weizenmehl. Wie gemacht, um es selbst zu verwenden, wenngleich es nicht unseres war. Eine Unterschlagung begehen oder zwanzig Leuten das Essen ruinieren?
Nicht lange wurde gezögert und die Mehlpackung war sogleich geöffnet. Erst mal eine Prise. Es tat sich nichts. Immer noch der gleiche flüssige Brei. Also weiter. Und weiter und weiter, bis die halbe Packung leer war. „Von den Mengen her kann das jetzt gar nicht mehr sein.”, sagte ich den Mädchen. „Ach, das wird schon passen.” Langsam bildete sich die gewünschte Konsistenz aus. Doch die Mischung bekam verdächtig schnell Farbe. Ich wollte doch eine milde roux blond kochen! Also schnell rein mit der Milch. Karton um Karton rein in den Topf und immer feste rühren. Als nach weiteren Minuten des Rührens endlich eine homogene Soße entstanden war, konnte ich den Rührbesen endlich aus der Hand geben. Jetzt noch fünfzehn Minuten köcheln lassen, abschmecken und fertig. Nach einer Weile nahm ich mir einen Löffel, um festzustellen, wie lange die Soße noch köcheln muss. Anhand der “Mehligkeit” des Geschmacks kann man das recht schnell ableiten.
Also, erst ein bisschen umrühren und einen halben Löffel Suppe aufladen. Kurz abkühlen lassen und probieren.
„Die ist ja süß!”
Ein markerschütternder Ausspruch.
„Wie, die Soße ist süß?”
„Na probiert mal! Die ist so süß wie Sirup. Was war denn das bitteschön für ein Mehl?”
„Vielleicht eine besondere Sorte.”
„Was denn für eine Sorte? Eine, für die statt Weizenkörnern Zuckerkörner gemahlen wurden oder was? So etwas können wir doch nicht bringen, das schmeckt garstig!”
Ich hätte einen zweiten Versuch angefangen, doch wir hatten keine Butter und Zeit mehr. Augen zu und durch. Das war das Gebot der Stunde. Wenigstens waren die Pilze und die Nudeln in Ordnung. Apathisch stand ich in der Küche. In zehn Minuten würden wir das Essen servieren. Ich konnte es nicht fassen. Das war der größte kulinarische Misserfolg seit meinem Versuch, Lasagne zuzubereiten. Ein Versuch, der größtenteils im Müll landete. Wie gern hätte ich mit der Béchamelsauce das gleiche gemacht. So etwas konnte man einfach keinem guten Gewissens auftischen. Das war eine Katastrophe. Mit etwas Pfeffer, Muskat und Salz versuchte ich zu retten, was noch zu retten war. Wenigstens ein bisschen die abscheuliche Soßensüße überdecken. Nicht einmal den halben Löffel, der zum Probieren gedacht war, konnte ich vollständig verspeisen, so schlimm war es. Ich übertreibe nicht, wenn ich Sirup sage. Es war wirklich so süß. Das konnte doch unmöglich am Mehl liegen.
Als wir die Soße in die Schüsseln umgefüllt hatten, sah ich den Boden des Topfes, in welchem wir die Soße gekocht hatten. Er war rabenschwarz mit kleinen Plättchen, wie sie ein Reptil hat, mit Facetten wie bei einem Insektenauge. Wie Schuppen eines Fisches.
Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Alles fügte sich plötzlich ein, ergab einen Sinn. Das weiße Pulver, das wir verwendet hatten, war kein Mehl, es war zum Kuckuck nochmal Puderzucker!
Natürlich! Wie konnte ich das so lange nur übersehen? Es war doch so offensichtlich. Butter und Zucker, das konnte doch nicht funktionieren! Darum wurde die Masse so schnell braun, der Zucker karamellisierte. Darum entfaltete sich dieser unpassende Duft und darum brannte uns auch die Soße ein. Wir hatten Puderzucker und Mehl verwechselt. Wie armselig ist das? Nun wusste ich, woran es lag. Doch das änderte nichts an der Misere. An diesem Tag waren zudem drei Gäste anwesend, die ebenfalls am Abendessen teilnahmen. Nur an einem Tag, an einem Abend würden sie anwesend sein – an unserem.
Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Das war der peinlichste Moment seit langem. Still setzte ich mich an den Esstisch, in meinem Kopf immer sagen wollend: „Bitte nehmt nichts von der Soße, sie ist uns gehörig misslungen.”. Mein Sitznachbar bemerkte meine Verzweiflung. Ich berichtete ihm leise, was geschehen war. Er lachte, nahm es gelassen. Für mich war es eine Blamage. Der erste und vermutlich letzte Eindruck meiner “Kochkunst”. Ein singuläres Ereignis in allerlei Hinsicht. Das erste Mal in einer völlig fremden Küche kochen. Mit neuen Leuten, mit denen man noch nie zuvor geprobt hatte. Für zwanzig Leute, von welchen drei auch noch Gäste waren. Das setzte dem ganzen die Krone auf.
Ich konnte nicht hinsehen, als sich die anderen Freiwilligen die Soße schöpften. Nichtsahnend und hungrig griffen sie zu, als gäbe es etwas zu gewinnen. Ich schöpfte mir nur Nudeln und ein paar Pilze. Das würde noch zehnmal erträglicher sein als diese Soße. Die Mimik der Gesichter der Anderen bestärkte mich in diesem Glauben. Man verzog das Gesicht, schaute verwirrt umher und machte Bemerkungen wie: „Oh, it's sweet!” In der böhmischen Küche sind süße Soßen nicht unüblich. Aber so süß? Das konnte man nicht als vorsätzlich darstellen. Jeden, der fragte, weihte ich auch in dieses “Geheimnis” ein. Man muss nicht um den heißen Brei herum reden. Das Essen war ohnehin schon ruiniert.
Nicht alle Reaktionen waren negativ, was mich erstaunte. Eine Spanierin war völlig begeistert vom Geschmack. Mein Nebensitzer schöpfte sich trotz ungläubigen Blicken eine zweite Portion und schien keineswegs gestört vom eigenartigen Geschmack zu sein. Ich saß immer noch schweigend am Tisch, hoffend, dass dieses Essen endlich zu Ende sein würde. Da nur zwei Leute auf Nachschlag aus waren, endete es glücklicherweise auch zügig.
In der Küche ging es nun mit dem Abwasch weiter. Eine Spülmaschine gab es nicht. Mit leeren Tellern, allerdings auch noch fast leeren Mägen kamen alle nach und nach zu uns. Es ergab sich das ein oder andere Gespräch. Eine Freiwillige war im Gesicht rot wie ein Feuerlöscher. Ihr schien der Zucker nicht gut getan zu haben.
„War ja auch ein halbes Kilo davon in der Soße.”
„Ein halbes Kilo? Oh mein Gott.”
„Ja, wir dachten, dass es Mehl sei.”
Trotz des missratenen Abendessens begegneten manche der Situation schon mit Humor. „Mal was anderes.” Der bisweilen ironische Beiklang war völlig berechtigt. Man musste auch nichts rechtfertigen oder erklären. Es war passiert und nun muss man sehen, wie es weitergeht. Eigentlich konnte es ja nur besser werden.
An dem Topf wurde noch ewig geschrubbt, ohne ihn je ganz sauber zu bekommen. Der Zucker hatte sich am heißen Topfboden zu einem schwarzen Film verteilt und sich förmlich in das Metall hineingefressen. Es war wie eine letzte Bestrafung. Als hätte der Zucker nicht schon genug Schaden angerichtet, zwang er uns nun auch noch, mit einem Löffel die gesamte Fläche des Topfbodens und zwei Zentimeter des Randes freizukratzen. Diese Deutungen sind alle nur metaphorisch. Wie viel Weitsicht bräuchte es, um so etwas vorherzusehen? Wurde absichtlich Puderzucker ins Mehlglas gefüllt oder war es lediglich ein Glas, das gerade leer war und sich anbot? Wie und aus welchem Grund auch immer der Zucker ins Glas kam, ob es grundlose Rache war oder nicht, süß war sie.
Zeitsprung.
Heute betrachte ich die Dinge selbstverständlich etwas anders. Sowohl wir Köche als auch die von uns Bekochten können mittlerweile darüber lachen. Bei manchen Gelegenheiten wird an den Vorfall erinnert, dabei jedoch nie vorwurfs-, sondern humorvoll. Alle haben die Sache abgehakt, das Leben ging weiter, wie das nach solchen temporären Ausbildungen des Eindrucks einer einer Katastrophe ähnlichen Begebenheit immer ist. Geschichten wie diese machen den Freiwilligendienst erst so einmalig. Unzählige weitere Beispiele gibt es, die nicht gerade Glanzzeiten diverser Freiwilliger widerspiegeln. Der verschlafene Arbeitstag eines westeuropäischen, liebenswerten Freiwilligen nach der durchzechten Kneipennacht, der rauchende Staubsauger in dessen Wohnung, das zusammengebrochene Bett bei der frisch eingezogenen Freiwilligen, das alles sind Erfahrungen, die man miterlebt haben muss, um darüber lachen zu können. Große Emotionen zeigen sich entweder, wenn es uns besonders gut oder besonders schlecht geht. Doch auch die schlechten Erlebnisse lassen sich verarbeiten und zu etwas umschneidern, das aus späterer Sicht ebenso positiv empfunden werden kann wie Begegnungen, die wir schon von Anfang an für gut befanden, mittlerweile vielleicht sogar bereuen, diesen Ausgang jedoch nie vorhersahen. Erst aus dieser Perspektive, einer neutral-erzählerischen, merkt man auch, wie urkomisch die ganze Situation war. Es rattern schon die Schwarzweißfilme in meinem Kopf. Erst ein Witzbold, der Puderzucker in das Mehlgefäß füllt, dann vier unwissende Köche, die den Zucker in den Topf schütten und weil die Sache ja noch nicht schlimm genug ist, sind auch noch drei wichtige Persönlichkeiten zum Essen eingeladen, bei denen man selbstverständlich einen guten Eindruck hinterlassen möchte. Das wäre geniales Material für eine Komödie. Empfunden hatte ich die Situation im Moment des Geschehens als Tragödie, dem negativen Konterpart. Erst die Realisierung, dass am Ende der Koch mehr gelitten hat als seine Gäste, führte zur Umkehrung dieses Begriffs.
Bei den drei eingeladenen Gästen haben wir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, das ist sicher. Und mag dieser auch durchaus schlecht gewesen sein, so kann das die Zukunft auch nicht mehr wesentlich verändern. Man wird uns vermutlich nicht wieder so schnell bitten, Béchamelsauce zu kochen, doch nimmt uns das nur eine von Millionen Möglichkeiten, die wir noch haben, unser Können unter Beweis zu stellen. Was geblieben ist, sind freudige Erinnerungen an eine von Experimentierfreudigkeit geprägte Zeit. Als alles noch so neu war, jeder Tag neue Erfahrungen mit sich brachte, als man im Glaube, den jeweils anderen schon gut genug zu kennen, zusammen etwas erschaffte, von dem man heute vielleicht behaupten würde, es ganz bestimmt nicht mehr auf diese Art und Weise zu handhaben. Wir hatten uns damals kaum gekannt, haben nun – ein paar Monate später – bereits mehrfach bewiesen, dass wir uns kulinarisch über Wasser halten können, sehnen uns im Innersten jedoch trotzdem immer wieder nach der Zeit, von der wir nur noch wissen, wie unbescholten sie doch war.