Polen – mitten in Europa
Linda Vierecke, 21, Preisträgerin
„Trampen nach Osten“ hieß die Aktion des Leipziger Lokalradios Mephisto 97,6. Im Juni 2004 schickte der Radiosender zehn Jungjournalisten auf die Reise in die neuen Mitgliedsstaaten. In fünf Teams sollten sie das neue Europa erkunden. Mit dabei war auch ich, Linda Vierecke. Sieben Tage verbrachte ich in Polen, einem Land, das mir, da ich aus Brandenburg stamme, geographisch schon immer näher war als Hessen oder Bayern. Trotzdem: Mehr als die polnische Ostsee hatte ich noch nie gesehen. Und bis auf den polnischen Fruchtsaft Kubus hatte mich eigentlich nichts richtig begeistert. Hier nun der Versuch, diese Reise und dieses Land zu beschreiben. Die Arbeit legt keinen Wert auf Vollständigkeit, denn das würde Polen nur beleidigen.
Wenn man reist, entwickelt man seine eigenen kleinen Sportarten. So ist es immer interessant, mit seinem Reisepartner zu raten, wo denn die anderen Reisenden herkommen. Plötzlich haben alle Engländer, die man sieht, komische runde Gesichter, und alle Schweden einen kleinen Bauch. Und natürlich erkennt man jeden Deutschen sofort, spätestens an den Sandalen mit Socken darin. Nur man selbst sieht natürlich nie deutsch aus… Würde mich jemand fragen, woran man die Polen erkennt, ich müsste passen.
Wir stehen am Straßenrand und halten den Daumen raus, und schon hält jemand an. Wir lächeln, unser Fahrer auch. „Bialystok?“, sage ich und hoffe, dass er versteht, wohin ich will. Er nickt, das heißt ja. Und schon sind wir auf dem Weg. Vor uns liegen noch acht Stunden Fahrt und 13 Fahrer. Die Konversation beläuft sich auf wenige Sätze, doch als wir unserem Fahrer Erdbeeren anbieten, freut er sich. Na bitte, Verständigung ist immer möglich, wenn man das will.
Wer sind denn nun die Polen? Und wie ist das Leben dort? Ich denke an Ewald aus Kosel. Einem Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen. Er organisiert deutsche Feste mit anderen Angehörigen der deutschen Minderheit. In Deutschland hat er nur sechs Jahre seines Lebens gelebt und trotzdem sagt er mit Stolz, dass er Deutscher ist. Ich liebte seinen Akzent, denn wenn ich nicht hin gehört habe, und nur dem Klang seiner Stimme lauschte, wusste ich manchmal nicht, ob er Deutsch oder Polnisch spricht. Ich denke an Edward, den Tartaren, mit seinen rehbraunen Augen, die auf alles Neue mit Verwunderung ansahen. 40 Jahre war er bestimmt und blickte noch immer wie der kleine Junge von nebenan. Ich glaube nicht, dass er je Warschau gesehen hat, obwohl es nur zwei Stunden entfernt ist. Der kleine Ort in dem er lebt, fast schon in Weißrussland, ist eine andere Welt – und doch ist es Polen. Wäre ich heute wieder da, er würde noch immer an seinem Gartenzaun stehen, lächeln und abends seinen Beuteltee trinken und vielleicht eine rauchen.
Wie sieht das Leben in den neuen Mitgliedsstaaten aus? Was erwarten wir, wenn wir uns diese Frage stellen? „Ich glaube, dass viel zu viele Leute immer noch denken, dass wir hier in Polen alle Wodka trinken und Autos klauen.“, hat mir die 20-Jährige Izabella gesagt. Na klar, welcher Deutsche hat denn nicht Angst um sein Auto, wenn er nach Polen fährt. Polinnen wie Izabella sehen das gelassen. Izabella hat mir die besten Polen-Witze beigebracht.
Steffen Möller ist Deutscher und arbeitet als Komiker in Warschau. Er ist in ganz Polen bekannt, ist ein nationaler Star. Er hat mir einiges über den Humor der Polen verraten: „Die Polen lachen herzlich gerne über sich selbst und Du kannst über alles Witze machen. Nur eines, das habe ich selbst erfahren, eines darfst du nicht: Mache niemals Witze über die polnischen Frauen!“
Was ist Polen? Eine Nation, in der jeder seine Nationalhymne singen kann. Ein Land, in dem sie diese mit stolzgeschwellter Brust schmettern, wobei es dir als Deutsche fast unwohl ist, weil du es eben nicht kennst, und nicht verstehst. Polen, das lange Zeit kein Land war und nur durch sein Nationalgefühl zusammen gehalten wurde. Polen, das leidende Land. Und weiter könnte ich jetzt weiter aus der Geschichte berichten und mir würde wieder ein dicker Kloß im Hals stecken, denn polnische Geschichte hatte schon immer viel mit deutscher Geschichte zu tun. Aber das ist nicht das Polen, was mir auf meiner kleinen Reise im Juni 2004 begegnete. Ich war verblüfft von wunderschönen Altstädten, offenen Menschen, reicher Kultur, landwirtschaftlicher Varianz und frischen Melodien. Polen, das ist eben keine bekannte Melodie, sondern ein ganz neuer Akt in einem ganz neuem Takt. Man muss dazu erst tanzen lernen, sich in den Rhythmus wiegen. Doch es ist eine europäische Melodie und eigentlich müssten wir sie schon längst kennen. Polen, Tschechien, Slowakei und all die anderen neuen Mitgliedsstaaten waren auch die letzten 14 Jahre da. Seit Jahrhunderten gehören sie zu Europa, nur haben die meisten Jugendlichen aus dem „West-Europa“ sie bisher ignoriert. Wir sind nach Italien, Dänemark oder über den großen Teich in den Urlaub gefahren. Von Polen kannten wir nur den CD-Markt, von Tschechien vielleicht den Schnee.
Mir scheint es wie das große Erwachen zu sein. Plötzlich fahren alle wieder in den Osten und alle erinnern sich: „Ach ja, Polen soll ja wirklich sehr schön sein.“
Polen ist viel näher als man denkt, wenn man nur einmal über die Grenze schaut. Wir sind 2200 Kilometer von Ost nach West, von Norden nach Süden, eben durch ganz Polen getrampt, um das zu realisieren.
Polen ist schon längst in der EU angekommen, der 1.Mai war nur noch Formsache. Und auch wenn man auf den Bildern im Reiseführer noch immer alte Männer in mit Schiebermütze und Zahnlücke findet, Polen ist viel mehr. Polen ist Ewald, Izabella und Edward, Polen ist Kwasniewski und auch Möller. Vor allem ist Polen aber nicht mehr nur das Land dort im Osten. Für mich ist Polen mitten in Europa angekommen.