Noch nicht vorbei
Ich komme zu der Erkenntnis, dass eine Einschätzung von mir vor drei Monaten völliger Quatsch war und setze mich mit meinem Abschied auseinander
In meinem Beitrag vom 17.06. hatte ich noch geschrieben, dass ich eigentlich innerhalb meiner Organisation schon so ziemlich alles gemacht habe und daher nicht mehr viel lernen kann. Dass das kompletter Quatsch war, weiß ich spätestens jetzt. Die vergangen drei Monate kamen mir vor wie ein einziger Endspurt an Erfahrungen, die ich noch gesammelt habe.
An erster Stelle ist hierbei zu nennen, dass ich mein Attest zum "Hoofdanimator" gemacht habe. "Hoofdanimator" ist ein fester Begriff in der belgischen Jugendarbeit und benötigt etwas Erklärung über die Freiwilligenarbeit mit Jugendlichen und Kindern in Belgien im Allgemeinen.
Hier ist es nämlich so, dass viele Kinder, vor allem während der acht Wochen langen Sommerferien, auf ein oder mehrere Camps geschickt werden. Diese Camps reichen von Pfadfindercamps über Skatecamps bis hin zu, in meinem Fall, Bauernhofcamps. In Belgien existiert eine ganz andere Einstellung zum Freiwilligendienst und da die meisten hier schon im Kindesalter mit dem Konzept "Camp" sozialisiert werden, gibt es viele Leute, die im Alter von 15 ihr Attest zum Animator machen. Das bedeutet, dass diese die Berechtigung erhalten, selbst als Begleiter an einem Camp teilzunehmen, die Kinder dort zu betreuen und Spiele fürs Camp zu planen und durchzuführen.
Da ich schon über 100 Stunden Erfahrung als Animator hier in Belgien gesammelt hatte, durfte ich auch ohne Attest meinen Kurs als Hoofdanimator belegen. Im April gab es dann bei uns auf der Farm, zusammen mit neun anderen in meinem Alter, eben diesen Kurs wo einem alles erklärt wird, was wir tun müssen und wie wir das tun können. Als Hoofdanimator kümmert man sich nicht nur darum, das Animatorenteam zu leiten, man muss auch die ganzen administrativen Dinge regeln, mit Eltern telefonieren, Versicherungspapiere bei Unfällen ausfüllen usw.
Im Juli war dann also mein Praktikum und es war, um es kurz zu machen, ziemlich anstrengend aber auch lehrreich. Wir waren nur sieben Begleiter für 32 Kinder und hatten mehrere Kinder mit extrem aggressiven Verhalten, was oft an unseren Nerven zehrte. Letztendlich haben wir das aber von Tag zu Tag besser in den Griff bekommen und die meisten Kinder haben auch bei der Evaluation gesagt, dass es ihnen gefallen hat.
Während so eines Camps ist es meiner Meinung nach nicht möglich, sich nicht mit den anderen Animatoren anzufreunden. Durch das gemeinsame Durchleben von vielen Stresssituationen lernt man sehr schnell zusammen an einem Strang zu ziehen. Bei mir war es aber auch ein Vorteil, dass alle Animatoren sowieso zu meinen besten Freunden hier zählen.
Als das Camp dann vorbei war, hab ich direkt begonnen mein Miniprojekt zu planen. Ursprünglich wollte ich mal ein Fußballtor bauen, um den Belgiern ein bisschen Fußballkultur beizubringen, nachdem mich ein Stadionbesuch bei Club Brugge schockiert zurückgelassen hatte, ich musste aber relativ schnell feststellen, dass das mit dem vorgesehenen Budget nicht zu realisieren war. Daher habe ich mich entschlossen stattdessen eine Sitzbank für den Gemüsegarten bei uns zu bauen, was ein Vorschlag eines Freiwilligens war, der seit fünf Jahren bei uns zwei Tage in der Woche kommt und sich um den Garten kümmert.
Innerhalb von drei Tagen hatte ich diese Bank dann mit Hilfe des "Klusjesman" bei uns (= in etwa ein Hausmeister; jemand, der alle technischen Aufgaben Arbeiten macht) gebaut und bin auch ganz zufrieden damit. Immerhin habe ich nochmal genau gelernt mit verschiedensten Handwerksmaterialien umzugehen. Nur die Farbe, die ich gewählt hab, war nicht so gut. Inzwischen lässt die sich durch die Hitze einfach abziehen.
Als dann die Bank fertig war, fing direkt der mit Abstand anstrengendste Teil an. Seit einem Jahr bin ich Mitglied des elfköpfigen Teams, das das alljährliche Farmfest organisiert. Jeden Monat gab es eine drei bis vier (!) Stunden lange Besprechung, bis wir in den letzten Wochen dann endlich zum praktischen Arbeiten übergehen konnten. Erst habe ich noch zwei Tage das Jugendlichencamp begleitet und hab dann direkt anschließen daran mit den Aufbauarbeiten mitgeholfen. Auch wenn wir an manchen Aufbautagen über 20 Freiwillige da hatten, war es enorm kräftezehrend. Die letzte Woche musste ich jeden Tag von 9 Uhr bis 21 Uhr allerlei Materialien schleppen, Zelte aufbauen, Dinge zusammenbauen, auf Bäume klettern um Kabel aufzuhängen und dann abends in einem kleinen Zelt auf einer viel zu dünnen Isomatte schlafen. An sich war das immer noch ziemlich cool, weil ich eigentlich kein Problem mit schweren Arbeiten habe und ich alle Leute nochmal gesehen habe bevor ich zurück nach Deutschland gehe. Nur hat mir mein Körper heute deutlich gezeigt, dass es zu viel war und ich wurde in der letzten Woche meines ESKs zum ersten Mal krank. Während des Aufbaus entwickelt jeder aber einen derartigen Ehrgeiz trotz aller Anstrengung, dass man von irgendwo her die dritte und vierte Luft holt um noch weiterzuarbeiten.
Das Fest selbst war einfach nur schön. Ich habe jeden nochmal sehen können, die Bands waren auch gut, das Essen war fantastisch und die allgemeine Atmosphäre hat mir nochmal deutlich gezeigt, warum ich vor einem Jahr hierher gekommen bin. Als dann nach dem Ende des Fests nach und nach alle meine Freunde gehen mussten, weil sie am nächsten Tag arbeiten oder zur Schule müssen, war das schon ein ziemlicher Schlag ins Gesicht und der Moment in dem ich wirklich erst realisiert habe, dass es jetzt vorbei ist. Die Verbundenheit, die ich zu den Menschen hier und der Organisation fühle ist unbeschreiblich. Jeder einzelne Tag war es wert hier zu sein. Selbst in der letzten Woche habe ich noch neue Leute kennengelernt, mit denen ich direkt auf einer Wellenlänge war. Ich werde alles und jeden hier von ganzem Herzen vermissen.
Damit der Abschied nicht ganz so schwer wird, habe ich geplant sooft möglich zurückzukommen. Eventuell um ein Camp zu geben, zum Fest oder nur mit Freunden um diesen Belgien zu zeigen. Dieses Land ist so maßlos unterschätzt und hat viel mehr zu bieten als nur Brügge für ein paar Instagramfotos.
Wer seine Kenntnis über Belgien aufbessern will, die Uni Paderborn hat vor kurzem die Website belgien.net ins Leben gerufen aufgrund der auffallend geringen Kenntnis von Deutschen über Belgien. Dass Deutsche nichts über Belgien wissen, habe ich übrigens in meinem zweiten Beitrag hier schon fast genau so gesagt! HA! Krieg ich jetzt einen Preis?
Wie auch immer, meine letzten Tage hier stehen an und ich bin in einem völligen Gefühlschaos aus Trauer über den Abschied, Vorfreude auf meine Familie und Zuhause, krank sein und dem Fakt, dass meine Nachfolgerin schon in vier Tagen ankommt und ich dieser noch einige Tipps mitgeben muss. Irgendwie wird das alles schon klappen.