Minu Eesti
Ich dachte immer, dass man wenn man man aufbricht, Neues sieht aber seine Heimat zurücklassen muss. Seit meinem EFD in Estland weiß ich, dass das nicht stimmt. Ich verließ meine Heimat, ja, aber tauchte ein in eine neue, ein blau-schwarz-weißes wunderbares Wirrwarr aus Wald, lieben Menschen und Zungenbrechern, das sich Schritt für Schritt in mein Herz eingenistet hat. Dort fühlt es sich wohl.
30. Dezember 2011 “Aber hast du denn wirklich Estnisch gelernt? Ich meine so richtig!“ „Ich glaube wenn mein Herz sprechen könnte, würde es das auf Estnisch tun“, strömt es aus mir, ohne eine Sekunde zu zögern. Ich lehne mich zurück in den weichen Sessel in meinem Lieblingskaffehaus in Tartu und schaue Saba an. Saba ist Masterstudent aus dem Iran, mit lachenden Augen und einem spanischen Mitbewohner, der ihn immer dazu bewegt, mit dessen Freundin zu reden, wenn sie skypen. Vor ein paar Minuten habe ich ihm beigebracht, seinen Nudelauflauf auf Estnisch zu bestellen. Würde ich ihn jetzt danach fragen, könnte er diese verstrickte Aneinanderreihung von Silben wohl schon nicht mehr auf die Reihe kriegen. Neben mir liegt die aktuelle Tageszeitung, wenn ich die Artikel über Politik und Wirtschaft so überfliege, verstehe ich nicht alles. Aber das Land versteht mich.
Ich komme aus einem Ort, der in einer Gegend liegt, die wunderschön ist und viele zieht es dorthin, um sich selbst davon zu überzeugen. Patrioten sind hier meistens Lokalpatrioten, weil es das große Ganze nicht gibt. In meinem Pass steht Italien und ich mag den Klang der Sprache und das Essen und die Musik, aber das reichte nicht. Als ich nach Estland ging, hörte ich oft die Frage „Where are you from?“, so wie man sie eben selbst mitunter auch ganz am Anfang schon stellt, um den anderen kennenzulernen, und ich antwortete immer irgendwie, dabei wusste ich es wohl selbst auch nicht so genau. Dachte ich über diese Frage nach, machte ich das auf Deutsch – nein, das wäre auch nicht ganz richtig, ich dachte auf Südtirolerisch darüber nach, nicht auf der Sprache die mein Reisepass für mich vorsah. Aber bald war es mir egal, es kümmerte mich immer weniger, dass ich die Frage nicht auch so locker mit einem einzigen Wort beantworten konnte, denn ich hatte mich verliebt. In Estland.
Ich habe mich verliebt in schwarz-blau-weiße Fahnen und estnischen Topfen und den dunkelwundergrünen Wald um mich herum. Ich habe mich verliebt in das Land, als ich am Unabhängigkeitstag mit den anderen unter der Flagge stand und die Nationalhymne mitsang und es sich so natürlich und schön anfühlte, als hätte ich das schon seit Jahren gemacht, jedes Jahr pünktlich am 24. Februar: „Mu isamaa, mu õnn ja rõõm.“ Ich habe mich immer beim Busfahrer bedankt, weil es alle um mich herum auch machten und ich habe meine Suppe mit Hapukoor, saurer Sahne, gegessen. Die säure störte mich nicht, denn in meinem Herzen war alles süß. Ich habe festgestellt, dass eine wunderbare Sprache mindestens 14 Fälle braucht und dass es auch wunderbar ist, keine Zukunft zu haben. Die estnische Sprache kennt eben nur Gegenwart- und Vergangenheitsformen. Ich habe unheimlich gestrahlt, als es mir irgendwann – nach ein paar Monaten vielleicht, gelang einen fehlerfreien Satz zu sagen, und immer noch gestrahlt habe ich, als ich feststellen musste, dass ich wohl die einzige war, die das überhaupt gemerkt hat. Ich habe gelernt, dem Wasser zu vertrauen und dass Minusgrade die idealen Voraussetzungen sind um in erst in der Sauna zu schwitzen und dann einen Sprung in den zugefrorenen See zu wagen.
Die Menschen um mich herum waren fabelhaft und zu wissen, dass ich sie kennenlernen durfte, ist eines der schönsten Gefühle, die ich kenne. Ich habe Menschen getroffen, die Geschichten erzählt haben und Menschen mit denen ich nur wenige Worte gewechselt habe, aber auch die haben ihren Fingerabdruck in meiner Lebenslinie hinterlassen. Einer davon, nennen wir ihn Jaanus, hat mir eine riesige Estlandfahne geschenkt, als ich das Land, meine Liebe, verlassen musste. Er hat sie mir geschenkt, einfach so, weil ich gehen musste und er wusste, dass ich nicht gehen wollte, obwohl kein Wort darüber gefallen war, er stand einfach da mit seinem Land in der Hand – eine Umarmung, eine Fahne, ein Land wechselt Besitzer, so einfach, so schön.
Wenn ich an den Sommer in blau-schwarz-weiß denke, denke ich an Sonne und Blaubeeren, die man auf den dortigen Festivals auch als Alternative zu Bier kaufen kann, und ich sehe mich vor mir, wie ich mit einem Becher voller blauer süßer Waldbeeren durch Viljandi gehe und neben mir gehen meine wunderbaren Menschen und unser Tutor ruft uns an, obwohl wir uns doch vor 5 Minuten erst von ihm verabschiedet haben, nur um uns noch einmal zu sagen, wie klasse er uns findet. Obwohl er sich nicht wie ich für die Blaubeeren entschieden hat, weiß ich, dass es wahr ist.
Ich fühle mich, als würde ich Wurzeln schlagen in diesem Land, als hätte ich gefunden, was ich früher vielleicht nie vermisst habe, die Liebe zu einem Land, nicht weil das Land besser oder schöner als andere ist, sondern weil es schön für mich war.
An meinem letzten Tag – meine Abschiedsfeier war noch nicht ganz vorüber – saß ich irgendwann vor dem kleinen Saunahäuschen und Tränen bahnten sich ihren Weg in die trockene Sommererde, weil das Zahnarztgefühl überhandnahm, es tut weh an Wurzeln zu zerren, ein Stück Leben zurückzulassen, eine Liebe vielleicht, vielleicht auch ganz sicher. Ich musste mich von den Menschen verabschieden, die mir lachende Augen schenken, und vom Leben umgeben von Wald, vom eigenen Steg am Fluss, von deutsch singenden Esten und Pfannkuchen am Sonntag und von Zeit.
Frank Turner hat mal gesungen „It doesn’t matter where you come from, it matters where you go“. Ich ging nach Estland und heute weiß ich, dass der Brite richtig lag.
Einmal traf ich danach einen Jungen, wir redeten über unsere Leben und er fragte mich, was ich nach der Matura gemacht hätte. Ich war ein Jahr in Estland, antwortete ich ihm. Irgendwie schaffe ich es nicht, das ohne Lächeln zu sagen. Oh, das war sicher total toll, oder? Ja, war schön, sagte ich. Und wo genau warst du in Island? In der Nähe von Reykjavík? Nein, nein, ich war in Estland, nicht in Island. Nun schien mir, leuchteten seine Augen nicht mehr ganz so hell, als er mich ansah und sagte. „Oh, jetzt bin ich ein bisschen enttäuscht. Er hatte wohl an Geysire gedacht, und an Vulkane und Islandpferde. Es brach mir ein bisschen das Herz, denn es ist dort wo Estland bei mir zuhause ist, und schon wieder zerrte jemand an meinen Wurzeln. Mir fällt wieder ein was ich zu Saba gesagt habe, und ich weiß mein Herz spricht laut genug, auch wenn mein Mund sich nicht bewegte und ich nur „Idiot“ dachte.
Ich bin Judith, ich bin 21 und der EFD hat mir ein Stück Heimat geschenkt. Home is where is your heart is.
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