Marseille - Eine Hafenstadt zwischen Welten
Der größte Hafen Frankreichs besitzt viele Bezeichnungen: Der Beginn Afrikas, das Tor zum Orient.. Doch vor allem ist er eins, eine beispielhafte Geschichte der Migration.
Marseille hat etwas Besonderes: Hier vereint sich die raue Schönheit der Provence mit der pragmatischen Eleganz des Hafens, abgerundet mit Akzenten verschiedenster Kulturen - Denn die Stadt ist traditionell multikulturell.
Marseille wurde bereits als Hafen gegründet, circa im siebten Jahrhundert vor Christus von griechischen Siedlern. Sie diente lange Zeit als Stützpunkt für den internationalen Handel aufgrund ihrer günstigen Lage, mit der sich Europa, Nordafrika und auch der nahe Osten vereinen ließen. So prosperierte Marseille und wurde zu einer größten und wichtigsten Städte Frankreichs, die auch schon immer Zuwanderer anzog.
Mit ihrem warmen Klima, der Industrie, die Arbeitsplätze verspricht und der schönen Lage direkt am Mittelmeer wurde sie das Ziel vieler Migranten, die aber, im Gegensatz zu vielen anderen französischen Städten, nicht in Vororten siedelten, sondern mitten in der Stadt. Das prägt das Stadtbild noch heute: Nirgends wird das so deutlich wie im Marktviertel Noailles, auf dem afrikanische Händler Obst feilbieten, und türkische Teehäuser neben koscheren Restaurants die Straßen zieren.
Im zwanzigsten Jahrhundert geriet Marseille allerdings immer mehr in die negativen Schlagzeilen, mit Bandenkriminalität und Drogenhandel. Die Stadt geriet in Verruf und verkam, was sich aber mit einer Stadtinitiative Anfang der Neunziger Jahre wieder wandelte: 2013 wurde Marseille europäische Kulturhauptstadt und in dem Zuge wurde viel Geld in die städtische Entwicklung investiert. So wurden beispielsweise neue Museen errichtet oder die neue Straßenbahn, eine der modernsten in Frankreich, eingeweiht.
Natürlich baut sich in dem Mix aus Kulturen und Religionen immer wieder Aggressionspotential auf, und gerade in den Vororten ist Kriminalität weiterhin ein großes Problem. Aber einen großen Beitrag zur Verständigung leistet beispielsweise die Marseille Espérance, eine Initiative, bei der sich Vertreter und Oberhäupter aller großen Religionen der Stadt zusammensetzen und in Konflikten vermitteln und beraten. Beispielshaft werden dafür oft die Konflikte in den Banlieues von Paris 2005 angebracht: Während in vielen französischen Großstädten große Unruhen, hauptsächlich von ethischen Minderheiten, aufkamen, blieb es in Marseille ruhig.
In Marseille kämpft die Gesellschaft mit Diskriminierung und Rassismus, ein friedliches Zusammenleben ist nicht immer selbstverständlich, aber die Bewohner Marseilles eint eine Leidenschaft: Die für den Fußballclub Olympique de Marseille. In der Solidarität mit dem Verein verlieren sich alle nationalen Unterschiede, und der Nationalspieler Zinedine Zidane, der aus einem Vorort Marseilles stammt, verkörpert wohl den Traum der Integration: Als Sohn algerischer Migranten in Armut aufgewachsen, schafft er es doch mit Talent und Willem bis in die französische Fußballnationalmannschaft und verteidigt nun die spielerische Ehre seiner Nation.
Als ich mit Arthur, einem freiwilligen Mitarbeiter das Collectif Sans Papiers 13, der auch gebürtig aus Marseille stammt, eine Stadtrundgang mache und mit ihm über Integration rede, bin ich stark von seiner Haltung überrascht: Ich erwarte einen Bericht darüber, wie schwer und konfliktgeladen der Prozess der Integration ist, so, wie auch beispielsweise in meinem Heimatdorf in Deutschland über Integration berichtet wird, aber er spricht davon wie von einer natürlichen Gegebenheit: „Selbstverständlich gibt es Konflikte, wie immer, wenn viele Menschen zusammenleben. Aber hier in Marseille ist Integration Alltag, wir können uns gar nichts anderes vorstellen. Und jeder hat doch Träume von einem anderen Leben irgendwo, oder etwa nicht? Ich würde gerne nach Amerika auswandern. Und du? Du bist doch auch gerade nicht Zuhause.“
Arthur hat recht: Migration ist ein völlig menschliches Phänomen, die Sehnsucht nach anderen Ufern, die Chancen, die ein Neuanfang birgt. Manchmal migrieren Menschen aus Notwendigkeit, aus Krisengebieten oder wirtschaftlicher Not, aber niemand gibt leichtfertig seine Heimat und Identität auf. Jeder trägt Hoffnungen und Erwartungen im Gepäck, und steht vor der Herausforderung, sich ein neues Leben aufzubauen.
Marseille ist der Beginn Afrikas, das Tor zum Orient, aber vor allem: Der größte französische Hafen. Der seine Identität jeden Tag neu definiert, weil seine Bewohner so vielfältig sind wie die Fische des Meeres.