Liebes England - Liebes Deutschland : Eine literarische Selbstfindung in zwei Akten
Ich muss ganz ehrlich sagen, es fällt mir unglaublich schwer zu beschreiben, wie ich mich durch meinen EFD in England verändert habe, sofern mir die Veränderungen überhaupt bewusst sind.
Deshalb gebe ich euch mit diesen beiden Briefen die Gelegenheit, euch selbst ein Bild davon zu machen. Im ersten Brief, „Liebes England, was ich von dir will und woher wir uns schon kennen“, hatte ich vor gut einem Jahr meine Erwartungen an den Freiwilligendienst und das Gastland geschrieben. Nun folgt aus Anlass des Wettbewerbs auch das literarische Gegenstück: „Liebes Deutschland, meine Erwartungen an dich, meine alte Heimat, nach dem EFD“.
Deutschland, den 6. August 2016 (19 Tage vor meinem EFD)
Liebes England,
ursprünglich war es nie mein Wunsch, ein Jahr bei dir zu verbringen. Es hat eher etwas mit Schicksal zu tun. Und irgendwie hat es auch etwas Schicksalhaftes, ein Jahr mit einem von der EU geförderten „Europäischen Freiwilligendienst“ in einem Land zu verbringen, das sich just mehrheitlich für den Ausstieg aus ebendieser entschieden hat.
Natürlich hat das Referendum meinen Dienst nie infrage gestellt, denn Gelder werden nun einmal im Vorhinein bewilligt und Zusagen in der Regel eingehalten, und doch gibt es meinem Aufenthalt eine neue Dimension, gewissermaßen zusätzliche Würze.
Ich weiß nicht, was du gegen uns Europäer hast oder meinetwegen gegen die politische Union, in der wir nun schon eine Weile verbunden sind und die du wohl immer schon aus einer anderen Perspektive sahst, als ich das als Deutscher der jungen Generation tue. Doch ich bin bereit, genau das zu erfahren.
Ich möchte von dir lernen!
Ich möchte von dir lernen, wo Probleme sind und wie wir sie am besten lösen können.
Ich möchte von dir lernen, wie wir als Menschen miteinander umgehen sollen.
Ich möchte von dir lernen, wie man nach einer glorreichen Vergangenheit in eine zeitgemäße Zukunft steuert.
Ich möchte an deinem Beispiel lernen, ob der Ausstieg der EU ein Anachronismus oder vielmehr ein längst überfälliges und legitimes Instrument, zum beidseitigen Vorteil gereichend, ist. Nur um kurz auf der politischen Ebene zu bleiben. Die Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen.
Ich komme, um zu lernen. Garantiert. Aber ich bringe auch etwas mit. 18 Jahre Leben. Erfahrungen, die ich in meiner persönlichen Vergangenheit gesammelt habe. Erfahrungen, von denen ich keine missen will und keine leugnen werde. Tage, Wochen, Monate und Jahre, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin – und der hoffentlich bei der Rückkehr von dir noch um einiges reicher, vielleicht dadurch ein deutlich anderer Mensch ist. Ich bin offen, mich von mir selbst überraschen zu lassen.
Ich möchte zu etwas beitragen, wie ich es auch in Deutschland immer wollte. Der Besuch bei dir und vor allem auch die Arbeit in meiner Einsatzstelle sind eine große Chance für mich – und meine Vision ist, dass auch du profitierst.
So wie mich die konkrete Einsatzstelle erst zu dir gebracht hat (meine Suche war länderübergreifend nach Einsatzstellen, ich wäre auch offen für das Lernen einer neuen Sprache gewesen…), so will ich auch zu dir reisen. Unvoreingenommen. Offen. Interessiert und motiviert.
Dabei haben wir uns schon kurz kennengelernt. Vor vier Jahren habe ich dich besucht. 10 Tage durfte ich bei einer Familie in deiner Hauptstadt wohnen. Damals war ich noch ein ganz anderer Mensch.
Ich möchte dich bitten, mich neu kennenzulernen. Gib mir eine neue Chance – und auch ich lasse mich vollständig neu auf dich ein! Zeit haben wir genug. Ich freue mich.
Dein Mathias
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Deutschland, den 24. August 2017 (29 Tage nach meinem EFD)
Liebes Deutschland,
mittlerweile ist es fast einen Monat her, dass ich von meinem Jahr in England zurückgekehrt bin. Als ich mich in England bei meinen Kollegen und Freunden verabschiedet habe, hatte ich realisiert, dass das Jahr vorbei ist. Mir war klar, wie ich das immer gewusst hatte, dass die elf Monate EFD und damit das akademische Jahr in meinem Projekt, nun für immer Vergangenheit sein würden. Ich hatte mich damit, wenn auch schweren Herzens, abfinden können. Für mich war der Rückflug jedoch nie ein „Zurück“ nach Deutschland. Es war ein „Weiter“. Mein Leben geht dort weiter, baut aber auf mich als Menschen auf, wie ich England verlassen habe. Es geht nicht zurück. Ich bringe beides mit, eine deutsche Vergangenheit und eine englische.
Leider erinnerst du dich noch zu gut an mich. Du weißt jedes einzelne Detail von dem Mathias, der heute vor genau einem Jahr dein Hoheitsgebiet verlassen hat. Doch kennst du überhaupt den Mathias, der wiedergekommen ist? Ich weiß es nicht. Mir fallen nur ständig Situationen auf, wo du mich behandelst, wie du mich immer behandelt hast. Wo du annimmst, dass ich das gleiche Brötchen oder den gleichen Nachtisch bevorzuge, dass ich die gleichen Interessen verfolge und die gleichen politischen Einstellungen vertrete. Manchmal merke ich, dass ich in meinem englischen Leben nicht vollständig ich selbst war. Oft merke ich, dass ich in England ich selbst war.
Dann frage ich mich: Will ich jetzt einfach als andere Person gesehen werden oder bin ich eine andere Person? Wer mag das beurteilen? Fest steht: Ich habe mich verändert, ich habe mich weiterentwickelt; und wir müssen beide damit klarkommen.
Ich muss meinen neuen Weg finden, mit meinen Strukturen und Freundschaften der Vergangenheit in Deutschland, die größtenteils in der Gegenwart jetzt wieder bestehen und auch in Zukunft bestehen werden. Und du musst deinen Weg finden, mich so zu nehmen wie ich bin: anders.
Natürlich „kennst“ du mich schon – und ich „kenne“ dich auch. Ich will ja auch gar nicht so weit gehen zu sagen, dass ich ein neuer Mensch sei. Ich bin noch Mathias und du bist noch Deutschland. Ich bringe noch viel von dem mit, was ich selbst nach England mitnahm. Aber ich bringe auch viel Neues von dort mit. In mir selbst ebenso wie in meinem Reisegepäck.
Und du? Auch du hast dich verändert. Es sind Menschen gestorben und neue Menschen geboren. „Willst du denn überhaupt zurück?“, könntest du mich fragen. Und ich denke, ja. Nur werden auch wir Zeit brauchen. Denn ich möchte auch von dir lernen. Doch vor allem brauche ich dich.
Ich möchte das, was mich an dir ausmacht, nun mit dem kombinieren, was mich im letzten Jahr begeistert hat:
Ich möchte meine Muttersprache im Alltag verwenden, aber auf Englisch studieren.
Ich möchte im selben Land leben, wie meine alten Freunde und meine Familie, aber in meinem eigenen Leben mit neuen Freunden zweieinhalb Autostunden weg von zuhause.<
Ich möchte bei dir und auf der Welt zuhause sein.
Ich möchte ich sein und herausfinden, wer dieses sich ständig wandelnde Ich ist.
Dieses Jahr hat mir die Chance gegeben, mehr zu reflektieren und mich selbst kennenzulernen. Kenne ich mich denn dann jetzt nach dem Jahr? Nein, aber ich weiß jetzt für mich: Der Weg ist das Ziel.
So möchte ich mich bei allen, die mich immer auf diesem Weg begleiten, ob in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, auf das Herzlichste bedanken.
Dazu gehörst auch du, Deutschland. Deshalb erfülle mir eine Bitte. Behandle auch du alle gut und erhebe dich nicht, über andere zu richten, denn du hast kein Recht dazu! Sei für jeden da: England, denn es ist nun ein großer Teil von mir. Die Welt, denn ich möchte ein Teil von ihr werden,
Dein Mathias