Lieber Regional?
Europa ist ein sehr kleiner, aber vor allem sehr diverser Kontinent: Viele Staaten bildeten sich hier erst in den letzten Jahrhunderten, und das hauptsächlich aus ehemalig unabhängigen Regionen. Manche dieser Regionen sind heute immer noch sehr eigenwillig und haben ihre regionale Identität beibehalten – Und das kann in einem Staat schon einmal schwierig werden. Denn ohne eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Politik und Wirtschaft sind Staaten nicht integriert, und regieren ist quasi unmöglich.
Die Europäische Union kann eine Chance für kleine, autonomie-anstrebende Regionen sein: Innerhalb eines großen Staatenbundes könnten sie weitgehend unabhängig sein ohne Nachteile in der Wirtschaft oder dem Lebensstand zu haben. Diese Reportage beschäftigt sich mit diesem kontroversen Thema anhand der Region Katalonien in Nordspanien, gerade aktuell in Anbetracht der Europawahlen.
Katalonien ist eine besondere Region, in welcher die rot-gelbe katalonische Flagge von jedem Balkon weht und die für mehrere Staatskrisen in Spanien sorgte. Erst im Dezember bekamen katalogische Unabhängigkeitsparteien wieder die absolute Mehrheit im Regionalparlament – Ein eindeutiges Statement. Aber auch in Belgien mehren sich die Stimmen für ein unabhängiges Flandern, in Großbritannien ist es Schottland oder in Italien die Region Venedig. In der Regel sind diese Regionen wirtschaftlich bessergestellt, und so kommt Unmut in der lokalen Bevölkerung auf, für die anderen Bürger “mit zu bezahlen”. Das Streben nach Unabhängigkeit kann man verstehen, es ist an sich auch völkerrechtlich gesichert, allerdings verstößt es natürlich gegen nationale Verfassungen. Daraus ergibt sich die Ambivalenz des Unabhängigkeitsstreben einiger Regionen: Für die einen handelt es sich dabei um nationale Unabhängigkeitskämpfer, für die anderen um zerstörerische Separatisten.
Ökonomische Krisen – wie zuletzt die Weltwirtschaftskrise 2008 – stellen die Legitimation des Nationalstaates in Frage. Tatsächlich begann auch so der Regionalismus in Katalonien, dort, wo ich mich gerade aufhalte: Nach dem verlorenen Krieg gegen die USA 1898 litt besonders die Hafenstadt Barcelona darunter, den Handel mit den ehemalig spanischen Kolonien einzustellen. Viele junge Menschen hier, die ich über das Thema interviewen durfte, denken, die spanische Zentralregierung hat versagt. Insbesondere durch das brutale Vorgehen gegen die Proteste des letzten Jahres sind viele desillusioniert und enttäuscht: Ihre Stimme wird nicht wahrgenommen und es wird nicht ernsthaft über Alternativen diskutiert. In dieser Hinsicht kann die Europäische Union eine Lösung bieten: Kleine Staaten wie Tschechien oder die Slowakei, die auch einmal in einem größeren Staatenbund vereint waren, existieren heute friedlich nebeneinander und ihre Wirtschaften sind stabil. Also eine europäische Republik? So argumentiert beispielsweise die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot: Sie sieht die Region als natürlichen Ordnungsrahmen, da die Menschen dort eine ähnliche Lebenssituation teilen und denselben Dialekt sprechen, und so sieht sie das Modell “EU-50-Plus", also eine partielle Autonomie der einzelnen europäischen Union unter einer europäischen Republik, als politische Utopie.
Die Unabhängigkeitsbewegung umfasst die verschiedensten Menschen; politische Ansichten, Einkommensklassen oder Altersgruppen werden unter dem gemeinsamen Bestreben vereint. Es sind aber besonders junge Menschen, die der Konflikt maßgeblich prägt: Sie wachsen auf zwischen Widerstand, Pazifismus und Nationalismus, der manchmal an Rassismus grenzt. Viele drängen darauf, die katalonische Geschichte endlich aufzuarbeiten: Ein Freund von mir, Jorge, beschreibt, wie nach dem Tod Franco die Repression und Verbrechen der Diktatur nie aufgearbeitet wurden – Und die Identität Kataloniens völlig missachtet wurde. Ich bin erstaunt, mit welchem Nachdruck mir viele Bekannte versichern, dass sich Spanien und Katalonien trennen werden- Es ist nur eine Frage der Zeit. Und insbesondere die Wirtschaftskrise hat die Bindung zum Zentralstaat aber auch zur Europäischen Union geschwächt. Viele junge Menschen befürchten allerdings auch, dass sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in einem unabhängigen Katalonien noch verschlimmern würde - Und wägen daher eher Kompromiss-Lösungen ab, oder eine europäisch-regionalistische Alternative.
Es fällt mir schwer, die katalonische Unabhängigkeitsbewegung einzuordnen: Proteste und Diskussionen über eine mögliche Unabhängigkeit sollten nicht so brutal unterdrückt werden, ziviler Ungehorsam und kritisches Hinterfragen sollte jede Demokratie verkraften. Aber der sehr nationalistische und exklusive Diskurs, der auch unter vielen jungen Menschen hier herrscht, scheint mir eher problematisch zu sein. Ein europäisches Projekt der Regionen finde ich unglaublich spannend, das könnte eine politische Utopie sein, die wir als nächste europäische Generation anstreben könnten!
Das Buch von Ulrike Guérot: http://dietz-verlag.de/isbn/9783801204792/Warum-Europa-eine-Republik-werden-muss-Eine-politische-Utopie-Ulrike-Guerot
Ein Artikel über die Regionalwahlen in Spanien: https://www.stern.de/politik/ausland/regionalwahl-in-spaniens-region-in-katalonien-stehen-die-zeichen-auf-unabhaengigkeit-3734210.html
Eine Reportage über die Geschichte Kataloniens: https://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/katalonien-unabhaengigkeit-spanien-separatisten