Kurban Bayram in Diyarbakir
Türkisches Familienleben und Feiertage im Osten der Türkei
Im November bekamen wir von unserer Organisation die Möglichkeit, in den Osten der Türkei zu reisen. Offizieller Grund: Zum höchsten Fest, dem Opferfest, mit "kimse yok mu" Fleisch und anderes Essen an arme Familien zu verteilen. Bei diesem Fest wird die Geschichte aus dem alten Testament gefeiert, wo Abraham seinen Sohn eben grade nicht opfert. Es ist dabei Tradition, dass jede Familie, die es sich leisten kann, ein Schaf schlachtet (oder schlachten lässt) und das Fleisch dann mit Freunden, Familie, Nachbarn und "Bedürftigen" teilt, wobei diese auch einfach z.B. die WG von europäischen Freiwilligen sein können (gutes Fleisch füllte unser Gefrierfach!).
Im eher armen und schlechter entwickelten Osten der Türkei sollten wir also mit der Hilfsorganisation "kimse yok mu" Lebensmittel verteilen. Montagmorgens, also Dank schlechter Organisation schon einen Tag zu spät, kamen wir nach 14-Stündiger Busfahrt an und wurden immer zu zweit in unseren Gastfamilien aufgenommen. Dort angekommen wurden Nena und Ich erst einmal mit einem riiiesigen Frühstück begrüßt. Pommes zum Frühstück - warum nicht. Die Familien, die sich bereit erklärt hatten, uns aufzunehmen, waren alle eher besser situiert. Unser Gastvater war zum Beispiel Professor für Chirurgie an der Dicle-Universität. Diyarbakir hat einen alten Stadtkern mit historischen Gebäuden und einer großen Stadtmauer, aber wer es sich leisten kann, lebt in den neuen Gebäuden außerhalb dieser Stadtmauern. Dort reihen sich unzählige Wohnblocks aneinander, einer sieht aus wie der andere. Und es werden stetig mehr, da 1. die Bevölkerung der Türkei immer noch wächst, und 2. viele Menschen aus den ländlicheren Regionen in die Städte ziehen. Besonders hübsch sehen dieses Labyrinth von aus dem Boden gestampften Wohnsiedlungen allerdings nicht aus.
Nach dem Frühstück jedenfalls mussten wir erst einmal das Schlafdefizit nachholen, das uns die lange Busfahrt beschert hat. Nachmittags gab es dann ein großes Treffen mit den verschiedenen Freiwilligen vor Ort, größtenteils reiche Hausfrauen. In kleineren Gruppen fuhren wir dann mit dem Auto zu verschiedenen Familien, um Lebensmittelboxen zu verteilen. Ich weiß nicht genau, nach welchen Kriterien eine Familie eine solche Unterstützung bekam, aber auffallend war schon, das auf engstem Raum sehr große Familien, mitsamt Großeltern und unzähligen Kindern, lebten. Nach den vielen Tees, die wir in jeder Familie angeboten bekamen, meldeten sich langsam unsere Blasen, allerdings grade dann, als wir bei einer Familie waren, die eine Toilette "nur draußen" hatte. Also wurden wir zum Nachbarn geführt, dessen Toilette zwar vorhanden, aber auch nicht besonders schön war.
So viel jedenfalls zu unseren guten Taten in Diyarbakir, denn mehr als an diesem einen Nachmittag ein paar Familien besucht zu haben können wir nicht verbuchen. Und auch diese Tätigkeiten hätten die freiwilligen Frauen vor Ort auch alleine hinbekommen, da sich anlässlich der Feiertage sehr viele davon zusammen gefunden haben.
Der wahre Grund, weshalb wir nach Diyarbakir gesendet wurden, war wahrscheinlich nicht die soziale Arbeit, die wir da verrichten sollten. Ich glaube eher, dass unsere Chefs besorgt waren, dass ihre armen europäischen Mädels Kurban Bayram alleine verbringen müssen, so ganz ohne Familie, die sie besuchen können. Das ist ziemlich süß, aber eigentlich auch ziemlich unnötig, da keine von uns das Fest wirklich gekannt hat, und dementsprechend keine Familienidylle vermisst hätte. Trotzdem war es toll, diese Tage in einer Familie zu verbringen.
Die nächsten verbrachten wir also dann mit Sightseeing und Familienbesuchen. An Sehenswürdigkeiten hat Diyarbakir vor allem die alte Mauer zu bieten, die mit 6 Kilometern Länge angeblich, nach der chinesischen, die zweitlängste Mauer der Welt sei. So erzählt es uns zumindest stolz jeder Einheimische (Google sagt etwas anderes). Alte Moscheen und einen hübschen Basar gibt es auch. Nebendran fließt der Tigris, der die unendlichen Baumwollfelder mit Wasser speist. Da ich im Herbst da war, waren die Felder braun, und die Baumwolle wurde grade abgeerntet. Im Frühjahr sollte die Gegend sehr grün sein.
Etwas außerhalb von Diyarbakir, ungefähr eine Dreiviertel Stunde mit dem Auto entfernt, liegt eine alte Pilgerstätte an einem Stausee. Dort verbrachten wir einen Tag im schönsten Sonnenschein und sahen dabei auch etwas von der Landschaft, die teilweise fast an den Grant Canyon erinnerte. Wir begegneten dabei Gruppen von Männern, die diesen Ort aus spirituellen Gründen aufsuchten. Manche von ihnen grillten grade eine frischgeschlachtete Ziege auf offenem Feuer und freuten sich, diese Ausländer-Mädels daran teilhaben zu lassen. Andere beteten auf Felsen mit Sicht über den Stausee. Auf diesem unternahmen wir eine kleine Bootstour und konnten dabei alte in Stein gehauene Bauwerke anschauen. Sehr faszinierend!
An einem anderen Tag nahm uns unsere Gastfamilie zu ihren Freunden und Verwandten mit, um ihnen die traditionellen Festtagsbesuche abzustatten. Die meisten wohnten dabei in den gleichen hässlichen Wohnblocks, eine Familie jedoch lebte etwas außerhalb der Stadt – in einem Paradiesgarten. Obwohl es schon November war, konnte man durch deren Garten laufen, und links und rechts die tollsten Dinge von den Bäumen pflücken. Äpfel, Nashi-Birnen, Mandeln, interessante, orangefarbene, leckere Früchte, deren Namen ich nicht weiß, Granatäpfel, Feigen – fantastisch. Dazwischen gab es Rosen und Hühner mit lustigem Beingefieder. In den Wohnungen trafen sich Frauen und Männer übrigens getrennt, wahrscheinlich nicht vorrangig aus religiösen Gründen, sondern man (und Frau) empfinden es als angenehmer, auch mal unter sich Neuigkeiten austauschen zu können. Für mich wäre das allerdings nichts, will man doch, wenn man schon seine Familie besucht, nicht auch alle sehen?! Während unseres Aufenthaltes in Diyarbakir haben wir gefühlte 10 Kilo zugenommen. Denn natürlich war nicht nur das Willkommens-Frühstück unglaublich üppig. Unsere Gastmutter verwöhnte uns jeden Tag, zu jeder Mahlzeit, mit einer von verschiedenen, großartigen Gerichten überfüllten Tafel. Höhepunkt war jeden Tag, das komplett selbstgemachte (!) Baklava. Mir ist bisher noch kein besseres über den Weg gelaufen.
Diyarbakir ist übrigens nicht halb so wild, gefährlich und rückständig, wie es einem jeder (Türke!) aus dem Rest des Landes weiß machen möchte. Ja, man sieht mehr Kopftücher als in Ankara. Ja, vielleicht würde ich hier auch nicht nachts alleine spazieren gehen. Ja, in den umliegenden Dörfern gehen vielleicht noch nicht alle Mädchen in die Schule. Aber wir wurden weder von den bööösen kurdischen Separatisten, die es ja – so das allgemeine Bild – an jeder Ecke geben muss, entführt, noch ist uns anderes Unangenehmes zugestoßen. Die Menschen sind, wenn ich das so subjektiv mal sagen darf, sogar eher freundlicher, als in Ankara. Ob es vielleicht genau daran liegt, dass es weniger „westlich“ ist? Wer weiß. Aber vielleicht versucht man hier auch einfach nicht so verkrampft, so modern wie möglich zu sein. Ich empfehle jedenfalls jedem, der die Möglichkeit hat, in den Osten der Türkei zu reisen. Denn es ist nunmal ein Land der Gegensätze, und wer sich nur Antalya und Istanbul anschaut, sieht nur einen Bruchteil des Ganzen. Des ganz wunderbaren Ganzen.