Krank und allein… und dadurch noch kränker
Lockenjule hat sich vor kurzem von ihrer Familie, die sie besucht hat, verabschiedet und ist stolz auf sich, kein Heimweh zu haben. Doch die Natur macht ihr einen Strich durch die Rechnung: sie wird krank!
Eigentlich sollte ich jetzt einen Bericht über den Urlaub mit meinen Eltern und meinem Bruder schreiben, der letzten Montag mit einem flinken Wangenkuss am Busbahnhof von Odessa zu Ende ging. Das ist jetzt vier Tage her.
Gewöhnlich bin ich die ersten Tage nach dem Abschied sehr traurig und habe deshalb auch keine Lust, über die gerade wieder verlassene Familie zu schreiben. Diesmal hatte ich sogar am Tag der Verabschiedung noch das Gefühl, dass mir der Abschied leichter fiele als nach meinem Weihnachtsurlaub. Ich wusste ja auch schon, was gegen Kummer und Heimweh half: Ablenkung. Zeitung lesen, Filme gucken oder noch besser raus aus der Bude, Freunde treffen, in die Arbeit reinhängen – eben beständig aktiv sein. (Dies darf jetzt auch als Universaltipp für alle Heimwehpatienten gelten). Leider machte mir die Natur einen Strich durch meine "Ich-bin-stolz-auf-mich-weil-ich-nicht-mehr-so-dolle-Heimweh-hab-Rechnung".
Schon am letzten Urlaubstag war mir ein Unwohlsein in der Bauchgegend aufgefallen, was ich aber auf den Abschied zurückführte. Bis Montagnacht war dann auch alles wieder normal; doch Dienstagmorgen schlug ich die Augen auf und wusste Bescheid: Ich bin krank. "Heul doch nicht rum", denkt jetzt jeder halbwegs rationale Leser, "Jeder ist mal krank". Danke, das war und ist mir bewusst.
Was dem Leser/rationalen Denker in seiner Gleichung allerdings nicht zu stehen hat, waren folgende Dinge: Erstens hatte ich mich gerade von meiner Familie getrennt und konnte nun keiner meiner Heimweh-Gegenmaßnahmen ergreifen.
Zweitens war meine engste Freundin in Moldawien (meine Mitbewohnerin Rosi) ebenfalls nicht da, weil nun ihre Eltern sie besuchten und sie mit ihnen in einer Ferienwohnung am anderen Ende der Stadt wohnte.
Drittens kann ich generell nicht alleine sein. Viertens waren auch alle anderen meiner Freunde entweder mit Arbeiten oder dem Besuch von Verwandten beschäftigt. Und fünftens und letztens war ich nicht mal in der Lage mir etwas zu essen zu besorgen. Na ganz klasse.
Den Dienstag verbrachte ich mit Klobesuchen im Fünf-Minuten-Takt, Kohle-Tabletten-Schlucken, Fiebern, Schüttelfrosten und Bauchweh. Ach und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ständigen Heulanfällen, die nicht mal meine wahrhaft zu bewundernde Familie per Dauer-Skypen aufhalten konnte.
Mittwoch ging es mir vormittags besser und ich versuchte wieder aktiv zu werden. Nach einer halben Stunde bedankte sich mein Körper mit erneutem Brechreiz (aber haha, es war ja nichts drin!), Bauchschmerzen und natürlich Durchfall. Alles klar, das war mehr als ein kleiner Infekt.
Ich beschloss also meine Organisation zu bitten, dass jemand mit mir zum Arzt geht. Heraus kam, dass die Leuchten auf die klasse Idee kamen, erstmals meine sowieso schon vollkommen aus- bis überlastete dicke Russenmutter anzurufen. Die sollte dann wenn nötig auch einen ambulanten Arzt rufen. Genau das wollte ich mit dem Anruf bei der Organisation eigentlich vermeiden. Ich musste also noch mehr Kohletabletten essen, massenhaft ekliges Gesöff trinken und einiges mehr. Nun ja, zumindest hat sich mein russischer Wortschatz um "weh tun", "Durchfall" und Wörter in diesem Bereich erweitert. Man soll ja immer positiv denken.
Am nächsten Morgen verlangte ich dann doch nach einem Arzt, der um die Mittagszeit auch erschien. Ich kannte ihn schon, er hatte Rosi bei ihrem plötzlichen Fieberanfall im Dezember behandelt. Mit dem kleinen Unterschied, dass sie eine Übersetzungshilfe hatte, während man mir am Telefon nur sagte: "Also wenn das unbedingt sein muss, dann kommt jemand. Aber wir haben hier so viel zu tun und ach, ruf doch einfach an, wenn du was nicht verstehst."
Ich möchte hier betonen, dass diese völlig neue Seite meiner bisher brillanten Aufnahmeorganisation sich erst zeigt, seitdem die Hauptzuständige für Freiwilligenprobleme schwanger ist und an ihre Stelle eine zwar sarkastische, vor allem aber genervte und magersüchtige überforderte Uniabsolventin getreten ist. (Man entschuldige diesen für jeden Leser vollkommen uninteressanten Ausbruch meiner Meinungsäußerung.)
Wie auch immer, der ca. 1,50 große Arzt kam also gegen Mittag, und wir konnten auch kommunizieren. Zwar mit kleinen bis großen Schwierigkeiten (er kann dank seiner schiefen Zähne nur ‚sch‘, aber kein ‚s‘ sprechen, er vermischte ständig Russisch und Rumänisch, meine Sprachkenntnisse reichten nicht für die Bildung zusammenhängender Sätze, er versuchte die ganze Zeit noch krampfhaft seine fast nicht vorhandenen Englischkenntnisse einzuwerfen)… aber zum Schluss hatte ich Tablettenrezepte und eine vorläufige Diagnose.
Er rammelte mir noch eine Spritze in den Hintern, die übrigens nicht wie vorhergesagt gegen die Bauchschmerzen wirkte, dafür aber einen stechenden Schmerz in meiner rechten Pobacke nebst Hüfte und Oberschenkel verbreitete, der es mir die darauffolgende Nacht unmöglich machte, ohne schmerzverzerrtes Gesicht aufzuwachen, sobald ich mich umdrehte. Das war letzte Nacht.
Als ich heute Morgen aufwachte, ging es mir genauso wie am Tag zuvor, trotz Tabletten und Spritze. Bis auf die Pobacke natürlich, die mir erst neuerdings das Gehen fast unmöglich machte. Ich war immer noch einsam, auch wenn am Mittwoch meine Arbeitskollegin Suse etwas zu Essen für mich eingekauft hatte und Rosi jeden Tag eine Stunde ihrer kostbaren Familien-Zeit abknapste, um nach mir zu sehen. Heute aber war sie nun endgültig weg, mit ihren Eltern in die Ukraine gefahren.
Und da saß ich also heute Morgen wieder in meinem Zimmer, konnte nicht raus, weil ich noch nicht so viel machen sollte und die dicke Mutter mich wie ein Schießhund bewachte, hatte keinen zum Reden und dank der nordpoligen Temperaturen in meinem Zimmer auch keine Lust, groß etwas außerhalb des Bettes zu machen. Warmes Wasser gab es natürlich auch nicht.
Ich verzweifelte langsam. Der Arzt würde mittags nochmal kommen. Diesmal würde sogar ein Mädchen in meinem Alter kommen und mir beim Übersetzen helfen, damit ich mal etwas genauer als nur in Dreiwortsätzen würde antworten können. Leider kam das Mädchen eine halbe Stunde zu spät, sodass ich wieder allein mit dem Arzt da saß. Er hatte noch mehr Tabletten im Gepäck, tastete mich nochmals ab, verschrieb mir noch was, dann marschierten die 1,50 Hausdoktor wieder aus der Tür.
Doch oh Wunder, die neuen Tabletten wirken nun endlich, und mir geht es besser. Morgen treffe ich mich auch endlich wieder mit jemandem und abends werde ich besucht. Ich kann mir auch mein recht kärgliches Schonungsdiät-Essen wieder selber machen und ab morgen auch wieder selber kaufen. Dann kann ich auch wieder rausgehen, wo es tagsüber zeitweise wärmer ist als bei mir im Zimmer. Und ich kann, und das ist das Wichtigste, endlich wieder sozialen Kontakt haben. Ich wünsche niemandem, allein und einsam im osteuropäischen Ausland krank im Bett zu liegen. Auf diese Erfahrung hätte ich gern verzichten können.
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