Jeremy Corbyn, die Labour Party und das Endspiel um Europa?
Führt der neue Vorsitzende der britischen Labour Party die Partei programamtisch zurück zur "Old Labour"? Und welche Auswirkungen könnte das auf das EU-Referendum 2017 haben?
Vor etwa 20 Jahren vollzog sich in der britischen Labour Party eine programmtische Neuausrichtung: Unter dem damaligen Partei-Vorsitzenden und Premier Toni Blair veränderte sich die „Old Labour“ zur „New Labour“. Die Befürwortung der Marktwirtschaft verdrängte Ideen wie die Verstaatlichung und den Klassenkampf. Die Labour begann ein Symbol für pragmatische Politik zu werden, Blair selbst bezeichnete diesen Umschwung als den „Third way“. Damals in den 1990er wurde auch der umstrittene Paragraf 4 aus der Parteiordnung gestrichen, der vorgab „nach der Verstaatlichung der Produktionsmittel zu streben“. Mit dieser so eindeutigen Absage an einer sozialistischen Orientierung, begann die „New Labour“ ihre „Dritten Weg“ praktisch zu gehen. Doch seit einigen Wochen werden Stimmen lauter, diesen §4 wieder im Programm aufzunehmen.
Den seit dem 12. September 2015 steht die Labour Party Kopf. Das nämlich, was anfangs niemand erwartet hat, ist nun passiert: Jeremy Corbyn ist zum neuen Vorsitzenden der britischen Labour Party gewählt worden. Die konkreten Folgen dieses überraschenden Ergebnisses, sowohl die parteiinternen als auch die ganz England betreffenden, sind noch ungewiss. Gewiss ist nur, dass die Labour Party es nun schwer haben wird, sich programmatisch als „New Labour“ zu halten, denn Corbyns Website erstrahlt in stechendem Rot, genau wie seine Forderungen.
Der Hintergrund dieser Urwahl vom 12. September war der Rücktritt des ehemaligen Labour-Vorsitzenden Ed Miliband nach der heftigen Niederlage für die Labour Party bei den vergangenen Parlamentswahlen im Mai 2015. Der parteiinterne Wahlkampf um Milibands Nachfolge begann. Neben Corbyn standen Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall zur Wahl, allen wurde zu Beginn eine Chance zugerechnet, nur Corbyn nicht. Zu sehr weiche er programmatisch ab, zu sehr sei er Einzelgänger und Einzelbrödler. Umso überraschender, dass der 66-Jährige seinen drei Kontrahenten mit über 59,5 % der Stimmen überlag.
Corbyn hat bereits eine lange politische Laufbahn hinter sich, 1983 wurde er für seinen Wahlkreis Nord-Islington ins Unterhaus gewählt und dort blieb er über 30 Jahre. Aus dieser Zeit ist er für sein häufiges Widersprechen an der Labour-Außen- und Wirtschaftspolitik bekannt, vor allem die britische Beteiligung am Irak-Krieg kritisierte er scharf.
Zustimmung während des Wahlkampfes fand Corbyn v.a. bei den jungen Briten, die sich zum Großteil eigens für diese Urwahl bei der Labour registrieren ließen. Enttäuscht und erschüttert im Vertrauen zu der bisherigen britischen Politik, der Shock der Finanzkrise 2008 sitzt noch tief, sehen die Wähler in Corbyn, der eine radikale Änderung dieser bisherigen Politik fordert, Hoffnung.
Mit seinen innenpolitischen Forderungen etwa nach der Verstaatlichung der Infrastruktur und der Abschaffung der Studiengebühren, seinen pazifistischen außenpolitischen Forderungen nach dem NATO-Austritts England und gegen die nukleare Bewaffnung Englands und seiner Kritik an der europäischen Austeritätspolitik vollführt der Altlinke eine 180° Drehung dahin, woher die Labour Party kommt: Zurück zur „Old Labour“. Parteiintern befürchtet man deshalb, dass Corbyn die Partei für eine lange Zeit in die Opposition führen wird.
Bisher nämlich adressierte die Labour Party vor allem den „Middle income Britain“, davon ausgehend, das die Partei, die die Mitte der Gesellschaft hinter sich stehen hat, die besten Wahlergebnisse erzielt. Doch diese „Middle Britains“, so wird erwartet, werden künftig zur Conservative Party, David Camerons Tories abwandern, da Corbyns Positionierungen diese Zielgruppe nicht mehr ansprächen. - Neben dieser Wählerwanderung wird das englische Parlament vor allem in Hinblick auf das anstehende EU-Referendum 2017 vor eine große Herausforderung gestellt. Bisher nämlich positionierte sich die Labour Party als natürlicher Verbündeter Brüssels. Man setzte beid er Abstimmung auf die Labour und ihre Wählerschaft. Für Premier Cameron wird es in den anstehenden Verhandlungen schwieriger, wirtschaftspolitische Opt-outs für Großbrittanien zu erreichen, wenn er es auf einmal mit einer Partei zu tun hat, die nur so vor Kapitalismuskritik strotzt. Sein angestrebtes Ziel die Wettbewerbsfähigkeit im großen Maßstab durch Mittel wie den Abbau von Regulationen und den Aufbau des Freihandels zu stärken, trifft auf einen Verhandlunspartner, der diese Ideen schon im Kern ablehnt und mit dem Gedanken spielt, sich die „Verstaatlichung der Produktionsmittel“ laut dem gestrichenen §4 auf das programmatische Aushängeschild zu schreiben. Es bleibt spannend!