Im Osten geht die Sonne auf
Białystok ist eine Stadt, wo alle weg wollen, dachte Johannson. Bis jetzt, denn nach einem Ausflug ändert sich seine Meinung über diese Stadt.
Białystok ist eine der letzten Städte, die ich noch nicht besucht habe. Ganz im Nordosten, an der sog. Östlichen Wand, wo es viele Nationalparks aber keine Arbeit gibt, alles grau ist und jeder Vodka trinkt. Bis jetzt war das mein Bild der Stadt, wo laut eines anderen Beitrags auf dieser Seite „alle weg wollen“; ohnehin immer zu weit weg von meinem jeweiligen Wohnort um hinzufahren.
Auf einmal wird man aber von der Nachricht überfallen: dass Bialystok total nett sei, und zwei Mädchen auf dem Wohnheimsgang kommen von da, und eine ist auch noch orthodox, und dann liest man noch mal nach und sieht, dass da ganz viele orthodoxe Kirchen stehen und zuletzt entdeckt man dann auch noch, dass es ziemlich schnell zu erreichen ist, für polnische Verhältnisse.
Grundlagen
Laut Reiseführern hat Bialystok etwas von Lodz. Bis ins 18. Jahrhundert ein Nest an einem kleinen Bach, dann baute wer seinen Palast da. Später kamen Fabriken und man wurde zum zweitgrößten Textilzentrum Polens…nach Lodz natürlich. Dazu noch ein ganzer Haufen Nationalitäten, Zwiebeltürme, Synagogen und sogar Moscheen. Muss man sich mal angucken.
Und weil auch noch geschrieben steht, dass da keiner hin will sondern alle nur weg, beschließe ich natürlich von vornherein, dass mir Bialystok gefällt. Das stellt sich auch als nicht unmöglich heraus. Man steigt auf einem neu gestrichenen Bahnhof aus. Die Jugendherberge ist allerliebst in einer Pseudovilla zwischen Wohnblocks, sauber, ohne Kinder und mit der freundlichsten Rezeptionistin der Welt. Vor allem ist es aber erste Sonnentag seit...seit dem Ausflug nach Lodz!
So ist es eine Freude durch den warmen Abend zu laufen, ohne Gepäck und ohne Jacke, bald auch ohne Pullover. Nach der Herberge geht es gleich Richtung Zentrum. Solange die Sonne scheint will ich soviel wie möglich sehen; nach einer Woche im Büro ist reines Laufen eine Erlösung. Nach einigen Schritten höre ich eindeutig orthodoxe Gesänge und stelle mich in die erste Messe – Mädchen mit Kopftüchern sind die besten! Insbesondere als ich sofort ein Plakat mit dem orthodoxen Chor der bezaubernden Dirigentin erblicke, die mich seinerzeit in Lodz zum ersten Mal in die orthodoxe Kirche führten.
Abends auf dem Markt
In einem Unterschied zu Lodz wurde Bialystok im Krieg ja richtig mitgenommen, die Hälfte der Einwohner wurde ermordet und alle Juden, dazu das gesamte Stadtzentrum Warschau-gründlich ausradiert. Die Straße Richtung Marktplatz ist dann auch geprägt von Stalinwohnhäusern und was ich als 90er Jahre Schnellbauweise bezeichnen würde. Der Markt selbst ist fest in 50er Jahre Hand, aber auch ein Beispiel, dass das durchaus funktionieren kann (wie in der Warschauer Neustadt). Auf seinen drei Seiten umgeben von den erhofften Biergärten und in der Mitte das Rathaus aus dem 18. Jahrhundert; niemand würde vermuten, dass es auch erst nach dem Krieg wieder aufgebaut worden ist.
Auf den Bänken junge und mittelalte Leute, alle wollen was machen aus dem Freitag Abend. Nicht viel später komme ich schon an die bekannteste Attraktion von Bialystok, den Palast von Jan Klemens Branicki. Der war einer der bedeutenden Großgrundbesitzer, die Polens Geschicke lange unangefochten lenkten und nicht wenig an seinem Unglück Teil hatten. Auch der Palast wurde nach dem Krieg aus dem Nichts wieder aufgebaut und beherbergt heute die medizinische Fakultät der Uni, somit nicht zugänglich, aber laut Reiseführer auch nur außen historisch nachgebildet.
Ansichtssachen
Mit der Dämmerung laufe ich weiter in einen Park, und in einen zweiten und dritten, angezogen von einem weithin sichtbaren Springbrunnen. Wie schön diese Wärme ist, alle Menschen nutzen sie sofort die Parkbänke zu besetzen. Ich weiß nicht, ob ich mich wie in den besten Tagen Englands oder Torun fühle. Ich mache einen Zwischenhalt in einer Karaokekneipe zwischen den Bäumen. Dann gehe ich weiter, merke, dass ich in einem Studentenbezirk bin: ein Wohnheim taucht auf, direkt im Park und gleich hinter der Palast; außerhalb reflektieren von allen Hauswänden billige Elektrorhythmen.
Da ich den Arbeitslaptop dabei habe, beschließe ich gleich alles aufzuschreiben. Die Cafés am Markt kann ich morgen ausprobieren, heute habe ich Lust auf stillose Kinderstudenten und gehe daher in eins dieser Studentenobjekte, wo junge Leute ihre erste Zeit außerhalb des Elternhauses zu schüchternen Revolutionen nutzen. Ach, polnische Studenten sind so jung. Oder bin ich so alt?