Ich bin mehr!

Um gleich am Anfang zur Sache zu kommen: Ich bin immer noch Ich. Selbstbewusst, entschlossen (bis dickköpfig), humorvoll und abenteuerlustig.

Aber bin ich wirklich noch die gleiche Rebecca, die ihren Eltern vor einem Jahr von der anderen Seite der Sicherheitskontrolle am Flughafen zugewunken und kurz darauf ihren ersten Blogbeitrag verfasst hat?

Wenn ihr meine beste Freundin fragt: Wahrscheinlich schon, denn zwischen uns ist alles noch genauso, wie vorher, außer, dass ich ihr Englisch andauernd verbessere.

Wenn ihr meine Mama fragt: Definitiv nein! Vor allem, was das Thema putzen anbelangt, denn ihre Tochter hat angefangen sich über die Zustände in ihrer Wohnung zu beschweren. Ihre Tochter, die früher nur dann von alleine aufgeräumt hat, wenn das WLAN-Signal nicht mehr durchkam. Aber gut, was will man schon erwarten, wenn man mit 3 Männern zusammenwohnt, die nach dem Motto „Tritt sich fest“ leben? Da kam auch ich an meine Grenzen. Mit den Krümeln, die täglich auf dem Esstisch lagen, hätte man alle Vögel im Hydepark problemlos über den Winter bringen können. Vom Ofen, dem Herd und dem Fußboden mal ganz zu schweigen- da bekommt das Sprichwort „Bei uns kann man vom Boden essen“ eine ganz neue Bedeutung, nicht weil es so sauber ist, sondern weil man so viel findet. Außerdem habe ich mein Talent für das Planen und vorausschauende Denken entdeckt, was meine Mama auch nicht oft genug betonen kann. Gerade in der Schulzeit habe ich so ziemlich alles bis auf's Letzte hinausgezögert, der Abgabetermin war meistens meine Inspirationen für Aufsätze, Plakate und ähnliches. Doch als es darum ging eine zweiwöchige Reise durch England und Schottland zu planen, habe ich bereits vier Monate vorher angefangen.

Das ist die Meinung anderer, aber hat sich sonst noch etwas verändert, das für Außenstehende vielleicht nicht so offensichtlich ist? Fühle ich mich anders?

Ja.

Ich bin die gleiche, wie vor einem Jahr und trotzdem anders, mehr. Ich habe ein ganzes Jahr voller Erfahrungen hinter mir. Viele davon waren unglaublich schön und ich werde mich noch lange daran erinnern. Einige waren aber auch das Gegenteil davon und so gerne ich mich an all die Partynächte, die Reisen und die tollen Menschen erinnern werde, so werde ich mir auch die Erinnerung an die Situationen wahren, in denen ich mich verloren fühlte, krank oder traurig war, denn das sind die Momente, die mich dazu antrieben besser zu werden, über mich hinaus zu wachsen. An ihnen wuchs ich und durch sie wurde ich zu der, die ich jetzt bin. Nicht alles in diesem Jahr war perfekt und das ist auch gut so, denn sonst, hätte ich ja nichts gelernt. Der größten Herausforderung stand ich wohl direkt am Anfang gegenüber. Ohne Wohnung, ohne Job und mit nur £300, war mein Start in London alles andere als einfach, aber wenn ich darauf zurückblicke bin ich vor allem eines: stolz. Mein Stolz hat mich damals davon abgehalten, einfach wieder nach hause zu fliegen und mein Stolz ist es, der mich dazu antreibt, meine Ziele und Träume auch in Zukunft zu verwirklichen.

Also wer war ich vorher und wer bin ich jetzt? Abgesehen von den obengenannten (für alle offensichtlichen) Eigenschaften wollte ich vor einem Jahr nur eins: weg von zu hause, unabhängig sein und auf eigene Faust lernen. Nachdem mir diese „eigene Faust“ in den vergangenen 12 Monaten das ein oder andere Veilchen verpasst hat bin ich jetzt reifer, stärker, selbstbewusster (falls das noch möglich war) und reicher an Erfahrungen aus denen ich gelernt habe und dadurch auch besonnener und ruhiger, wenn ich einer schwierigen Situation gegenüber stehe. Ich habe meine Heimat und vor allem meine Familie und Freunde neu und mehr schätzen gelernt, durch solche, die es nur vorgaben zu sein. Aber vor allem habe ich mich besser kennen gelernt. Ich wollte früher immer unabhängig sein, doch jetzt weiß ich auch wie sehr, denn es gibt einen Unterschied zwischen unabhängig und allein.

Ich bin ich, doch mehr als vor einem Jahr.