Heimatkunde
Heimatkunde
Heimatkunde
Lange bin nicht mehr zum Schreiben gekommen. Und das ist auch gut so, denn ich hatte einfach jeden Abend etwas zu tun. Gute Sachen, schöne Sachen. Dinge für die interkulturelle Bildung. So weiß ich jetzt zum Beispiel, dass Charver hier „Blockers“ heißen und ich nur einige Straßen entfernt von Radio Maryja wohne.
Zur Einführung, Torun ist eine mittelgroße Stadt an einem großen Fluss mit circa 200.000 Einwohnern und damit auf dem Papier ganz ähnlich einer sehr sympathischen Stadt im Nordosten Englands. Doch jetzt erkunde ich Torun das erste Mal richtig.
A walk on the wild side
Noch Freitagabend bin ich auf eine kleine Erkundungstour gegangen, um Ziele für den nächsten Tag abzustecken. Dabei bin ich auch über die Pisudski-Brücke über die Weichsel gelaufen (wenn man nicht rennt, kann das gut zehn Minuten dauern), um mir einmal die andere Seite anzusehen.
Oh, was für ein Himmel. Geh zehn Minuten vom Zentrum weg und Du triffst keinen Menschen mehr. Von der lauten Brücke führt ein Kopfsteinpflasterweg hinein in eine Art Mangrovenwald. Dichtestes, vollstes Grün, durchzogen von kleinen Wasserarmen. Links steht eine Katze wie erstarrt auf einer frisch gemähten Wiese bevor sie sich auf ihre Beute stürzt, rechts ist eine Art Sumpf. Ich laufe durch grüne Tunnel, bis auf einer Lichtung ein großes Backsteingebäude auftaucht, die Ruine des Schlosses Wybów. Über eine Heidewiese gelange ich endlich zum unbefestigten Rand des Flusses selbst, über dessen Ufer sich die Bäume weit bis ins Wasser wölben. Diese Art Flusslandschaft, die ich nur ostwärts der Oder kenne, liebe ich, die Hitze und das Dickicht, die prärie-artigen Wiesen mit ihrem feinen, weißen Sand und die sanften Hügel, die sich weit durch das flache Relief ziehen. Für mich hat alles etwas Tragisches an sich. Hier hat Gott die Erde geküsst. Fünf Minuten später erfand der Teufel die Mücke.
Abendstimmung
Zurück in der Stadt habe ich noch ein mir empfohlenes Cafe am Markt ausprobiert. Fazit: Gut, aber zu teuer. Längst habe ich meinen eigenen Geheimtipp gefunden. Denn was die Gastronomie angeht, kann es Torun gut und gern mit Kraków aufnehmen. Doch eins treibt mich zwischen den Menschentrauben auf dem Platz und an den Tischen um: irgendetwas fehlt mir. Sei es nur die ewig währende Dämmerung eines Sommerabends, aber ich fühle mich einsam. Wie gern hätte ich jetzt jemanden mit mir am Tisch, mit dem ich die Eindrücke teilen könnte. Als ich nach England ging, hat es vier Monate gedauert, bis ich den ersten Anflug von Lust auf Gesellschaft spürte; seitdem ich zurück bin, mag ich kaum einen Abend allein sein. Ach.
Dabei ist das Leben schön hier. Freitagabend, der Marktplatz vibriert und auf der in mildes Licht getauchten Weichsel rasen Schwalben nur Zentimeter über dem Wasser. In Cafés, Pubs und Restaurants, auf Bänken unter Bäumen sitzen Menschen und genießen die späte Sonne auf den renovierten gotischen und barocken Gebäuden. Junge Menschen, schöne Menschen, die haben Stil und sind keine Charver, sondern fröhlich und lachen und trotzdem fühle ich mich allein. Wie soll man einen langen Abend füllen?
Gute Nacht
Man geht in den Geheimtipp. Der heißt „Stary Mlyn“ und ist abseits des Trubels zwischen der Stadtmauer und der alten Ruine der Ordensburg. Die „Alte Mühle“ ist ein ganz klassisches Studentencafé, auch wenn die Klientel manchmal etwas zu jung ist, aber nichtsdestotrotz ist es zielgruppensicher mit Second Hand Couches und Mühlsteinen als Außentischen ausgestattet. Die Theke ist kreativ mit Feldsteinen verkleidet und abends wird diese altmodische Art tragbarer Abblendlampe nach draußen gestellt. Innen ist Metall verboten, alles ist aus Holz oder Stoff, so auch die großen Bücherwände und die kleinen Regale mit Brettspielen. Die machen den Raum so voll, dass es mangels Bodenfläche erlaubt ist, über die Stühle zu laufen. Was passiert, wenn mal alles besetzt ist...? Wahrscheinlich nimmt man die Tische. Dazu spielt musikalisch ein größtenteils sehr angenehmer Mix von afrikanischen Trommeln über französische Chansons über Heather Nova bis zu der Unschuld amerikanischer 50er-Jahre-Schlager.
Ach ja, die Karte ist auch nicht schlecht. Noch teuer. Leider zieht dieses Ambiente natürlich auch die Leute mit den Akustikgitarren und Handtrommeln an, die Pace-Fahnen schwenken und brav zu jeder Antikriegs-Demo laufen. Dafür führt die offene Atmosphäre auch zu Menschen, die sich dann einfach zu Dir setzen und mit Dir erzählen. Nein, Du bist aus Deutschland, das ist ja interessant und was, Du hast heute Geburtstag, ich bin die Barkeeperin und Du kriegst jetzt einen MadDoc aufs Haus! Na zdrowie.