Giannis und die Geschichte von der Solidarität
Ein Hoch auf unseren Busfahrer!
Solidarität ist ein großes Wort. Es bezeichnet eine zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit der Unterstützung von Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Bei Solidarität denken die meisten von uns wahrscheinlich an der Verbundenheit verschiedener, auch europäischer, Länder. Solidarisch gibt man sich gegenüber einer Gruppe. Länder geben sich solidarisch anderen Ländern gegenüber, Menschen gegenüber anderen Menschen. In der Arbeiterbewegung wurde Solidarität zu einer Tugend der Arbeiterklasse. Solidarität beschreibt ein Zusammengehörigkeitsgefühl, es impliziert ein Prinzip unserer Mitmenschlichkeit. Das alles sind gängige Definitionen. Doch was nützt eine Definition ohne einen Korpus? Ohne eine reale Situation oder eine Begegnung an der sich diese Definition ablesen lässt? Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Solidarität sprechen? Ich glaube unsere Welt ist im Wandel. Sicher, durch die Globalisierung und vieler europäischer Freiwilligenprojekte haben junge Männer und Frauen, wie Ich, zahlreiche Möglichkeiten. Mein Freiwilligendienst, den ich in einem Kindergarten in Griechenland ableiste, ist eine riesige Chance für mich und die bürokratische Einfachheit dieses Austauschs war vor einigen Jahrzehnten undenkbar. Doch trotzdem, bei all diesen Vereinfachungen: Werden Definitionen wie „Solidarität“ nicht auch vereinfacht? Was passiert mit dem Begriff, diesem so wichtigem Begriff, wenn ich einfach spontan entscheiden kann, für 6 Monate das Land zu verlassen? Wo bleibt die Solidarität? Kommt sie mit? Oder bleibt sie auf der Strecke? Ich habe lange nicht über diese Frage nachgedacht: Wer ist mir eigentlich gegenüber solidarisch und wer unterstützt mich?
Nach 12 Monaten Planung, zwei Griechisch Sprachkursen, vielen Lesestunden über die griechische Kultur und empfehlenswerte Reiseziele bin ich nun endlich in Griechenland angekommen. Der Ort, den ich nun für sechs Monate meine Heimat nennen darf, ist Xylokastro- eine Kleinstadt am Meer mit 4000 Einwohnern. Mein Kindergarten befindet sich in einem etwas abgelegenem Dorf namens Zevgolatio. Um zur Arbeit zu kommen, muss ich jeden Morgen um acht Uhr den Bus von Xylokastro nach Kiato nehmen, in Kiato 40 Minuten auf den Anschlussbus warten und noch mal weitere 30 Minuten nach Zevgolatio fahren.Offen gesagt hat es mich manchmal etwas geärgert, denn ich habe mich den anderen Freiwilligen gegenüber benachteiligt gefühlt, die in Xylokastro arbeiten, daher länger schlafen können und früher Feierabend haben. An meinem ersten Arbeitstag bin ich natürlich hochmotiviert von Xylokastro gestartet. Und allein für die Aussicht lohnt sich mein langer Fahrweg schon, denn er führt am Meer entlang und der Blick auf die aufsteigende Morgensonne ist unbeschreiblich schön. Völlig überwältigt komme ich also in Kiato an und werde schnell wieder aus meinem meditativen Zustand rausgerissen. Auch wenn der Bahnhof nicht groß ist, ist er ein Zentralbahnhof, wo in der Morgen Rush Hour immer fünf Busse gleichzeitig ankommen. Viele Menschen stehen draußen oder sitzen in der Wartehalle, telefonieren oder unterhalten sich laut miteinander über Bushalteplätze hinweg. Händler drehen ihre Runden und versuchen die Wartenden von dem Kauf von Sonnenbrillen, Regenschirmen, Feuerzeugen und Sonstigen zu überzeugen. Und was in Griechenland natürlich nicht fehlen darf sind die Straßenhunde, die entscheiden, der perfekte Liegeplatz sei inmitten des Getümmels. Ich begebe mich zum Ticketschalter und die freundliche Frau sagt mein Bus komme in 40 Minuten. Da ich super aufgeregt bin, warte ich draußen um meinen Bus ja nicht zu verpassen. Die Lautsprecher ertönen : »Για Αθήνα περάστε δεξιά« (Für Athen gehen Sie nach rechts), »Για Κόρινθος περάστε στο στενο (Für Korinth gehen Sie in die Gasse)«, »Για Πάτρας περάστε μπροστά« (Für Patras gehen Sie nach vorn. Auch wenn ich schon einige Griechischkenntnisse habe hört sich das für mich durch die alten blechernen Boxen wie Einheitsbrei an. Nach einiger Wartezeit kommt die Frau vom Ticketschalter mit bemitleidenden Blick auf mich zu und eröffnet mir, dass mein Bus schon weg ist. Ich muss mich zusammenreißen nicht panisch zu werden. Noch mehr ärgere ich mich über meine eigene Unfähigkeit. Die Frau erkennt meine Verzweiflung recht schnell und fragt mich, was ich hier in Griechenland mache und wo ich ich hinmöchte. Nach meiner konfusen Erklärung in halb Englisch, halb Griechisch bringt sie mich zu einem gerade ankommenden Bus. Hier treffe ich das erste Mal auf Giannis. Giannis ist 65 und steht kurz vor seiner Berentung. Er hat jeden Tag die Morgenschicht und fährt einen alten hellblauen Bova Future Bus mit zerfledderten Sitzkissen. Der Fahrerbereich ist mit Ikonen von Schutzengeln und Fotos von seiner Familie dekoriert. Die nette Dame vom Ticketschalter erklärt ihm also meine verzwickte Lage und Giannis winkt mich mit breitem Lächeln in den Bus. Da er kein Englisch spricht, gestaltet sich unser erstes Gespräch etwas schwierig, doch Giannis mit seiner unermüdlichen Energie setzt alles daran, mich aufzumuntern. Spätestens als er mich vor der zusteigenden Kontrolleurin wie ein Löwe beschützt, weiß ich, dass dieser Mann es einfach drauf hat. Unzählige Dörfer später hält Giannis an und erklärt mir noch schnell, wie ich zum Kindergarten komme. Auch wenn der Fußweg einige Zeit in Anspruch nimmt, beschließe ich, von nun an täglich mit Giannis zu fahren. Jeden Morgen begrüßt er mich auf die gleiche Weise»Βαλερί κορίτσι μου τι κανεις;«(Valerie mein Madchen wie geht es dir?) und natürlich werde ich auch jedem zusteigenden Gast vorgestellt »Αυτή κορίτσι είναι Βαλερί«(Das Mädchen ist Valerie). Unsere Gespräche auf Griechisch werden Tag für Tag flüssiger und wir reden über Gott und die Welt. Als Giannis erfährt, dass meine Familie mich über Weihnachten in Griechenland besuchen kommt, ist er so begeistert, dass er mir am nächsten Morgen eine Flasche Wein aus seiner Eigenproduktion für sie mitgibt. Danke für den köstlichen Wein, wir haben ihn uns schmecken lassen! Giannis liebt es auch von seiner Familie zu erzählen und zeigt mir Fotos von seinen Kindern. Multitasking ist im Übrigen Giannis leichteste Übungen, sei es Handy oder ein Zigarettchen am Steuer. Da Giannis ein sehr gläubiger Mensch ist, lässt er es sich auch nicht nehmen, beim Passieren einer jeder Kirche das große Kreuzzeichen zu machen. Letzteres hat ebenfalls einen gewissen Unterhaltungswert. Denn wer schon mal in Griechenland war weiß, dass es hier sehr viele Kirchen gibt, sodass Giannis manchmal gar nicht mehr hinterherkommt. Ebenso hält Giannis gerne eben mal kurz am Straßenrand an, um etwas aus der Reinigung abzuholen oder ein Schwätzchen mit jemandem zu halten. Die Maxime des Landes »Ελευθερία ή θάνατος« (Freiheit oder Tod) kommt ja auch nicht von ungefähr.Giannis ist im Übrigen ganz angetan davon, dass er der Hauptakteur meines Solidaritätsberichts ist. Ich musste ihm versprechen, den Artikel am Ende meines Aufenthaltes in Griechisch zu übersetzen und ihm ein Exemplar zu geben.
Und so habe ich also gelernt, dass Solidarität international ist. Eine gemeinsame Sprache macht Solidarität vielleicht einfacher, doch ist sie keine Voraussetzung. Solidarität besitzt weder eine Altersgrenze noch benötigt sie einen institutionellen Rahmen. Um Solidarität zu erfahren, reichen zwei Menschen aus, die es einfach mal probieren.