Geduldet und abgeschoben
2010 verkündete die deutsche Bundesregierung, dass 10.000 Roma, die seit Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten in Deutschland wohnten, in den Kosovo abgeschoben werden. Die Kinder von Flüchtlingen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, wurden dabei in ein für sie fremdes Land abgeschoben. Denn sie hatten den Duldungsstatus von ihren Eltern bekommen. Meine Geschichte versucht nach zu empfinden, wie es sein muss, ein fremdes Land unfreiwillig als Heimat zu akzeptieren.
„Enisa, kannst du Holz holen? Es wird langsam kalt draußen. Wir wollen den Ofen anmachen.“
Enisa schaut ihre Mutter an. Langsam steht sie auf, um raus zu gehen. Es war anscheinend ihre neue Aufgabe, das Holz zu hacken und ins Haus zu bringen. An der Tür zieht sie die viel zu großen Gummistiefel an, damit ihr eigenes Paar Schuhe, das sie aus Deutschland mitgebracht hat, nicht schmutzig wird. Der Schlamm vor dem Haus ist mehr geworden. Es hat die letzten Tage viel geregnet. Sie nimmt die Axt in die Hand und beginnt die Holzstücke klein zu hacken. Wie konnte das passieren? Noch vor zwei Wochen war sie mit ihren Freundinnen im Shoppingcenter in Deutschland und ihr größtes Problem war es gewesen, dass sie zwei Paar Ohrringe gut fand, aber sich nur eins leisten konnte. Jetzt fühlte sich alles soweit weg an. Und Deutschland, ihr zu Hause, erschien ein entfernter Traum, aus dem sie jäh erwacht war.
Sie erinnert sich an den Tag, als der Anruf kam. Sie war gerade mit ihren Freundinnen unterwegs gewesen. Ihr Telefon klingelte. Es war ihr Vater: „Enisa... der Brief ist da.“ Der Brief, den sie alle in der Familie gefürchtet hatten. Der ihr gesamtes Leben ändern sollte. Wochenlang, Monate lang hatten sie alle nicht geschlafen. Ihre kleinen Geschwister hatten oft geweint, vor Übermüdung und weil sie die Anspannung im Haus spürten. Und dann kam der Brief. Fast wirkte es wie eine Erleichterung. Innerhalb einer Woche sollte die Familie Deutschland verlassen. Ihr Duldungsstatus, den sie seit Jahren hatten, wurde nicht verlängert. Falls sie sich weigerten, würde die gesamte Familie abgeschoben. Sie erinnert sich, wie sie nach Hause rannte. Ihre Mutter ist Analphebtin, ihr Vater kann selbst auch nur minimal lesen. Die Familie hatte auf sie gewartet, damit sie den Brief allen vorlesen konnte. Tränen formten sich in ihren Augen und sie musste sie ständig wegwischen, um den Brief fertig vorzulesen. Deutschland wollte sie nicht mehr haben. Sie sollten in ihre Heimat zurück. Welche Heimat? Deutschland war ihr Zuhause. Sie war dort geboren. Ist in den Kindergarten und zur Schule gegangen. Eine andere Heimat als Deutschland kannte sie nicht. Sie hatte das Land bisher auch nie verlassen. Nicht, weil sie nicht wollte. Sie durfte es nicht, weil ihr Duldungsstatus es nicht zuließ. Nicht mal zur Klassenfahrt letztes Jahr durfte sie mitfahren, weil sie ihre Stadt, die ihre Eltern nach ihrer Flucht nach Deutschland zugewiesen bekommen hatten, nicht verlassen sollte.
Im Brief wurde der Familie zugesichert, dass sie Sprachunterricht in ihrer Heimat bekommen würden, wenn sie dies benötigten. Welche Logik war das denn? Sprachunterricht für ihre „Muttersprache“? Auch jetzt, hier im Kosovo, sprachen ihre Eltern mit ihr Deutsch. Eine andere Sprache konnte Enisa nicht. Ein paar Wörter in Romanes fielen ihr vielleicht noch ein. Aber Albanisch war eine völlig fremde Sprache. Und trotzdem sollte sie hier nun zur Schule gehen. Versucht hat sie es sogar. Obwohl sie wusste, dass sie nichts verstehen würde. Doch schon auf dem Schulweg wurden Steine nach ihr geworfen. Ihre neuen, kosovo-albanischen Nachbarn wollten sie nicht hier haben. Enisa verstand nicht, was hier los war. Die Worte, die ihre Nachbarn ihr zuriefen, ergaben keinen Sinn. Sie nahm aber an, dass es böse Worte waren. Beleidigungen. Die Steine sprachen ja für sich. Seit Tagen war sie vor Angst nicht mehr auf die Straße gegangen. Sie vermisste ihre Freundinnen. Das Lachen, das sie mit ihnen teilen konnte. Und sogar die Mathestunden erschienen ihr aus der Ferne nun nicht mehr so schlimm. Sie würde jeden Tag Mathe lernen, wenn sie nur wieder nach Hause könnte.
Sie nahm die kleinen Holzstücke in die Hand und trug sie ins Haus. Ihre kleinen Geschwister spielten im Wohnzimmer. Sie legte das Holz neben den Ofen und ging in die Küche. Schon im Flur hörte sie ihre Tante und ihre Mutter flüstern. Und das Schluchzen ihrer Mutter erkannte sie auch schon. Es war mittlerweile ein Geräusch, das sie ständig begleitete. Und das Gefühl von Hilflosigkeit, dass sich in ihrer Kehle festgesetzt hat. Sie wusste einfach nicht, wie sie die Situation verändern könnte. Nichts schien zu funktionieren. Emails von Freunden und Bekannten aus Deutschland, die ihnen zusicherten, dass sie weiter für Enisas Familie kämpfen würden, änderten auch nichts an der Situation. Und Enisa fragte sich, wie dieses Haus mitten im Kosovo zu ihrem neuen Zuhause werden konnte. Und wie sie jemals geglaubt hat, dass Deutschland ihre Heimat gewesen ist. Welchen Illusionen war sie nur verfallen? Dieses Gefühl, in ihrer Heimat nie gewollt worden zu sein zerriss ihr das Herz. Was hatte sie denn getan? Warum durfte sie Deutschland nicht als Heimat haben? Und warum glaubt die deutsche Behörde, dass das fremde Kosovo ihre Heimat sei? Wie kann etwas Fremdes Heimat bedeuten? Denn Heimat, dass sollte doch Geborgenheit und Vertrautheit sein. Und Sicherheit. Und nicht ein Ort, von dem man von einem Moment auf den anderen vertrieben wurde.
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