Fremd in Europa
Was bedeutet es eigentlich, fremd zu sein? Sprechen wir über Gefühle oder einen Aufenthaltsstatus? Kann Heimat auch fremd werden? Was sind Grenzen und wer legt sie für uns fest?
Fremd sein – ist das ein Status oder doch nur ein Gefühl? Wodurch wird „fremd sein“ definiert und wovon hängt es ab?
Auf meinem Weg nach Europa, genauer gesagt Deutschland, durchquerte ich die Länder Belarus und Polen. Je weiter ich mich von meiner Heimat Russland entfernte, desto mehr merkte ich, wie sich Landschaft und Leute änderten, wie die mir so vertraute russische Sprache durch das lustig klingende Weißrussisch, später durch das mir fast unverständliche Polnisch ersetzt wurde. Ich war erfüllt von Neugier und positiven Erwartungen. Ganz und gar ohne Fremdgefühl freundete ich mich mit dem verheißungsvollen, international klingenden Wort „Ausländerin“ an.
Aber nicht alles sollte so schön sein, wie ich es mir am Anfang erhoffte. Während meiner Zeit in Deutschland merkte ich, dass die Leute nicht ganz so interessiert an mir war, wie ich an ihnen. Auch unterschied sich der Alltag nicht sonderlich von dem meines Heimatlandes.
Dennoch kam der Kulturschock bald darauf. Wenn man in der Welt GUS-Staaten aufgewachsen ist, welche ein gemeinsamer Sprach- und Kulturraum eint, wo die Leute sich weniger durch ihre Mentalität und ihren Umgang miteinander als durch Äußerlichkeiten im Alltag unterscheiden, dann spielen Landesgrenzen eine untergeordnete Rolle. In Deutschland hingegen tun sich schon große Unterschiede auf, wenn es um den Umgang zwischen den Bewohnern zweier benachbarter Städte geht. Mal ist es ein banaler Dialekt, mal schlicht der Wunsch, sich in irgendeiner Eigenschaft vom Nächsten zu unterscheiden. Gerade letzterer begegnet mir immer öfter: die Leute wollen sich unterscheiden, allerdings nicht anhand nationaler Kriterien sondern politischer, religiöser oder musischer Geschmäcke. Mann könnte also meinen, dass ein Europäer in seiner europäischen Heimatstadt sich fremd fühlen kann, und zwar nicht durch seinen Status sondern durch seine Selbstwahrnehmung.
Der Trend der Individualisierung schlägt sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und in vielen Ländern nieder. Außer Deutschland habe ich Polen, Frankreich und Österreich besucht. In Paris dürfen zum Beispiel Touristen, also „Nichtpariser“ keine herkömmlichen Tagestickets kaufen, sondern müssen teure Touristenspezialtickets erwerben. Wenn man sich in Wien Hochdeutsch spricht, wird man sogleich gefragt, ob man aus Deutschland komme. Natürlich kann das im Rahmen der Neugier geschehen, dennoch kam es mir oft so vor, als ob die Leute mich in eine bestimmte Schublade stecken wollen. Bin ich evangelisch oder katholisch? – Von der Frage nach „orthodox“, meiner Konfession, ganz zu schweigen – Mag ich jene Fußballmannschaft mehr als die andere? Höre ich Pop oder Rock?
Langsam begann ich zu verstehen und mich an derartige Entscheidungsfragen zu gewöhnen. Dann aber lernte ich Menschen kennen, die wie ich im Ausland gewesen waren und ein Interesse an tiefgründigeren Themen hatten. Schnell wurden wir uns über die Banalität von Grenzen und Kategoriedenken einig. Wahrscheinlich haben wir alle ähnliche Emotionen durchgemacht: wie sich Landschaften, Sprachen und Währungen ändern, die Menschen aber die gleichen bleiben. Sie gehen arbeiten, hören ihre Lieblingsmusik und suchen ihr Glück im Leben. So sehe ich sie morgens in der Schlange im „Netto“, ob Anwalt oder Punk, und sie kaufen dieselben Brötchen und denselben Frischkäse.
Nach einiger Zeit in Deutschland begann ich auch über meine Identität nachzudenken. Viele meiner neuen Freunde sprachen mich darauf an. Was ist typisch russisch? Was machen die Russen und was machen sie nicht? Ich denke, es ist für jedermann schwer, seine nationale Identität von der Seite zu betrachten und diese zu abstrahieren. Aber gerade diese Denkweise hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen.
Mittlerweile habe ich mich fast vollständig an das Leben im Ausland gewöhnt. Mit leichter Traurigkeit musste ich feststellen, dass mir ein deutsches Mädchen, das gerade vom Freiwilligendienst aus Südafrika zurückgekehrt war, näher steht als die Nachbarin in meiner russischen Heimatstadt. Aber am schönsten ist die Gewissheit, dass ich, wenn ich zurückkehre, meine Heimat wieder lieben lernen kann. Denn die Grenzen unserer Heimat definieren wir uns selbst. Der eine verbindet Heimatgefühl mit seinem Stadtviertel, ein anderer mit seinem Herkunftsland. Ich verbinde dieses Gefühl jetzt sogar mit Europa. Ich habe Menschen kennengelernt, die sich nicht als Staatsbürger eines Landes, sondern als Europäer begreifen. Ich glaube, dass auch ich mich – ob ich möchte oder nicht – einem solchen Ideal nähere.
Was bedeutet es, fremd zu sein? Hat es überhaupt eine Bedeutung, wenn doch im Grunde so vieles von unserer Vorstellung abhängt? Wenn wir die Grenzen unserer Weilt selbst für uns festlegen?
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