Freifahrtscheine für den Nahverkehr
Eine der modernen Utopien ist ein kostenloser Nahverkehr: Mit kostenlosen Bussen, Straßenbahnen oder Regionalbahnen soll das Grundrecht eines jeden Menschen auf Mobilität erfüllen. Aber ist das überhaupt realisierbar?
Als Dorfkind weiß man den Nahverkehr zu schätzen, denn er ist häufig die einzige Option, aus seinem kleinen Heimatdorf herauszukommen. Um ins Kino zu gehen, um einen Kaffee trinken zu gehen oder meine Freund zu treffen, für all das musste ich mindestens 20 Minuten mit dem Bus in die Städte in meinem Umland fahren - Und jeder Weg hat mich rund 3 Euro gekostet. Damit werden Aktivitäten für Jugendliche und Kinder zu einer Geldfrage und für manche Familien nicht mehr tragbar. Viele Schulen ermöglichen zwar auch Monatstickets und für einkommensschwache Personen gibt es Sozialtickets, aber diese Tickets sind räumlich sehr begrenzt (von der Schule/Arbeit nach Hause und zurück) und häufig mit viel Bürokratie und Formularen verbunden.
Mobilität ist ein Grundrecht: Es ermöglicht uns, uns weiterzubilden und zu Arbeiten, Freunde zu besuchen, andere Städte zu erkunden, uns zu engagieren und den verschiedensten Menschen zu begegnen. Kostenloser Nahverkehr würde also vielen jungen Menschen Aktivitäten ermöglichen und vielleicht sogar helfen, ihren Horizont zu erweitern. Darüber hinaus, ist ein kostenloser Nahverkehr auch die Option, wenn man über eine Reduktion von Abgasen und Luftverschmutzung in den Städten nachdenkt: In vielen europäischen Städten sind die Abgaswerte grenzwertig, und ein Leben in der Stadt belastet die Lunge wie Kettenrauchen. Das ist bedrohlich, jährlich sind so global 3,3 Millionen Todesfälle auf Feinstaub zurückzuführen, und die Tendenz ist steigend: Mit wachsender Weltbevölkerung und Wohlstand werden immer mehr Autos produziert und genutzt, und die Belastung scheint kaum einzugrenzen. Dazu kommt natürlich die Einsparung allgemein an Emissionen und Umweltbelastung, die den Zustand des Klimas und der Natur wenn auch nicht verbessern, aber zumindest weniger verschlechtern
Diese sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Aspekte heizen die Diskussion an, die allerdings von Pragmatismus überschattet wird: Der Sprecher des Deutschen Verkehrsverbund erklärt in einem Interview, dass das vorhandene Infrastruktur-Netz in Deutschland einem plötzlichen Anstieg an Fahrgästen nicht unterhalten könnte und völlig überlastet wäre. Vermutlich so überlastet, dass viele Menschen angesichts überfüllter Busse und ständig verspäteter Bahn wieder auf das Auto zurückgreifen würden.
Aber bei aller Kritik und Realisierungsproblemen: Die estnische Hauptstadt Talinn demonstriert, dass das Modell Kostenloser Nahverkehr möglich ist. Seit 2013 sind dort die Öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos, wodurch nun 10% mehr der Einwohner das Angebot nutzen. Außerdem macht das die Stadt um einiges attraktiver, rund 30.000 Menschen sind in den letzten Jahren zugezogen, die mit ihren Steuern den Nahverkehr mitfinanzieren.
Es müsste ja auch gar nicht komplett kostenlos sein: In Wien kostet eine Jahreskarte des lokalen Nahverkehrs 365 Euro - Was dem kostenlosen Fahren schon ziemlich nah kommt. Und mit diesen Einnahmen plus staatlichen Subventionen könnten dann die Verkehrsnetze und Systeme ausgebaut werden - Was ohnehin angesichts des Klimawandels und des demographischen Wandels notwendig wäre. Und das belebt nicht nur die Städte, sondern vor allem auch die ländlichen Gebiete: Auf dem Land aufzuwachsen ist weniger trist, vielen Menschen wird so angemessne und fach-gerechte Arbeit ermöglicht sowie Kultur- und Bildungsangebote zugänglich gemacht.
Angesichts dieser Argumente und Perspektiven wirkt die Idee des kostenlosen Nahverkehrs weniger utopisch: Natürlich wird es nicht einfach, Investitionen in die Infrastruktur sind nötig sowie staatliche Subventionen in die Verkehrsbetriebe, aber es ist möglich. Und es wird zu einer relevanten Frage der Zukunft: Wollen wir in einer sozialen, gerechteren Gesellschaft leben? Sollen die Armen zuhause bleiben, die Menschen vom Land flüchten und Radfahrer besser aufpassen?
Unsere Generation muss utopisch denken, um eine lebenswerte Zukunft für alle zu ermöglichen.
https://www.mpg.de/9404032/sterberate-luftverschmutzung-todesfaelle
http://www.taz.de/!5589087/
https://www.freitag.de/autoren/felix-werdermann/bus-und-bahn-kostenlos-rechnet-sich