Erwartung > Erfahrung > Erkenntnis
"Wer nichts erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden." Aber er kann auch keine neuen Erfahrungen sammeln und alte Ansichten verändert sehen. Gerade diesen Prozess erlebt Lockenjule in Moldawien täglich.
Diese gedankliche Schrittentwicklung ist wohl Hauptursache dafür, dass viele Freiwillige sich während ihres Dienstes zumindest in ihrer Gedankenwelt ein wenig verändern.
Einige der hier arbeitenden Freiwilligen sagten anfangs, dass sie ohne Erwartungen hergekommen seien. Mal abgesehen davon, dass ich ihnen nicht glaube, finde ich die von ihnen wahrscheinlich als vorbildlich betrachtete Einstellung dem eigenen Lernprozess überhaupt nicht zuträglich. "Wer nichts erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden", wurde mir dann immer noch mit weisem Blick verraten. Aha. Allerdings kann man dann auch seine Meinung nicht ändern, seine Ansichten revidieren oder seine Ansprüche überdenken. Man HAT das alles dann nämlich nicht. Fraglich nur, welcher Lernprozess oder welche Entwicklung daraus erwachsen soll, wenn die Grundlage aus schlichter Gleichgültigkeit besteht. So viel zu meiner Theorie.
Um das ganze rund zu machen: Ich hatte und habe Erwartungen. Und gerade in den letzten Tagen ist mir wieder mal meine eigene Horizonterweiterung okkasionell bewusst geworden.
So habe ich letzten Freitag (heute ist Montag, der 30. November) das erste Mal in meinem Leben Tanzunterricht für Frauen gegeben. Und, ich muss sagen, meine Erwartungen wurden bei weitem übertroffen. Eigentlich graute mir ein wenig vor der Stunde, denn die Frau, die um den Unterricht gebeten hatte, stellte für mich den dicken, unzufriedenen, noch immer unverheirateten Hausdrachen des Projektes dar. Es kam auch erstmal nur noch eine andere Frau, um zu sehen, wie die Kinder reagieren und ob es klappt. Und siehe da, die Stunde war ein voller Erfolg. Die sonst etwas griesgrämige Dame und eine Freundin von ihr blühten richtig auf, während sie mit Klingeltüchern bestückt ihre ersten Bauchtanzbewegungen lernten. Jetzt soll ich gleich zweimal die Woche unterrichten und es werden auch mehr Frauen. Juppheidi.
Meine Erwartungen immer mehr unterbieten hingegen die vier Teenager-Mädchen, denen ich Tanzunterricht gebe. Die Stunden bestehen großteils nur noch aus gegenseitigem Angefauche, Gekreische und Witzen über mich (vor mir, in dem Glauben, ich würde es nicht verstehen). Das Witze machen habe ich der schlimmsten Zicke mittlerweile schon abgewöhnt, aber das hier in allen Altersklassen übliche Rumgebrülle kann ich wahrscheinlich nicht vermeiden. Zumindest kann ich so schon mal für meine spätere Karriere als Oberschullehrerin trainieren, zu ignorieren bzw. angemessen auf derartige Ausbrüche zu reagieren. Ich entwickle allmählich Strategien.
Letzten Samstag hingegen stellten sich meine Erwartungen als schlichtweg überholt und überzogen heraus. Ich begleitete nämlich eine andere deutsche Freiwillige zu ihrer Arbeit als Deutschlehrerin für Jugendliche und Studenten, die in freiwilligen Kursen eine zusätzliche Sprache erlernen. Ich erwartete eine Art Klassenraum mit grüner Tafel und schweigend, etwas schüchtern mitschreibenden moldawischen Studentinnen Anfang 20. Ich wohnte einer Stunde bei in einem Raum nicht größer als ein kleines Kinderzimmer, mit einem großen langen Tisch und 15 Plätzen, die meisten davon besetzt. Besetzt mit zwei ca. 20-jährigen tatsächlich interessierten Studentinnen, die im Wesentlichen den Unterricht mit Antworten füllten.
Mit mehreren scheu schauenden eher etwas unverständig scheinenden Damen gleichen Alters, die ständig quer über den Tisch ihre Schreibergebnisse auszutauschen versuchten. Mit einer 50-jährigen ebenfalls von der deutschen Grammatik verwirrten Frau, der ich zu helfen versuchte; was sich allerdings dahingehend als schwierig herausstellte, dass die andere Freiwillige vorn die ganze Zeit etwas Falsches erklärte. Und mit drei absoluten Störenfrieden am Ende des Tisches – zwei Herren um die 18 und zwischen ihnen eine hochpubertierende Fünfzehnjährige (wenn ich mir die Einschätzung mit 19 schon erlauben darf); alle drei ständig um ihre Paarungschancen und das Wohl ihres Handy bemüht.
Leider kam die deutsche Freiwillige in keinster Weise gegen die drei an und ich wollte mir nicht erlauben, einzugreifen und die drei einfach des Raumes zu verweisen bzw. spontan eine Partnerarbeit mit neu gemischten Gruppen vorzuschlagen. Allerdings habe ich in dieser Stunde (und auch davor, als ich mir Buch und Arbeitsheft der Gruppe flüchtig ansah) so bei mir gedacht, dass ich das sicher auch könnte. Vielleicht oder sogar gewiss auch besser als die Stunde, die ich erlebt habe. Und gibt es eine bessere Vorbereitung für mein Lehramtsstudium? Wohl kaum! Deshalb werde ich, sofern die Chefin es als sinnvoll empfindet, ab Januar auch einen Kurs leiten und sehen, wie gut ich Leuten Dinge erklären kann, die nur einfache deutsche Wörter verstehen und den Konjunktiv 2 bilden lernen sollen. Hach, noch mehr dozieren, das wird ein Spaß.
Zum Abschluss noch schnell eine Erfahrung, die meine Erwartungen teils bestätigt, teils übertroffen hat. Am Samstagabend war ich mit einigen anderen Freiwilligen im Theater zu einer Zigeunershow (oh pardon, Roma und Sinti muss man ja sagen, auch wenn sie sich selbst Zigeuner nennen). Anderthalb Stunden lang ausgelassenes Bühnenprogramm: Frauen, die in weit schwingenden Röcken, klingelnden Tüchern und rabenschwarzen Haaren über die Bühne stolzieren; Männer, die roten Stiefeln, schwarzen Hosen und bunten Hemden laut jauchzend Volkstänze aufführen; Sänger, die halb wehklagend halb jodelnd von Liebe und Lust singen, begleitet von den schnellen und immer schnelleren Klängen von Geigen, Trommeln und Tuba.
Und die Zuschauer schienen in keinster Weise schlecht über jene schillernd kostümierten Schausteller zu denken. Einige johlten, klatschten und Pfiffen laut mit, andere rannten ständig mit Blumensträußen auf die Bühne, andere beließen es bei einem BRAVO! Während des Applauses oder einem "Frieden für Moldawien!", als der schneidige Moderator in glitzernd-bunter Weste danach fragte, was sich alle fürs neue Jahr wünschten. Nicht, dass ich jemals schlecht über Zigeuner gedacht habe, ich weiß ja kaum etwas über dieses bewundernswerter Weise trotz aller Globalisierung eisern an Tradition festhaltendes Völkchen. Jetzt weiß ich zumindest, dass sie gern zeigen, wie viel sie haben und als Tänzer und Stimmung-Macher bestens geeignet sind. Und, dass einige von ihnen russisch-sprachig sind.
Zusatz: Eine weitere Erfahrung soll hier noch genannt werden, deren Vollendung jedoch den ersten Dezembertag erforderte. Rosi und ich haben nämlich den ganzen November über Süßigkeiten gefastet. Keine Nutella, keine Kekse, kein Pudding, keinen Kuchen, keine Schokolade, keine Bonbons, keine süßen Cornflakes usw. Soviel zu meiner Erkenntnis: Wenn man zu Haus nichts hat, fehlt es einem auch nicht. Wenn aber bei Partys etc. das Gruppengefresse los geht, dann fällt es einem wirklich schwer, nicht auch zuzugreifen. Man wird auch nicht schlanker, wenn man keine Süßigkeiten isst. Dies ist ein absoluter Irrglaube. Man isst nämlich umso mehr Brot mit Marmelade oder Müsli mit Honig und rundet die Hüften genauso.
Wohl aber schärft es die Sinne für die tägliche Begegnung mit Süßem. Als wir am letzten Tag der Fastenzeit für den ersten Dezember (und das dann geplante große Süßigkeitenfestessen) einkaufen gingen, hätte ich mit verbundenen Augen durch den Supermarkt gehen können, ich hätte ALLES Süße am Geruch erkannt. Ist euch jemals aufgefallen, dass es vor dem Schokoladenregal enorm nach Schokolade riecht, trotz Verpackungen? Mir bis dahin auch nicht. Und der große Schmaus am Spätnachmittag des ersten Dezembers, gestern, war natürlich eine hundertmal größere Wonne als es ohne vorheriges Fasten gewesen wäre.
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