Eine Sprache, die scheinbar keinen Regeln folgt
Nicht nur "Deutsche Sprache, schwere Sprache" - Estnisch eben teilweise auch
Am Anfang hatte ich ziemlich das Gefühl, etwas verloren zu sein. Alles hörte sich gleich für mich an, wenngleich ich lesen konnte, wie verschieden die einzelnen Wörter waren. Ich brauchte ein paar Momente bis ich heraushörte, wo sich Anfang und Ende eines Wortes in einem gesprochenen Satz befanden - noch länger brauchte ich, um mich selbst verständlich auszudrücken.
Dabei ist es eigentlich gar nicht so schwer: Alles wird gesprochen, wie es geschrieben steht, und die Buchstaben sind wie im Deutschen.. wären da nicht die abweichenden Vokallaute a, ä, e, ei und die für mich gegenteilige Aussprache der Konsonanten g, k, d, t und b, p (aber bei Letzterem nicht so stark).
"a" hört sich für mich eher wie ein offenes "o" an, "ä" manchmal wie ein deutsches "a", manchmal wie ein deutsches "ä" , "e" ganz oft wie ein "a" - vor allem wenn es am Ende eines Wortes steht - und "ei" nicht wie das für mich gewohnte "ai", sondern mit "e-i" wie in "ey".
Ich habe bis jetzt noch keinen richtigen Plan, wann und wie diese gesprochen werden, ich tue es einfach auf gut Glück - wie das meiste im Estnischen. Denn das Schlimmste, was man tun kann, ist Esten zu fragen, ob es irgendeine Regel gibt, wie die Wörter verändert werden. Die Antwort, die ich nun schon sehr oft darauf bekam, ist, "nicht wirklich".
Also habe ich relativ schnell damit begonnen, die Freiheit der estnischen Sprache nicht als Last zu sehen, sondern sie kreativ auszunutzen. Und ich muss sagen, mir macht es sehr viel Spaß :-D Die Satzstellung ist beliebig umstellbar, man kann mühelos Sätze erweitern oder verkürzen, je nachdem wie viel Information enthalten sein soll, und man hat keinen Stress, wenn man ein Wort vergessen hat - man fügt es dann einfach hintenan.
Weil ich auf der Arbeit auch immer nachfrage, wenn neue Wörter auftauchen oder mich etwas verwirrt, haben nun auch ein paar Esten zum ersten Mal im Leben ein Gefühl dafür, warum immer gesagt würde, Estnisch sei schwer zu lernen. Nämlich genau dann, wenn sie erklären wollen, warum bestimmte Begriffe und Konstruktionen so existieren, wie sie es tun, jedoch keine plausible Erklärung dafür finden.
Aber ich will diese Sprache nach meinem Auslandsaufenthalt beherrschen so gut es geht und deshalb habe ich auch eine gewisse Motivation, die mich immer weiter antreibt und von meinem Umfeld hier genährt wird. Dass ich dabei etwas von meiner Muttersprache "verliere", gehört wohl ein Stück weit dazu.. doch nie für immer.