Eine Frage der Würde
Eine Melodie aus Trommeln, Pfeifen und den Rufen tausender Menschen ändert schlagartig ihre Klangfarbe, es wird geschrien, es donnert und Rauch steigt auf. Mit dem „Marsch der Würde“ demonstrierten am Samstag tausende Spanier in Madrid gegen Kürzungen, die Massenarbeitslosigkeit und die sozialen Missstände in ihrem Land. Wut, Frustration und Verzweiflung ließen die friedlichen Proteste am Abend eskalieren.
Nach zwei Jahren Rezession, wird zum ersten Mal wieder von einem Wirtschaftswachstum in Spanien gesprochen. Aber hat sich das Land von der Krise erholt? Noch lange nicht. Die gigantischen Arbeitslosenzahlen verbleiben, ein Viertel der Spanier ist unbeschäftigt, bei den Jugendlichen ist es sogar die Hälfte. Die rein wirtschaftliche Krise von 2008 hat sich entfaltet und ist heute auch von politischer, sozialer und institutioneller Natur. Bereits im März 2011 entstand eine große Protestwelle, „15 M“, primär unterstützt von jungen Spaniern, die für eine bessere Zukunft ihrer Generation demonstrierten. Im selben Jahr wurde der konservative Mariano Rajoy der PP (Partido Popular) zum Präsidenten gewählt. Er versucht seitdem den Sparauflagen der EU nachzukommen und Spaniens Staatsdefizit von 30 Milliarden Euro abzubauen. Rajoy kürzt bei den Behörden und der Sozialversicherung, erhöht die Steuern und spart bei Bildung und Renten. Mit welchem Ergebnis für die Bevölkerung? Die Initiatoren des „Marsch der Würde“ sehen es so: „ohne Arbeit, ohne Haus, ohne Gesundheitswesen, ohne Pension, ohne Studium, ohne Zukunft - ohne Leben!“.
Die Idee für den „Marsch der Würde“ stammt von einer andalusischen Arbeitergewerkschaft, die „Einheit zwischen allen Ausgebeuteten und Geschädigten der kriminellen Politik der PP“ schaffen will. In fast allen Autonomen Regionen vereinigten sich Gruppen von insgesamt tausenden Demonstranten, sodass insgesamt sechs verschiedene Routen aus allen Himmelsrichtungen in die Hauptstadt führten. Einige Gruppen machten sich bereits vor drei Wochen auf den langen Weg, um an diesem Samstag pünktlich zum großen Zusammentreffen in Madrid am Bahnhof Atocha anzukommen. Ein Teilnehmer berichtet, dass seine Füßen nur noch aus Blasen bestehen, aber „das Miteinander heile alles“. Etwa 300 Organisationen unterstützen die Märsche mit Verpflegung und Unterbringung.
„Brot, Arbeit und Wohnung für alle“
Die Kritik ist scharf und die Forderungen deutlich. Die Hauptparole lautet „Brot, Arbeit und Wohnung für alle“, drei Säulen der Menschenrechte. Die Mehrheit der Spanier fühlt sich von der Politik verraten, belogen und aufgegeben. Der Vorwurf: die Regierung repräsentiere nur Banker und Unternehmer und lässt die Arbeiter für die Schulden der Bankenkrise bezahlen. „Wir zahlen eure Krise nicht“ heißt es auf vielen Bannern. An diesem Samstag erschienen tausende Arbeiter, Jugendliche, Studenten, Familien mit Kindern und Rentner, um der Gerechtigkeit eine Stimme zu verleihen. Diese bunte Ansammlung stellt die Mehrheit einer Bevölkerung dar, mit Beschäftigten, Unbeschäftigten, mit jungen und alten Menschen. Sie sind die Majorität einer Nation und doch scheinen sie machtlos gegen das, was im Land und in der Politik passiert. Viele sprechen von einem „sozialer Notstand“, keine Arbeit, keine Mindestrente, dafür Kürzungen und Steuererhöhungen. Die Menschen ertrinken in Hypotheken, und die Jugend muss das Land verlassen, um sich eine Zukunft zu suchen.
An diesem Samstag begleiten etwa 50 000 Menschen den „Marsch der Würde“. Nach dem offiziellen Start um 17 Uhr setzten sich die Demonstranten am Bahnhof Atocha in Bewegung in Richtung des Platz Colóns, Blauer Himmel, bunte Flaggen der verschiedenen Provinzen, Parolen und Trillerpfeifen bestimmen das erste, friedliche Bild des Marsches. Die Vorlesung des Manifests um 19 Uhr auf dem Platz Colon markiert das Ende des offiziellen Programms. Etwa 200 Demonstranten reicht der friedfertige Widerstand nicht, sie beginnen mit Steinwürfen auf den Sitz der PP, zünden Container an und zertrümmern die Fenster von Bankfilialen. Die Situation eskaliert und trotz der Präsenz von 1650 Schutzpolizisten gibt es am Ende nach offiziellen Angaben 20 Festnahmen und 101 Verletzte, davon 67 Polizisten.
Wie geht es weiter, Herr Rajoy?
Ein Blogger kommentierte am Samstag über Twitter: „Wenn die Märsche gewaltsam gewesen wären, hätte es weder in Spanien, noch in Europa genug Streitkräfte gegebenem, um sie niederzuschlagen“. Aber genau darum ging es bei dieser Protestbewegung nicht. Die Bürger sollen aktiv für ihre Rechte einstehen, sich versammeln und weitere Menschen mobilisieren, erklärt Julio Anguita, Politiker der Kommunistischen Partei Spaniens. Aber der Weg zu diesem Ziel ist gewaltfrei, „unsere einzige Waffe ist die Intelligenz“. Die Würde sei dabei die Grundlage des Kampfes und gleichzeitig erinnert die Würde die Menschen daran, dass sie kämpfen müssen. „Brot, Arbeit und eine Wohnung“ - die Leitparole des Marsches sind Forderungen nach fundamentalen Menschenrechten. Es klingt fast bescheiden, wenn als Ziel einer Demonstration ein „würdevolles Leben“ steht, aber im Gegenteil: es ist eine der größten Herausforderungen, vor die sich die Mehrheit der spanischen Bevölkerung zur Zeit gestellt sieht.
Was bleibt vom „Marsch der Würde“ und wie geht es weiter, Herr Rajoy? Hören Sie zu, wenn der Großteil der Bevölkerung zu Ihnen spricht? Der schlimmste Fehler zwischen Ihrer Beziehung zum Volk liegt vielleicht im Misstrauen: die Skepsis der Menschen, bei Ihrer Unterstützung von Banken, Ihrer Zusammenarbeit mit der Troika und die Zweifel an Ihrem Interesse, sich für eine bessere, würdevollere Zukunft der Spanier stark zu machen. Die Demonstrationen wurden am Sonntag und Montag fortgesetzt und sind vermutlich noch lange nicht am Ende angekommen. Die Wünsche der Spanier sind nicht weltfremd, sie möchten ihren Alltag wieder lebenswert machen, Chance auf Arbeit haben, von ihren Renten leben können und die Bildung ihrer Kinder bezahlen können . Bis dahin wartet noch ein beschwerlicher Weg, bei dem man nicht weiß, wann und wo man ankommt und ob man am Ende mit seinem Ausblick, also seinen Perspektiven, zufrieden ist.