Ein Zwischenbericht
Johannson hat eine zweiwöchige Kajaktour durch Polen hinter sich. Er beschreibt Eindrücke von einem Land, das ihn auf vielfache Weise berührt, durch Schönheit und durch Armut. As usual a bilingual report.
Jetzt bin ich also zurück aus der Wildnis und natürlich werde ich jetzt nicht anfangen, zwei Wochen Kajaktour zu beschreiben. Da ich morgen gleich zum nächsten Campingplatz weiterfahre und mich ohnehin etwas ausruhen muss, da weiterhin das Leben auf dem Fluss mir beziehungsweise meinem Magen am Ende doch nicht so gut getan hat; schließlich da ich vor meinem nächsten Ausflug noch etwas das Stadtleben genießen will, darum letztendlich nur ein gewohnt kurzer Abriss dessen, was ich gesehen habe.
Auf dem Bug: Worte von Taten
Da war, für mich behütetes Kind aus Deutschland, der wirklich wilde Osten an den Grenzen zur Ukraine und Weißrussland. Enttäuschend: keine Wachtürme mit Maschinengewehren, keine Lager für Dissidenten, in acht Tagen nur eine einzige Armeepatrouille, ansonsten nur Wald und zwei Rehe. Ich habe zugewachsene Dörfer gesehen mit Holzhäusern und alten Bauersfrauen in Röcken aus grobem Stoff und mit Kopftüchern, die Blecheimer trugen. Ich habe Gärten gesehen, wie seit fünfzehn Jahren in Treuenbrietzen nicht mehr und ich habe zum ersten Mal seit Kyritz wieder schwarze Johannisbeeren vom Strauch gepflückt. Ich sah Höfe mit Vorkriegstraktoren und Scheunen, an denen rostige Werkzeuge hingen, wie ich es nur aus Heimatmuseen kenne.
Menschen in alten Häusern auf deren Fensterbrettern eingeweckte Kirschen langsam von der Sonne aufgetaut wurden. Leute, die sich freuten, Fremde zu sehen, mit Brunnen auf dem Hof, wo wir unsere Flaschen mit kaltem Grundwasser auffüllen konnten. Ich habe orthodoxe Kapellen irgendwo in einer Wiese gesehen. Verwitterte Steinkreuze mit kyrillischen Schriftzeichen am Wegesrand, wenn wir kilometerweit durch Kiefern- und Birkenwälder oder über Felder zum nächsten Laden liefen. Ich habe mit ukrainischen Jungs Wodka getrunken und ukrainische Mädchen singen gehört. Ich bin mit ihnen den Fluss hinuntergedriftet und habe mit ihnen Geburtstag gefeiert. Ich habe Eisvögel gesehen und Kormorane und hunderte Störche auf dem Bug, der viel kleiner und flacher und wilder war, als ich es gedacht hatte. Ich habe sowohl das Heiligtum Pratulin gesehen, als auch ein katholisches Jugendfestival und auf der Suche nach einer Toilette habe ich leichten Hausfriedensbruch begangen. Ich bin die Schienen entlang bis nach Sobibór gelaufen.
Die Mieckiewicza: Im Wunderland
Natürlich habe ich viel mehr gesehen und erlebt und ich vergesse viele wichtige Dinge, doch wie könnte ich alles beschreiben? Mir fehlen die Worte. Ich kann nur die Symptome zeichnen, nicht die Essenz der Landschaft, den Geist der Fahrt. So wie ich vor zwei Wochen kurz vor dem Trip die Mieckiewicza Straße entlang gelaufen bin, außerhalb der Altstadt und sie so schön war, in der man so dicht am Leben der Menschen ist, dass es mich fast zu Tränen gerührt hat. Wo sollte ich anfangen? Mit den Turnschuhen, die zum Trocken auf dem Fensterbrett stehen? Bei den alten Jugendstilportalen der verfallenen Sozialblöcke? Bei den dunklen Eingängen mit den knarrenden Holzböden, hinter denen man jedes Mal wieder Wunder findet, die einen immer noch überraschen? In denen plötzlich die alten Verzierungen und Ornamente frisch gestrichen aus dem Schwarz leuchten? Bei den sandigen Hinterhöfen, in denen kleinere Häuser stehen, wie ich sie aus Schindlers Liste kenne? Wie die Holzkate mit wildem Garten und einem hölzernen Zaun an dem ein kleiner Junge im Sand spielt. In der kleinen Bäckerei, in der man sich setzen kann und die alten Frauen sieht, die ihre Sonntagstorte abholen und die Kinder, die schüchtern einen Zettel mit den Bestellungen der Eltern an der Theke hochhalten? Sollte ich von dem weißen Haarschopf erzählen, den man plötzlich durch eines der Fenster sehen kann, und den kleinen Wohnungen der Menschen, die man in der Ruhe des Samstagnachmittags beobachtet oder aus denen man Geräuschfetzen hört?
Es ist arm, es ist arm und schäbig und die Straße gesäumt von Second Hand Läden. Nur, wo sonst kommt man so nah an die Menschen heran, kann sie sehen ohne gesehen zu werden, außerhalb der unnormalen Situation, die ein ausländischer Gast bringt. Und am Ende der langen Straße, wenn man auch an den überfüllten alten Eisenbahnerwohnungen vorbei ist, will ich weiterlaufen, nach links in die Weichselwälder hinunter, wo sich zwischen den Kiefern Schrebergärten und Parks hinter Wellblechwänden verstecken. Was ich dabei fühle? Meine Jugend. Ich denke das ist wertvoll. Viele trauern ihr ganzes Leben, sie nicht genutzt zu haben.
Wie gut es mir geht
Ich sehe soviel. Es ist, als wenn man seinen Geist öffnet und ihn in den Wind von Eindrücken hängt. Manchmal ist er so stark, das er regelrecht an ihm zerrt und es beinahe zuviel ist. Dann denke ich, dass ich sprachlich keinen Schritt voran komme, zu wenig spreche und nichts verstehe, nicht genug mache, dass ich keine Ahnung von der Arbeit habe, unaufmerksam bin, nicht dazu lerne und nur im Weg stehe, dass ich meine kurze Zeit nicht nutze, nicht konsequent genug bin sondern nur pathetisch und in der Welt der Mareens und Melanies eigentlich gar nichts zu suchen habe. Dann wieder gehe ich unterhalb eines schäbigen Mietshauses der Altstadt vorbei, aus dessen gotischen Backsteinbögen lauter Techno dröhnt und durchpflüge die Straßen meiner Stadt so schneidig wie mein Kajak das Wasser.
Niemals natürlich komme ich auf den Gedanken, dass es sicht nicht lohnte. Steffi Kemnitz muss in ein paar Tagen aus Frankreich zurück, auch Rebekka auf der Farm geht bald den Weg aller Europäischen Freiwilligen und beide sind nicht zwangsläufig glücklich. Charlotte aus Frankreich geht im Oktober nach Rostock und ist nervös. Viele Leute beneiden mich. Und ich, ja, ich bin stolz - stolz, das ich hierher gekommen bin aus eigener Kraft. Nur manchmal merke ich, wie sehr ich nach England zurück möchte.
Benutze die Möglichkeiten
Inzwischen wurde der Tandemsprachkurs an der Ostsee wegen mangelnder deutscher Beteiligung abgesagt und ich bin wirklich sauer, weil ich mich darauf am meisten gefreut hatte. So fahre ich nur einmal nach Krokowa. In den drei Tagen, die ich bis zur Abfahrt habe, möchte ich neben dem Komfort einer Wohnung und der Hygiene eines Bads vor allem das Stadtleben genießen. Denn nach zwei Wochen mit dem Wald als Klo, Sand in den Klamotten und circa 25 Kilometer Paddeln pro Tag haben sich alle gefreut, wieder nach Hause zu kommen. Nicht weil es schlecht war, nur natürlich anstrengend. Und was kann ich hier auch alles tun! Ich verbrauche Geld wie Wasser, aber ich liebe es. An einem Tag kann ich um neun aufstehen und bis Mittag im Büro arbeiten, danach für etwa zwei Euro in einem kleinen, feinen Restaurant in einer ruhigen Seitengasse über der Wisla essen, dann einen langen Spaziergang durch die Vororte machen, um später zurück zu kommen und mir einen tollen Film im Rahmen eines Festivals anzusehen, dann ein klassisches Konzert in einer Kirche besuchen, mich anschließend in ein Café gleich gegenüber setzen bis ich die nächste Musik vom Marktplatz höre und am Abend in mein Lieblingscafe gehen, bevor ich nach Hause laufe. Alles an einem Tag und alles ohne zu hetzen. Ja, ich weiß, man kann das nicht ewig machen und, Himmel, es ist mir im Moment so egal. Darum, weil ich morgen die ersten Teilnehmer für das Workcamp in Krokowa auf dem Bahnhof erst um halb zwölf treffe und noch einen Abend habe, darum mache ich das alles jetzt nochmal.
Oh, und gerade gehen die Sirenen los. Genau jetzt vor 62 Jahren brach der Warschauer Aufstand aus. Auf in die Stadt.