Ein Portrait eines in der Slowakei lebenden Jugendlichen
David Weiß, Preisträger
Seit dem 1. Mai 2004 leben ca. 450 Millionen Menschen in der Europäischen Union. Von einem Tag auf den anderen hat sich unsere „community“ um 75 Millionen Menschen vergrößert. Etwa 15 Millionen davon waren Kinder und Jugendliche. Oftmals stellt sich nun die Frage: Was bedeutet diese Veränderung für uns selbst? Oder etwas noch Wichtigeres: Was bedeutet sie für diejenigen Menschen, die davon direkt betroffen sind, also Leute wie Du und ich, die jedoch die Erfahrung EU bis jetzt noch nicht mit uns teilen konnten.
Deswegen soll dies ein Portrait von Dir werden, aber auch ein Portrait von Mir und ein Portrait von Uns. Allerdings ist es unabdinglich hier noch auf einen einzigen Unterschied aufmerksam zu machen, welcher beim Lesen dieses Portraits stets im Hinterkopf behalten werden sollte: In den ersten 18 Jahren Deines Lebens bist Du ganz anders aufgewachsen, Ich bin 18 Jahre anders erzogen worden und 18 Jahre lang haben Wir uns anders verhalten. Dennoch, im Grunde bleibst Du immer noch Du, trotzdem bin Ich immer noch Ich und am Ende gehören Wir immer noch zusammen.
Auch wenn Wir uns (noch) nicht kennen verbindet uns etwas. Ein Band – nicht auf den ersten Blick von jedem zu erkennen, aber deswegen nicht weniger fest. Es ist ein Band basierend unter anderem auf so empfindlichen und kostbaren Dingen wie Menschlichkeit und internationalem Zusammengehörigkeitsgefühl. An einigen Stellen bis zum Zerreißen gespannt, an anderen etwas lasch daherbaumelnd, aber nichtsdestotrotz vereinigend. Das Band der EU.
Johannes kommt aus der Slowakei. Er lebt mit seinen Eltern und seinen drei Schwestern in einer für die derzeitigen Lebensverhältnisse in der Slowakei recht großen Wohnung in einem Plattenbau. Auch wenn dieser Vorort von Žilina, welchen Johannes seid 18 Jahren seine Heimat nennt, auf den ersten Blick sehr trist und deprimierend erscheinen mag, beschweren sich die Menschen in seiner Umgebung kaum. Jano, wie ihn alle eigentlich nur rufen und wie auch ich ihn ab jetzt freundschaftlich nennen werde, ist in nur ca. 500 km Luftlinie von Deutschlands östlicher Grenze aufgewachsen, kennt aber unser Leben nicht. Er hat davon gehört im Fernsehen, im Radio oder von anderen Menschen, er hat auch ab und zu davon geträumt, wie es wäre irgendwo anders aufgewachsen zu sein, irgendwo mit mehr Geld zum Leben.
Aber Jano ist nicht unglücklich – ganz im Gegenteil. Er sieht den Umschwung und die Veränderung mit seinen eigenen Augen und es gibt ihm ein gutes Gefühl. Immer wieder betont Jano, es sei nicht so, dass er den dringenden Wunsch verspüre, auf ewig fliehen zu wollen aus seinem derzeitigen Leben, oder, dass er nicht zu seinem Land stehen würde. Aber er ist neugierig und möchte die Welt kennen lernen – die Welt außerhalb seiner ganz persönlichen, sowie auch außerhalb der politischen Grenzen.
Wie schon einmal erwähnt hat Jano noch drei andere Geschwister, alles jüngere Schwestern. Sie können ziemlich anstrengend sein, das war besonders so, wenn er früher auf sie aufpassen musste. Das kommt jetzt nicht mehr so häufig vor, seit fast drei Jahren arbeitet Jano nun schon und ist wirklich nicht mehr allzu viel zu Hause. Sein Vater arbeitet gar nicht weit von Žilina in einer Verpackungsfabrik. Dort ist er zuständig für die Wartung der Maschinen. Keine schlechte Arbeit, die Janos Familie immer einen relativ guten Lebensstandard ermöglicht hat. Auch seine Mutter arbeitet einige Male in der Woche. In dem Zeitschriften-Kiosk gar nicht weit von ihrer Wohnung. Was Jano am meisten an ihr bewundert ist die Wärme und Freundlichkeit, welche sie tagtäglich ausstrahlt – trotz all ihrer Aufgaben und Verpflichtungen. Jano ist sich im Klaren darüber, dass er da anders ist: Wenn er einen schlechten Tag hatte und abends gestresst nach Hause kommt schafft er es oft nicht, so ausgeglichen und ruhig zu bleiben wie seine Mutter.
Jano betont, wenn er von sich selbst erzählt immer wieder, dass es ihm gut geht. Erinnert er sich an so manche Geschichten, welche seine Eltern ihm früher fortwährend erzählt haben, wird ihm dies nur noch deutlicher. Viel denkt er nicht mehr darüber nach, wie es wohl vor 50 Jahren gewesen sein muss, aber als er noch klein war hat er sich immer wieder vorgestellt, wie Menschen das Leben damals gesehen haben mussten. Seine Eltern scheinen es so viel schwerer gehabt zu haben, dass er sich weder beschweren sollte, noch wirklich einen triftigen Grund dazu hätte, findet Jano.
Heute ist die Zukunft, was für Jano zählt. Auch er beginnt nun, sich mit ihr zu befassen und stellt sich immer häufiger die Frage, wie es für ihn weitergehen wird. Natürlich hat Jano Träume und Hoffnungen, aber wie das so oft ist werden diese lange Zeit immer weiter in die Zukunft verschoben, bis sie schließlich auf ewig Zukunft bleiben werden. Jano hat erkannt, dass durch den Beitritt der Slowakei zur EU sich auch sein Leben verändern kann, dass seine Zukunft nun vielleicht gar nicht mehr so zukünftig ist. Zwar hat er sich noch nicht viel beschäftigt mit der Europäischen Gemeinschaft, aber neugierig ist er – sehr neugierig. Und bereit für Veränderungen.
Freiheit und Unabhängigkeit. Wenn Jano diese Worte hört, fällt ihm als Erstes Amerika ein. Die USA, das Land der „unlimited opportunities“, wie er selbst sagt. So jedenfalls sieht häufig das Bild aus, welches den Jugendlichen in der Slowakei vermittelt wird. Sich selbst sieht er nicht unbedingt als frei und unabhängig. Bis zu einem gewissen Grad bestimmt, aber nicht in dem Ausmaß, wie er es sich manchmal wünschen würde. Erst ein Mal hat er sein Heimatland verlassen, um für ein paar Tage mit seiner Mutter und seinen Schwestern nach Polen zu verreisen. Sein Vater allerdings blieb zu Hause, um seine Arbeit nicht unterbrechen zu müssen.
Es gibt Zeiten, da fühlt man sich gefangen in seiner Gesellschaft, in seinem Umfeld – vielleicht sogar in seinem Leben. Manchmal versteht man sich in eine Schublade gesteckt, bei welcher der Deckel klemmt und es somit fast unmöglich erscheint, jemals aus ihr heraus klettern zu können. Jano geht es wie vielen, sei es in Ost- oder West-Europa. Doch vielleicht kann er dieses Gefühl ein bisschen intensiver beschreiben, kann es ein wenig deutlicher spüren, wie es ist für Veränderung und Fortschritt kämpfen zu müssen. Wahrscheinlich war auch dies ein Grund, warum er den Eintritt der Slowakei in die EU mit vielen seiner Landsleute, zwar auch mit gemischten Gefühlen, aber hauptsächlich euphorisch gefeiert hat.
Den 1.Mai 2004 sieht Jano als Chance. Als Chance für ihn selbst, als Chance für uns, als Chance für Europa. Besonders für viele Menschen aus den osteuropäischen Staaten ist dies ein Schritt aus der Außenseiterrolle sagt er. Jano sieht ein, dass es ein langsamer Umschwung werden wird, aber er ist sich sicher: Es wird ein Bleibender sein. Er merkt es immer wieder. Bei der Firma, für die er arbeitet, wird Englisch als Fremdsprache immer wichtiger. Die Menschen orientieren sich mehr und mehr gen Westen, der Prozess des Zusammenwachsens ist, seiner Meinung nach, schon jetzt in vollem Gange.
Trotzdem überkommen Jano, wie viele andere Menschen in seinem Land auch, manchmal Zweifel. Wie wird sich die Eingliederung der Slowakei auswirken auf sein tägliches Leben, werden sich manche Dinge vielleicht grundlegend verändern? Er hat seinen Vater einmal sagen hören, der Beitritt zur EU sei der erste Schritt auf dem Weg zum Identitätsverlust. Ein so kleines Land wie die Slowakei würde nach Meinung seines Vaters Gefahr laufen, von dieser riesigen Gemeinschaft verschluckt zu werden. Die Menschen würden mit der Zeit die bewusste Einstellung zu ihrem Heimatland verlieren, irgendwann fänden sie keinen Bezug mehr zur Slowakei als eigener Staat. Nun mag Janos Vater vielleicht übertreiben, nichtsdestotrotz war dies für Jano ein Punkt, welcher ihm zum Nachdenken brachte. Wenn immer mehr Menschen oder einzelne Staaten sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, geht das auf Kosten des Individualismus? Bedeutet der Beitritt zur EU zwangsläufig, seine Gefühle gegenüber seinem Heimatland an zweite Position stellen zu müssen? Nein. Denn Janos Meinung nach ist es das, was die EU ausmacht, und vielleicht von anderen Gemeinschaften, wie z.B. den USA, unterscheidet: Die Vielfältigkeit innerhalb dieses Bündnisses. Es geht darum sich zusammenzuschließen, voneinander zu profitieren und zusammenzuwachsen, aber nicht darum, eine homogene Masse von Menschen hervorzubringen. Denn nur so kann der Fortschritt gesichert sein!
Dementsprechend ist Jano voll und ganz für die Vergrößerung der EU und ist sehr stolz, nun auch ein Teil von ihr zu sein. Er hat vor, ins Ausland zu gehen und dort eine Weile zu arbeiten, sich weiterzuentwickeln. Letztlich ist es jedoch sein Traum, in die Slowakei zurückzukehren und hier eine Firma zu gründen. Neue Arbeitsplätze möchte er organisieren, mit Hilfe seiner europäischen Nachbarländer.
In Wahrheit ist er davon jedoch noch weit entfernt und unmittelbar spürt er auch noch nichts von den Vorteilen der EU-Erweiterung. Am 18. Juni 2004, nur etwa eineinhalb Monate danach, wurde Jano gekündigt. Der Grund: Die Firma musste Stellen abbauen, um Geld einzusparen. Auch wenn Janos Familie nicht von seinem Job abhängig war, ist es für sie, aber besonders natürlich für Jano, ein schwerer Schlag. Plötzlich rücken sie wieder mehr in den Hintergrund, all die Erwartungen und Träume, mit welchen er sich immer intensiver beschäftigt hatte. Die Hauptrolle spielt immer noch das Leben hier und jetzt, im Plattenbau in dem Vorort von Žilina. Dennoch weiß Jano, dass er es schaffen kann. Nein, dass er es schaffen wird. Denn wenn er in den letzten 18 Jahren hier etwas gelernt hat, dann ist es, dass die Wurzeln allen Erfolgs im Vertrauen in Dich selbst liegen. Das ist oft Deine einzige Chance hier heraus zu kommen, etwas von der Welt zu sehen. Das, und natürlich harte Arbeit. Aber daran ist er ja gewöhnt.
Im Endeffekt kann die EU-Erweiterung also bezeichnet werden als ein Prozess des langsamen Zusammenwachsens der verschiedenen Nationen, ihrer Gesellschaften und schließlich jedes Einzelnen. Ein Zusammenwachsen von Dir mit Mir – ein Zusammenwachsen von Uns. Mit allen Höhen und Tiefen. Deswegen sollten wir uns alle für diesen Entwicklungsgang einsetzen und versuchen, dazu beizutragen, Europa schrittweise zu vereinen. Auf ganz persönlicher Ebene, mit ganz privaten Aktionen, und sei es „nur“ ein Schüleraustausch. Denn wer weiß, wenn man Glück hat lernt man dort jemanden kennen wie Jano. Und dieser Jemand kann einem vielleicht ein wenig die Augen öffnen und somit auch unseren Horizont erweitern. Das Zauberwort heißt wie so oft: ENGAGEMENT.