Ein norwegisches Phänomen
Ira berichtet von einem norwegischen Kulturphänomen: den Russ – Norwegens Schulabgänger. Mit alten umgestalteten VW-Bussen und selbst gemachter Kleidung feiern sie viele Tage.
Ein Russ, das ist ein norwegischer Abiturient. Oder auch ein norwegisches Kulturphänomen. Abiturienten können feiern, kein Zweifel, aber verglichen mit den Schulabgängern in Norwegen sind sie nichts. Nach fast drei Jahren auf der videregående skole, die unserer Oberstufe entspricht, beginnt am 1. Mai die Russetid, also die Abiturienten-Zeit. An unserer Schule kam am Freitag davor eine freundlich Polizistin um zusammen mit dem Direktor Verhaltensregeln zu erklären. Denn alle Jahre wieder gibt es Probleme mit den Autos, dem Alkohol und allerlei anderem.
Ein Russ zu sein, das ist nicht billig. Für gewöhnlich finden sich Freunde zusammen um gemeinsam ein „Abiturientenauto“ zu kaufen. Am beliebtesten sind wohl alte VW-Busse, die dann mit viel Zeitaufwand, Liebe und vor allem roter Farbe in ein waschechtes Russebil verwandelt werden. Traditionell in den norwegischen Farben gestrichen sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Es gibt tanzende „Babes“, dumme Sprüche und diverse andere Dinge, die sich auf so ein Auto malen lassen. Zusätzlich sind neue Verstärker, illegale Hupen mit Melodien und ordentlich Alkohol im Kofferraum fast schon Standard.
Nun hat nicht jeder Russ ein Auto, aber um die Hose kommt keiner herum. Abhängig von der Schullinie ist diese rot (Allgemeinfächer mit Studienkompetenz), blau (Allgemeinfächer mit Wirtschaft) oder schwarz. Aber auch die Hosen wären keine Russbukser, hätten sie keine individuelle Gestaltung. Eine norwegische Flagge, der eigene Name und meist der der Schule werden aufgebügelt oder aufgenäht, ein Edding für persönliche Nachrichten ist immer in einer der Hosentaschen. Neben einem weiteren, unabkömmlichen Accessoire: Den Russekort, Visitenkarten. Mit einem Bild des Besitzers, der Farbe der Hose und ein oder zwei „lustigen“ Sprüchen. Gesammelt werden die wie fanatisch von den Schülern der jüngeren Schulen, vor allem der Grundschule.
Haste nix biste nix, gilt auch hier. In einem Fach mit Sichtfenster sollte ein jeder Russ seinen Ausweis tragen, der zeigt ob er ein Russebil besitzt und von welcher Schule er kommt. Verbreitet werden diese von der offiziellen Abiturienten-Vereinigung, die auch (fast) alle Feierlichkeiten organisiert. Die Ausweise sind noch relativ neu, eine Massnahme gegen all die anderen Schüler, die sich als Russ ausgaben und so mitfeiern wollten.
Ein weiteres Kleidungsstück ist die Mütze, die farblich zum Anzug passt und mit langen Bändern geschmückt ist. Idealerweise sollte man am 17. Mai, dem einzigen Tag an dem man die Mütze tragen darf, möglichst viele Knoten in diesen Bändern haben. Aber die haben ihren Preis! Sieht man im Mai ungewöhnlich viele Jugendliche in bunten Hosen in den Bäumen sitzen so kann man sich sicher sein, dass diese gerade eine Mutprobe bestehen um einen Knoten zu bekommen. Und das ist noch eine von den Leichten! Anfang Mai im kalten Fluss zu baden, einige Stunden unter einem Regal in einem Einkaufsladen zu liegen, sich eine Stunde lang mit einem „Emo“ zu unterhalten – die Aufgaben können alles mögliche sein!
Soweit zu den Äußerlichkeiten. Eine der Sachen, auf die sich jeder wohl am meisten freut, sind die „Rechte“ die man als Russ (scheinbar) hat. Und der Grund, warum die Erst- und Zweitklässler an der weiterführenden Schule sich vor der Russetid fürchten. Denn geht man in dieser Zeit durch die Flure in der Schule, ist man der ständigen Gefahr ausgesetzt einem Russ zu begegnen, der mit einer Wasserpistole oder Schokoküssen bewaffnet ist. Immer wieder trifft man jene Unglücklichen, deren T-Shirt durchnässt und die Haar verklebt ist. Und Jahr für Jahr artet das Ganze auch aus.
Nach einem Aufeinandertreffen an der Schule mit dummen Sprüchen setzten sich zum Beispiel einige Russ in ihr Auto, flitzen zum nahen Supermarkt und kauften Mehl und Eier, um einen Freund von mir auf dem Weg nach Hause erst nass zu spritzen und ihn dann mit Mehl und Eiern zu bewerfen. Sicher hätte man noch lachen können, wären dabei nicht ein paar teure, aber empfindliche Kopfhörer zerstört worden. Auch von anderen gibt es immer wieder Berichte von Leuten, die Russ bei der Polizei angemeldet haben.
Und dann ist da noch der Alkohol. Wer jemals auf einer norwegischen Party war, weiß wie sehr die Menschen hier unglaubliche Mengen von berauschenden Dingen trinken. Laut einer Freundin war sie in eben jener Zeit vom 1. Mai bis zum 17. betrunken. Unangenehm wird es aber eigentlich nur dann, wenn die Menschen betrunken im Auto fahren.
Aber morgen ist ja der 17. Mai, der offizielle Abschluss. Die Russ werden in zahlreichen Umzügen, unter anderem zum Schloss in Oslo, stolz ihre Mützen tragen, alle werden feiern und dann ist alles vorbei. Freitag ist also irgendwie Aschermittwoch. Jedem würde ich empfehlen sich dieses lustige Grüppchen von Menschlein doch einmal zu betrachten. Zudem der Frühling in Oslo, einer der schönsten ist, die ich mir denken kann!