Ein kleiner Rückblick
Jetzt mit Ende des Jahres rückt für mich bereits die Halbzeit meines EVS näher – also werfen wir einen kleinen Blick zurück und einen weiterhin gespannten nach vorn.
Nun ist alle Weihnachtspost nach Deutschland verschickt und unsere WG hat sich für die Feiertage in alle (Heimat)Winde verstreut. Ich sitze gerade im Zug nach Danzig, wo ich mich mit meinen Eltern treffe. Auf Weihnachten zu Hause hatte ich gar nicht so viel Lust, aber es ist schön, noch mal ein bisschen mehr von Polen zu sehen.
Vielleicht sollte ich nach langer Zeit mal wieder was von meiner Arbeit berichten. Auch wenn uns auf dem Seminar erklärt wurde, dass unsere Arbeit nur ein Teil unseres Projekts ist und wir alles genießen sollen, nimmt meine Zeit im Archiv einen Großteil der Zeit ein – zugegebenermaßen sind es fast nur Pausenzeiten.
Inzwischen arbeite ich fast nur unten, „do konserwacja“, also in der Konservation/ Restauration. Pani Monika und Pan Andrzej sind unglaublich nett zu mir, denn ehrlich gesagt müssen sie mir sogar viel erklären, was ja auch Zeit kostet. Ich bin also weniger nützlich als beim Scannen, aber dafür wesentlich zufriedener. Ich lerne jetzt viel über unterschiedliche Papier- und Klebersorten. Die erste Überraschung war, dass Papier zum Reinigen gewaschen wird. Vor allem sehr alte Dokumente sind in viel besserem Zustand, weil die Papierqualität besser war. Neuere Akten, z.B. Sitzungsprotokolle der Kommunistischen Partei, müssen oft anders gerettet werden, weil moderne Tinte nicht mehr wasserbeständig ist. Risse werden also entweder bei nassem Papier geklebt oder bei trockenem mit einer speziellen Folie gebügelt. Danach geht es ums Pressen, in mehreren Schritten, befeuchtet oder nicht und am Ende sieht sogar eine über hundert Jahre alte Bibel wieder wie neu aus. Für manches Papier braucht man auch besondere Kleistersorten, der dann selbst angerührt wird. Einfach Mehl und heißes Wasser vermischen und schon hat man einen langhaltbaren Kleber ohne giftige Chemikalien.
Ich bin immer wieder erstaunt, dass mir manche Mitarbeiter erzählen, dass sie schon mit 15 oder 16 Jahren wussten, dass sie gerne in einem Archiv arbeiten wollen. Für meine wenigen Monate gibt es mit etwas Eigeninitiative doch Abwechslung, aber ich könnte mir nicht vorstellen, mein ganzes Arbeitsleben Seitenzahlen auf Dokumente zu schreiben, sie einzuscannen oder ins Inventar zu tragen. Glücklicherweise kommen die „Sorgenkinder“ zum Restaurieren aus ganz unterschiedlichen Jahrhunderten, damit ich wenigstens dadurch einen guten Überblick gewinne. Ich habe jetzt schon Sitzungsprotokolle aus den 50ern gewaschen, für Architekturpläne Schachteln gebaut, Genehmigungsscheine für Armensärge sortiert (es deprimiert jedes Mal aufs Neue, wie viele Kinder früher einfach an Lungenentzündungen gestorben sind) und SS-Bücher gebügelt. Bei allen Unterlagen aus den 30er und 40er Jahren verstört mich, mit welcher Gründlichkeit alles Offizielle mit Hakenkreuzstempeln versehen wurde oder welche Details die SS-Leibstandarte Adolf Hitler über ihre Soldaten festgehalten hat.
Zwei Feiern gab es im Archiv inzwischen auch schon. Erstere war das 65jährige Jubiläum, weil mit der Neuorganisierung des polnischen Staats etwas verzögert auch eine Umstrukturierung der Archive einherging. Gleichzeitig war es das Jubiläum für unsere Pani Direktor, die dort bereits seit 40 (!) Jahren arbeitet. Da wir annähernd 40 Mitarbeiter haben, hat ihr jeder eine Rose überreicht. Später beim (fleischlastigen) Buffet waren auch noch ehemalige Mitarbeiter da, die sich angeregt über die Diskussion von davor unterhielten. Für mich waren diese zwei Stunden Podiumsaustausch über die Historie des Archivwesens furchtbar langweilig, allerdings hat mir Malena, die polnische Praktikantin gestanden, auch nichts verstanden zu haben. Es lag also wohl nicht nur an meinen mangelnden Vokabelkenntnissen. Die Weihnachtsfeier zum Abschluss vor (meinen) freien Tagen war familiärer, weil weniger offiziell. Es gab alle typischen polnischen Weihnachtsgerichte – also bis auf die Fischplatten endlich mal alles für Vegetarier geeignet. Doch zuerst wurden Oblaten gebrochen und wir liefen kreuz und quer durchs vollgedrängte Zimmer, um gute Wünsche zu verteilen. Ich finde diese Tradition sehr schön (während man von der Oblate des Gegenübers ein Stück abbricht, wünscht man ihm alles Gute für die Zukunft), doch leider hatte ich unsere im Sprachkurs eingeübten Sätze schon wieder vergessen.
Mein Erfolgsgefühl für die polnische Sprache ändert sich eigentlich täglich. Ich versuche mich immer daran zu erinnern, dass es von keinerlei Kenntnissen am Anfang zu jetzt schon ein großer Sprung ist. Inzwischen verstehe ich Darek wenigstens teilweise, wenn er mal wieder wegen irgendwas vor der Tür steht und dank der Dauerbeschallung mit Radio Trojka auf der Arbeit kann ich einigermaßen die Uhrzeiten. Doch sobald ich einem normalen Gespräch zuhöre – am besten noch mit mehr als zwei Polen – bin ich vollkommen aufgeschmissen. An so etwas „Anspruchsvolles“ wie Zeitung lesen ist gar nicht zu denken, obwohl ich sie mir jeden Morgen auf der Arbeit ansehe, um fleißig nach Überschriften zu suchen, die ich verstehe. Sehr beeindruckt war ich von Jeanine, die vor einigen Jahren ihr EVS gemacht hat und hier dann einfach hängen geblieben ist. Inzwischen ist sie staatlich anerkannte Übersetzerin und kann sogar simultan übersetzen. Borussia hat nämlich für die Germanistikstudenten der Uni eine Autorenlesung organisiert. Der taz-Journalist Uwe Rada hat sein Buch über die Memel (Niemen) vorgestellt. Der Textauszug lag zwar auch in Polnisch vor, aber die Diskussion davor und danach hat Jeanine für die Erstsemester und Studenten anderer Fachrichtung in die Kopfhörer geflüstert. Die Master-Studenten beispielsweise sprechen alle fließend Deutsch. Ich habe also noch einen weiten Weg vor mir, was so manche sprachliche Hürde betrifft.
Die anderen Aktionen von Borussia haben ein bisschen mehr Engagement von uns verlangt. Im Kindergarten von Dorina und Chiara haben wir zum Laternenumzug die Legende von St. Martin aufgeführt – auf Polnisch. Mariusz, unser Sprachlehrer, hat einige Unterrichtsstunden auf die richtige Aussprache und Betonung verwenden müssen, aber anscheindend war es dann letztendlich verständlich – oder die Kinder haben sich einfach so über uns amüsiert. Im Dezember waren wir einen Samstagnachmittag in einem Dorf in der Umgebung von Olsztyn, um der Organisation Piekny Most bei der Weihnachtsfeier zu helfen. Wir sollten ein paar Bastelaktionen vorbereiten, nur waren die Vorabinfos nicht gerade ausführlich, so dass wir dann ein paar Stunden mit Vorschulkindern im Papierchaos im Treppenhaus gesessen haben und eigentlich eher die Eltern gebastelt haben. Schließlich hatten wir noch die Weihnachtsfeier in der Bet Tahara, wo wir Freiwilligen die Weihnachtsbräuche aus unseren Heimatländern kulinarisch präsentieren sollten. Ehrlich gesagt, hatten wir nach den letzten spärlich besuchten Veranstaltungen von Borussia das Interesse daran ein bisschen unterschätzt, aber Kinderpunsch und Omas Plätzchen haben zum Kartoffelsalat gereicht.
Laura und ich haben inzwischen auch eine Mentorin, Alicja, die hier Anglistik studiert. Sie macht sowas zum ersten Mal, aber sie ist super engagiert und eigentlich geht es auch nur darum, sich ab und zu mit uns zu treffen und zu quatschen (bisher noch auf Englisch). Unser Olsztyner Bekanntenkreis erweitert sich also stetig und diese kleinen Momente, wenn man mal unterwegs einen Nachbarn begrüßen kann, geben mir das Gefühl wirklich zu Hause zu sein.
Auch als ich heute als Letzte die Tür unserer WG abgeschlossen habe, war das das Gefühl, dass ich jetzt erst mal eine Weile nicht zu Hause bin. Allerdings mit der schönen Aussicht, durch Polen zu reisen. Weil wir uns nämlich in Olsztyn so wohl fühlen und am Wochenende in letzter Zeit oft Geburtstagsfeiern sind (lustigerweise sind wir Freiwilligen auf Dezember- oder Juli-Geburtstage aufgeteilt) oder gerade das Konzert der Band von unserem Nachbar war, sind wir wenig rumgekommen. Aber bis nach Russland will ich es eigentlich schon noch schaffen – leider habe ich vom Sommer hier nichts mehr, aber immerhin die Aussicht, auch nach Ende meines EVS die anderen wieder zu besuchen.
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