Ein Hauch Magie und jede Menge Tee
Endlich habe ich ein bisschen Zeit gefunden, um ein paar Zeilen zum wichtigsten Feiertag in Aserbaidschan zu schreiben: Novruz
Ich sitze in einem Apartment in Baku. Der letzte Tag der freien Woche für fast alle Aserbaidschaner*innen geht zu Ende. Meine Gastgeber hier müssen morgen alle wieder arbeiten gehen, nachdem sie eine Woche in jedem Haus, das sie betreten haben, gegessen und literweise Tee getrunken haben. Denn die letzten sieben Tage wurde in Aserbaidschan Novruz gefeiert. Und ich sitze nun in einem Wohnzimmer irgendwo in Baku und versuche zu reflektieren, was ich alles innerhalb der letzten Woche gelernt und erlebt habe.
Bevor ich nach Aserbaidschan kam, kannte ich nur die iranische Variante, Nouroz. Und diese auch nur aus dem Internet oder vom Hörensagen. Deswegen war ich schon etwas gespannt, denn die meisten Aserbaidschaner*innen haben mir seit Monaten berichtet, dass Novruz ihr Lieblingsfeiertag im Jahr sei. Das kann natürlich auch daran liegen, dass alle eine ganze Woche frei bekommen. Und dazu noch Feiertagsgeld von der Regierung. Nur nochmal, um das deutlich zu machen: Alle Familien bekommen Feiertagsgeld von der Regierung. Die Schlangen vor den Geldautomaten, wenn mensch sie denn überhaupt als Schlange und nicht eher als eine chaotische Ansammlung von Menschen bezeichnen möchte, nahmen neue Ausmaße an und bereits zwei Tage vor Novruz waren die Geldautomaten leer. Ich hatte schon Angst, dass ich die nächsten sieben Tage hungern muss, weil die Geldautomaten vielleicht nicht nochmal vor den Feiertagen aufgefüllt werden, aber meine Sorge war unbegründet. Auch ich konnte also zwei Tage später nach dem Auffüllen der Automaten etwas Geld abheben, um für unsere eigene Novruz-Party alle notwendigen Utensilien einzukaufen.
Aber mal vom Anfang: Novruz ist traditionell das persische Neujahrsfest, wird in Aserbaidschan aber eher weniger als Neujahrsfest, sondern mehr als Frühlingsfest begangen. Und wirklich, nachdem mir die karge Landschaft in den letzten Monaten ein wenig die Stimmung nach unten gezogen hatte, fingen die Aprikosenbäume zu Novruz an zu blühen. Als hätten sie gewusst, dass sie spätestens am 21. März ihre Frühlingspracht zur Schau stellen sollen. Das Frühlingsfest hatte damit einen schönen Blütenrahmen. Und diese Sehnsucht nach Frühling ist bereits Wochen vor Novruz zu spüren. Bereits vier Wochen vor Novruz kaufen alle einen runden Graskringel, der 'Səməni' genannt wird. Dieser Graskringel besteht aus Weizengrassamen, aus denen bereits grüne Grashalme wachsen. Einige meiner Arbeitskolleg*innen erzählten mir, dass dieses Grasgewächs Glück bringen soll. Und Glück kann ja bekanntlich nie schaden. Aber manche meinten auch, dass 'Səməni' einfach nur den Frühling symbolisiert. Ob nun Glück oder einfach nur Frühling, in jedem Fall habe ich mir auch so ein Grasgewächs zugelegt.
Aber nicht nur 'Səməni' kündigte die Vorbereitungen für Novruz an. Die vier Dienstage vor dem Fest werden bereits zelebriert. Jeder Dienstag, im Aserbaidschanischen 'Çǝrsǝnbǝ', ist einem der vier Elemente gewidmet. Beginnend mit Wind, 'yel', gefolgt von Feuer, 'od', Wasser, 'su', und am Ende Erde, 'torpaq'. An diesen Dienstagen werden je nach Region und Tradition bereits Vorbereitungen zu den Hauptfeierlichkeiten am 20. oder 21. März vorgenommen. Warum ich 'oder' schreibe? Weil Novruz in Baku am 20., in Ganja allerdings am 21. März gefeiert wird. Das zeigt mal wieder schön die aserbaidschanische Koordination, aber am Ende ist mir das ja persönlich egal gewesen. Und außerdem habe ich in meinem Haus zusammen mit meinem Mitfreiwilligen am 20. eine Neujahrsparty veranstaltet und anschließend war ich am 21. bei der Familie meines Mentors. Ich habe also Baku- und Ganja-Novruz gefeiert.
Bereits am ersten, dem Winddienstag, wünschten mir meine Kollegen bei der Arbeit einen „glücklichen Dienstag“, was mich am Anfang doch etwas irritiert hatte. Es gibt nun mal Phrasen und Sätze, die in der Übersetzung keinen Sinn mehr ergeben. Aber schnell wurde ich aufgeklärt und ab da war der Glückwunsch für einen „glücklichen Dienstag“ ein Selbstläufer. Jeden Dienstag wurde ich aufs neue mit einem Lächeln und einen freundlichen Glückwunsch von unserer Rezeptionistin im Büro empfangen. Und jeden Dienstag tanzten wir irgendwann ausgelassen im Büro. Und trotzdem hätte ich nicht annähernd vermutet, was sich am letzten Dienstag vor Novruz abspielen würde. Als erstes wurde im Innenhof unseres Büros gegen 17 Uhr ein Lagerfeuer, im Aserbaidschanischen 'tongal', errichtet. Ich hatte schon vorher mehrmals gehört, dass mensch dann über dieses Lagerfeuer drüber springen muss, um die schlechten Geister und was-weiß-ich-nicht-noch vom letzten Jahr durch den Sprung übers Feuer hinter sich zu lassen. Und darauf war ich auch schon gespannt. Nur gleichzeitig hatte ich doch etwas Angst, dass meine Haare oder meine Klamotten Feuer fangen werden und ich am Ende als menschliche Fackel durch Ganja renne. Das Feuer wurde ganz nach aserbaidschanischer Art mit viel Spiritus angezündet und die Flammen schlugen ziemlich hoch. Nur die „mutigsten“ (oder wie ich sie gerne nenne: verrücktesten) jungen Männer, die sich ihre Männlichkeit beweisen müssen, sind gleich mal schnell durch die Flammen gesprungen. Der Rest von uns hat sie für ihr lebensmüdes Verhalten gelobt und gewartet, dass die Flammen kleiner werden, damit wir auch drüber springen können. Und dann hieß es irgendwann auch für mich: Anlauf nehmen, Augen, obwohl ich sie lieber geschlossen hätte, auflassen und aufpassen, dass ich nicht vorher stolpere und ins Feuer falle, springen und sicher landen. Und dann... oh ja... war ich schon stolz auf mich. Schließlich springe ich in Deutschland ja eher selten übers Feuer. Und wie mit vielen Sachen, ist es auch mit dem übers Feuer springen: Wenn mensch es einmal geschafft hat, dann ist es anschließend gar nicht mehr so schlimm. Also nahm ich es gelassen, als mein Chef meinte, dass wir alle auch zurück springen müssten. Ich drehte mich einfach um und machte den Spaß nochmal.
Nachdem wir das Feuer ausgehen haben lassen, machten meine Schwester, die gerade zu Besuch ist, und ich uns auf den Weg zu meiner Gastfamilie. Denn auch dort waren wir eingeladen, um den letzten Dienstag vor Novruz zu feiern. Dämmerung setzte ein und wir sahen bereits auf dem Weg zu meiner aserbaidschanischen Familie, dass vor fast jedem Haus Äste, Zweige, Holzkisten und sonstiges Brennbares in einer Art Pyramide angerichtet wurden. Und da habe ich verstanden, dass dieser Abend der Abend sein wird, auf den ich gewartet habe. Am letzten Dienstag vor Novruz entzünden alle ihre Lagerfeuer. Aufregung erfasste mich, die sich sogar noch steigerte, als ich ins Haus meiner Gastfamilie kam und sah, dass der Essenstisch im Wohnzimmer festlich gedeckt war. So offiziell war es in meiner Familie noch nie zugegangen, da wir eigentlich immer in der Küche gegessen hatten. Hausgemachtes paxlava, ein traditionelles Süßgebäck in Aserbaidschan und dem türkischen Baklava ähnlich, war auf einer mit goldenen Ornamenten verzierten Etagère angerichtet und Tee wurde serviert. Nur mussten wir den Tee schnell trinken, denn mein Gastvater war bereits beschäftigt, das Feuer vor unserem Haus zu entzünden. Mittlerweile war es komplett dunkel geworden und nun war die perfekte Zeit, sich am Feuer zu treffen und die bösen Geister zu vertreiben. Mein Gastvater erklärte mir auch gleich, warum es diese Tradition in Aserbaidschan gebe. Bevor der Islam in Aserbaidschan Einzug gehalten hatte, war die vorrangige Religion Zoroastrismus. Diese sieht das Feuer bzw. die Flamme als Symbol ihres Schöpfergottes 'Ahura Mazda' an. Daher ist die Tradition des Feueranzündens ein Überbleibsel der alten Religion. (Im Übrigen gibt es heute vor allem in Pakistan, Indien und Iran ungefähr noch 120.000 bis 150.000 Zoroastrier*innen. Nur so als Nerd Fun Fact.) Diese religionswissenschaftliche Ausführung wurde dann auch direkt von der Diskussion abgelöst, wie oft mensch nun über das Feuer hüpfen müsste. Wir erklärten, dass wir bei der Arbeit einfach nur einmal hin und dann wieder zurück gehüpft seien. Diese Aussage sorgte sichtlich für Verwirrung und meine Gastschwester und ihr Vater erklärten uns, dass wir dreimal, nein siebenmal, nein dreimal, nein... ja, was denn nun? Meine Gastfamilie einigte sich auf die Meinung meines Gastvaters und wir hüpften dreimal übers Feuer. Ein paar Tage später war ich bei der Familie meines Mentors und hüpfte dort dann siebenmal. Jeder scheint sich also eigene Regeln fürs Übers-Feuer-hüpfen auszudenken. Insgesamt bin ich nun 12 Mal über ein Feuer gesprungen. Das sollte alle meine schlechten Geister der letzten Jahrzehnte vertrieben haben.
Und eigentlich ist es ja auch egal, ob mensch nun zweimal, dreimal oder 25.000mal übers Feuer springt. Hauptsache mensch springt drüber, denn da sind sich alle einig. Das traditionelle Springen übers Feuer ist ein elementarer Bestandteil von Novruz und verleiht den Festlichkeiten einen Hauch von Magie. Und diese Magie ist in vielen kleinen Bräuchen zu spüren. Das Feuer gibt lediglich den Rahmen vor. Der letzte Dienstag vor Novruz erschien mir ein bisschen als aserbaidschanisches Äquivalent zu unserer Walpurgisnacht. So soll mensch an diesem Dienstag für kurze Zeit ein Gespräch von Fremden belauschen. Denn daraus lässt sich die Zukunft ableiten. Wenn die belauschten Sätze positiv waren, steht eine gute Zukunft ins Haus. Andersherum funktioniert das leider auch. Da mein Aserbaidschanisch eher immer noch rudimentär ist, konnte ich diese Tradition nicht einhalten. Dafür konnte ich aber rausfinden, wann ich heiraten werde. (Ja, natürlich gibt es hunderte Bräuche, die sich ums Heiraten drehen.) Ich brauchte ein Teeglas, ein Haar von mir und den Verlobungsring einer aserbaidschanischen Freundin. Das einzelne Haar wird durch den Ring gezogen. Anschließend ließ die Freundin den Ring drei mal ins mit Wasser gefüllte Teeglas gleiten und zog ihn wieder raus. Nach dem dritten Mal pendelte der Ring dann hin und her und jedes Mal, wenn er an den Rand des Teeglases stoß, haben wir mitgezählt. Jedes klingende Geräusch ein Lebensjahr. Für alle, die mich gerne heiraten sehen möchte, kann ich nun verkünden, dass ich dies mit 34 tun werde... (Obwohl die Tante meines Mentors mir ein paar Tage später, als ich es ihr erzählt habe, zugesichert hat, dass bei diesem Ritual wohl irgendwas falsch gemacht worden sei und ich natürlich schon viel früher heirate. 34 ist ja dann doch schon etwas alt zum Heiraten...)
Zu dem Ringpendeln kann ein heiratswilliges Mädchen auch noch am letzten Dienstag vor Novruz vor dem Schlafen gehen ein super versalzenes Brot essen. Praktisch ist da wahrscheinlich mehr Salz als Teig drin. Aber es nützt nichts. Magie geschieht schließlich nicht von alleine. Also isst das Mädchen das ganze Brot und trinkt anschließend nichts mehr. Halb ausgetrocknet legt sie sich schlafen. Im Traum wird ihr dann ein See erscheinen, auf dem sich ein Mann zeigt, der ihr ein Glas Wasser reicht. Dieser zuvorkommende Herr ist ihr zukünftiger Ehemann. Und mir wurde von verschiedenen Seiten versichert, dass das wirklich stimmt. Mensch kenne da eine Nachbarin oder eine andere junge Frau, bei der es wirklich genau so passiert sei. Da ich ja erst später heirate, habe ich das mit dem salzigen Brot ausgelassen und saß am Dienstagabend mit meiner Schwester, meinem Mitfreiwilligen und seiner Freundin, die ebenfalls gerade aus Deutschland zu Besuch ist, in unserem Hof und erzählte mit ihnen. Es war bereits nach 22 Uhr und wir waren uns nicht im Klaren, dass wir selbst teil dieser magischen Nacht werden sollten. Es klopfte an der Tür und unser Nachbar, den wir nur vom Grüßen kennen, lud uns in sein Haus ein. Seine Frau, seine Söhne und ein deutschsprechender Freund der Familie saßen schon im Wohnzimmer und wir wurden mit Tee, paxlava und Obst empfangen. Diese Einladung kam für uns völlig überraschend und freute uns deshalb wahrscheinlich noch mehr. Diese Herzlichkeit am späten Abend. Und es dauerte nicht lange, da wurde die Flasche Wodka raus geholt und der Aschenbecher auf den Tisch gestellt. Mein Mitfreiwilliger (als männlicher Vertreter unserer Gruppe) stellte sich schon auf einen trinkfreudigen Abend ein, als der Hausherr uns Mädel anblickte und fragte, ob wir auch Wodka haben wollten und uns Zigaretten anbot. Es schien, dass der letzte Dienstag vor Novruz alle Regeln auf den Kopf stellte. Also warf ich meine Sorgen darüber, was unsere Nachbarn dann wohl von mir halten werden, über Bord und entschied mich, den Abend einfach zu genießen. So wie auch den Rest der Novruzfeierlichkeiten. Denn diese Woche zeigte mir Aserbaidschan in einem völlig neuen Licht. Ich tanzte mit Familien in ihrem Wohnzimmer, zog mit Kindern um die Häuser, um Süßigkeiten zu sammeln, lachte mit Verwandten von Freunden beim Tee, fuhr auf einem Eselkarren mit (ja, wirklich) und erlebte eine freudige Ausgelassenheit. Novruz ist der beste Feiertag. Nicht nur, weil alle Geld bekommen oder eine Woche frei haben, sondern vor allem deswegen, weil alle Novruz lieben und deswegen Lebensfreude versprühen.
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