Edinburgh!
Warum und wohin Diesmal schreibe ich über mein letztes Wochenende, was für mich endlich, endlich einen Besuch bei anderen Freiwilligen und ganz allgemein etwas Reisen gebracht hat. Nachdem auch mir nach vier Monaten, in denen ich unfähig war, mir etwas zu organisieren, die Einsamkeit der Farm langsam aber sicher die Decke auf den Kopf fallen ließ, bin ich endlich unter Menschen gekommen. Konkret waren das Claudia und Jenny, eine Portugiesin und eine Deutsche in Edinburgh. Dort arbeiten sie in den „Leonard Chechire Homes“, Heimen für alte und behinderte Menschen. Anlässlich Claudias’ Geburtstag habe ich mich dort angemeldet und netter- sowie Geld sparenderweise auch gleich Unterkunft angeboten bekommen. Da ich das Ende der Trainings und der damit verbundenen Treffen der anderen Freiwilligen so bedaure, war es für mich die erfreulichste Aussicht des letzten Monats, und ich sollte nicht enttäuscht werden.
Losgefahren bin ich am Freitag den 07.01.2005 gegen halb drei Uhr nachmittags. Hinterher habe ich mich etwas geärgert, dass ich nicht früher los bin, da Paul krank im Bett war und ich ohne seine Anleitung außer dem Füttern der Tiere nichts zu tun hatte. So hätte ich noch etwas länger in Durham, von wo mein Zug abfuhr, bleiben und ein bestimmtes Café suchen können, was mir noch Jasmina seinerzeit empfohlen hatte. Ich bin wirklich lange nicht mehr dort gewesen fällt mir dabei auf. Oder, wie ich jetzt weiß, noch besser, ich hätte schon gegen Mittag in Edinburgh sein und mir diese fantastische Stadt ansehen können. Andererseits war ich mit meiner Reisetasche in der Hand auch abends so schnell müde, dass ich mit der mir gegebenen Zeit sehr gut ausgekommen bin. So habe ich zumindest noch etwas Schlaf nachholen können, bis mich Paul zum Bahnhof gefahren hat.
Reisen für Fortgeschrittene
Wie mir schon auf dem Weg nach Largs aufgefallen ist, gehört die Strecke nach Schottland zu den schöneren ihrer Art. Sie führt direkt am Meer, das heißt der Nordsee, entlang, wodurch man schon wunderschöne Blicke genug hat. Je weiter man aber nach Norden kommt, desto bergiger wird auch die Landschaft und so hat man einen nicht weniger als faszinierenden Kontrast, wenn auf der rechten Seite des Zuges Berge; hoch genug um von Wolken umhangen zu sein, und auf der anderen Seite Dünen und bis zum Horizont das Meer, liegen. Das Letztere ist wirklich nah an den Gleisen; man fährt fast auf den Stränden. Im Gegensatz zur rauen, steinigen Steilküste des County Durham läuft das sandige Ufer sehr flach in die See. Zusammen mit den bewachsenen Dünen ergibt das ein herrliches Bild. Wiederum erschien mir Schottland beinahe stereotypisch. Während England sehr dicht besiedelt ist, sah man, zumindest vom Zug aus, für lange Zeit nur Wiesen, Berge und Felder mit hunderten von Schafen. Dazu sind mir dieses Mal – intensiver als vor einem Monat – die vielen kleinen Schlösser, Burgen, alten Kirchen und Herrenhäuser aufgefallen. Als ob jemand die allgemeine Vorstellung von diesem Land gemalt hätte.
Die bunte Stadt am Meer
Noch schöner sind die Orte, die man ab und zu vom Zug aus sieht. Da war dieses eine Dorf, diese kleine Stadt direkt am Meer, die mir schon letztes Mal aufgefallen war. Sie besitzt einen natürlichen Hafen; eine Bucht, die durch den flachen Uferbereich und eine nur schmale Verbindung zum Meer scheinbar sehr ruhig ist. Zusammen mit dem breiten Sandstreifen um die Bucht herum sah sie fast wie ein See aus. Daneben lag der Ort und besonders eine kleine Häuserzeile stach mir ins Auge, die mit bunt bemalten Fassaden direkt am Ufer dieser Bucht lag. Beinahe jede Stadt lag an einer Flussmündung und ich mag diese breiten, flachen, langsamen Ströme mit kleinen Inseln in der Mitte sehr.
Auch im Zug gab es interessante Erfahrungen für mich. So saß mir das perfekte Ebenbild von Friederike Seidler gegenüber und ich habe mich reflexartig auf eine sofortige Welle von Anschuldigungen, vorwurfsvollen Fragen und abschätzenden Blicken bereit gemacht. Nein, davon ist nichts gekommen. So hatte ich auch weiterhin Gelegenheit, die Landschaft zu betrachten.
Die Lichter der Stadt
Die Zugverbindung nach Edinburgh ist nicht nur wegen ihrer Aussicht zu empfehlen; man ist darüber hinaus in weniger als zwei Stunden am Ziel, und so stand ich um halb fünf auf der Waverley Station. Ich mag Bahnhöfe, besonders neue. Sie geben einem ein Gefühl von Unabhängigkeit, Spontaneität und Freiheit. Ich hasse Costa. Sie geben einem einen Kaffee nur für zwei Pfund neunzehn. Andererseits war etwas Koffein nötig, um den richtigen Ausweg zu finden. Dann jedoch, was für ein Ausgang! Edinburghs Hauptbahnhof liegt in einer Senke im Zentrum der Stadt und bietet keinerlei Sicht nach außen. Die Treppe hoch zur Hauptstrasse ist auf beiden Seiten mit hohen Häusern zugebaut. Daher erhält man erst im letzten Moment und ganz plötzlich, wenn man direkt auf der Princes Street steht, einen Blick auf die gesamte Innenstadt: auf das Gebiet um das hell angestrahlte Schloss auf seinem Felsen, den Park tief darunter, das schottische Parlament, die Nationalakademie mit ihrer Galerie sowie neben dem Scott Monument eine Reihe weiterer Kirchen und Denkmäler. Dazu eine Unmenge von Lichtern und Menschen, zum einen durch einen Jahrmarkt in den Parks, zum anderen durch die Hauptstrasse, denn im Gegensatz zu Newcastle machen die Geschäfte noch nicht um siebzehn Uhr zu.
I lost my heart in Edinburgh
So bin ich nach einem kleinen Besuch der Touristeninformation zwecks Kartenbeschaffung erstmal nur eine Weile ziellos Richtung Schloss geschlendert und in einer kleineren Parallelstrasse wieder zurück. Da ich Claudia nach der Arbeit noch etwas Zeit geben wollte, folgte ein kleiner Gang zum Parlament, gefolgt von der Entscheidung, trotz müder Beine noch eine entfernte Brücke anzusteuern und so den Rundgang zu schließen. Und wieder hat mich diese Stadt überrascht. Die von mir gewählte Strasse sah zuerst recht langweilig aus, aber nach einer Kurve stand ich staunend zwischen großen Kirchen und alten Gebäuden. Wie ich erst hinterher herausfand, war ich in der High Street; zwischen St. Giles und Tron Church. Überhaupt habe ich erst später mit einem Blick auf die Karte gesehen, an was ich alles vorbei gelaufen bin.
Ich mag die Architektur Edinburghs, die massiven Steinblöcke der hohen Häuser, auch wenn sie alle grau sind; und die zum Teil noch immer vorhandenen Pflasterstraßen. Es hat mich irgendwie an Prag erinnert. Was wahrscheinlich der Grundlage entbehrt, da ich Prag nur einmal gesehen habe. Aber die Einheitlichkeit und Harmonie der Bauweise; die auf mich sehr modern wirkenden Lebensweise in dieser alten, gewachsenen Umgebung ergibt eine ausnehmend einnehmende Atmosphäre. Und dabei hat es das gesamte Wochenende über geregnet. Zugegeben, die Zeit war nicht genug für eine Einschätzung, aber Edinburgh ist nicht umsonst so bekannt. Beim nächsten Mal werd ich ja sehen, ob ich es wieder so empfinde.
I lost my way in Edinburgh
Genug der Bewunderung, jetzt zu etwas Stress. Dazu bietet sich in Britannien ja immer die Suche nach dem richtigen Bus an. Zwar wusste ich genau, mit welcher Buslinie ich zu welcher Haltestelle wollte, leider konnte mir nur niemand so richtig erklären, wo erstere hält oder wo letztere liegt. Gut, es wurde mir schon erklärt, dummerweise mit jeweils anderem Ergebnis. Der von mir gewünschte Stopp war auf den Plänen nicht zu finden. lediglich ein ähnlich klingender. Und die Frage nach eventueller Nähe blieb vollkommen fruchtlos. Scheinbar fährt sonst niemand außer mir zum Boswall Parkway.
Trotzdem muss an dieser Stelle wieder einmal die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen erwähnt werden. Das ist dort oben wie in Newcastle. Die einzigen Unterschiede waren, dass die Menschen rote Ampeln beachteten und die Autos nicht. Ich bin in Edinburgh trotz jeweils grünem Licht in zwei Stunden zweimal fast überfahren worden, während mir das hier in vier Monaten nur ein einziges Mal und dann auch ob eigener Unachtsamkeit passiert ist.
Römische Verhältnisse
Nun ja, zurück zum Bus. Mit einsetzendem Stress habe ich mich dann auf den Weg in die vermutete Richtung begeben. Damit mir nicht langweilig wurde, hat sich der städtische Nahverkehr ein paar neckische Überraschungen für mich ausgedacht. Überraschung Nr. 1: kein Wechselgeld! Was ich zuerst für einen aktuellen Engpass in der Münzversorgung hielt, wurde mir später als etablierte Angewohnheit des Personenverkehrssystems erklärt. Nur eine zwanzig Pfundnote dabei? Tja, Pech. Überraschung Nr. 2: nicht mal die Fahrer wissen genau, wo man eigentlich ist und wohin es geht. So war die Antwort auf meine Bitte mir beim Erreichen des auf dem Fahrplan vermerkten Boswall Drive Bescheid zu geben „Wo? Ich werd gucken, ob ich das sehe.“ So ein Spaß. Lustiges Straßensuchen mit Lothian-Busses. Wer Probleme mit dem System in Durham hat, soll mal nach Edinburgh gehen. Sogar ein Italiener würde hier verzweifeln.
Dafür mag ich den schottischen Akzent mit seinem rollenden R und dem zum Umlaut gewandelten U sehr. In selbigem wurde mir dann im potentiellen Zielgebiet der Rest des Weges erklärt, sodass ich kurz nach sieben vor Claudias & Jennys Haus stand und nach einem kleinen Gespräch mit der Pförtnerin sogar eingelassen wurde.
Schön wohnen
Im Gegensatz zur Innenstadt sieht das Viertel dort eher zweckmäßig und mit den normalen eineiigen britischen Klonvierteln vergleichbar aus. Was nicht das Geringste über deren Inneres aussagt. Die beiden leben in einer ausgesprochen netten kleinen, gepflegten Wohnung. Jeder hat einen Raum, dazu gibt es neben dem Bad eine kleine Küche sowie ein Wohnzimmer. Alles modern eingerichtet und komfortabel. Man hat sich sofort wohl gefühlt. Das natürlich nicht nur aufgrund der Umgebung, sondern noch viel mehr wegen der Bewohner. Zu diesem Zeitpunkt war nur Claudia zu Hause und es war natürlich toll, sich wieder zu sehen. Nicht, weil ich hier niemanden hätte. Es hat lediglich einen viel höheren Wert, mit Leuten in den gleichen Lebensumständen wie den eigenen zusammen zu sein. Menschen, die des Weiteren schon Einiges gesehen sowie eine bestimmte Einstellung und ähnliche Werte haben, daher bin ich bei den anderen Freiwilligen genau an der richtigen Adresse.
And now to something completely different...
Aus gegebenem Anlass an dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu einem Artikel einer englischen Freiwilligen in Dresden. Ich finde die Texte der anderen auf der Youth-Reporter Seite immer interessant und diesen ganz besonders, da er viele mir gut bekannte Dinge anspricht und das auch noch aus der umgekehrten Perspektive. So schreibt Romy unter anderem über die Erfahrung so vieler Nationalitäten und wie es einen verändert. Es stimmt, es öffnet einem die Augen; selbst wenn man vorher nicht blind war, bringt das praktische Erleben, wie immer, eine neue Qualität. Es ist gar nicht so sehr die unterschiedliche Herkunft, sondern vielmehr die daraus resultierenden Perspektiven. Diese geben einem einen vollendeten Gesamteindruck, in diesem Falle der gemeinsamen Kulturregion, als die eigene, einzelne Sichtweise. Deren Facettenreichtum ist ein Grund für meinen allerletzten Absatz. Ja, man müsste so immens viel mehr reisen und Erfahrungen sammeln, um wirklich etwas zu erleben. Ein EVS ist tatsächlich nur ein Anfang und es macht mich wahnsinnig, dass ich schon jetzt nichts Vergleichbares mehr für danach sehen kann.
Davon abgesehen ist der Absatz über das Kriegserbe sehr interessant. Ein thematisches Minenfeld, aber natürlich kommt man hier daran nicht vorbei. Und auch wenn man nie daran erinnert wird, macht man sich selbst Gedanken. Es überrascht mich fast, dass Romy so etwas wie ein schlechtes Gewissen hat. Aber man trifft hier allgemein auf eine sehr hohe Sensibilität die englische Geschichte betreffend. Selbstverständlich nicht ganz grundlos; die britische Armee hat sich durch die halbe Welt gemetzelt. Aber um den zweiten Weltkrieg haben sie sich nun beileibe nicht gerissen.
Worum es mir aber eigentlich geht ist meine eigene Erfahrung. Denn trotz konstanter Freundlichkeit bin ich in diesem Punkt immer sehr vorsichtig. Und wie Romy bin ich oft erstaunt über die unverkrampfte Reaktion. Natürlich, weder ich noch mein normaler Gesprächspartner haben mit den Ereignissen etwas zu tun, aber die Briten haben den Deutschen weit mehr übel zu nehmen als umgekehrt. Nicht einmal Pauls 80-jährige Großmutter hat mir gegenüber irgendetwas erwähnt und bei ihr war ich besonders auf der Hut. Schließlich hat sie nicht nur einen, sondern zwei Kriege mitgemacht. Auch und gerade meine Gegend, Hartlepool und die Minen, wurden fast dreißig Jahre, bevor das erste Flugzeug über Deutschland aufgetaucht ist, bombardiert.
Damit verlasse ich dieses Gebiet besser wieder. Aber wie gesagt, selbstverständlich kommt man hier nicht daran vorbei und man sollte es auch nicht. Zum Schluss seht Euch bitte noch ihr Deutsch an. Ist das nicht fantastisch? Fast jeder hier erzählt mir, wie er an unserer Sprache verzweifelt ist und nachdem ich mich etwas intensiver mit der französischen Grammatik beschäftigt habe, ist auch mir aufgefallen, wie schwierig die deutsche ist. Und dann diese deskriptive Schreibweise, diese komplexe Satzstruktur. Wirklich beeindruckend.
Essen...
Aus Dresden zurück in eine Stadt, die ich mit sehr ähnlichen Worten beschrieben habe. Nach meiner Ankunft sind Claudia und ich aufgrund eines leeren Kühlschranks erstmal einkaufen gegangen und mit vier vollen Beuteln sowie Ideen für ein Abendbrot zurückgekehrt. Gut, Claudia hatte die Ideen; mein Kochvermögen beschränkt sich immer noch auf White Sauce. Einige Minuten nach uns kam dann auch Jenny von der Arbeit. (Ich wünschte, ich könnte so etwas sagen wie „Ich weiß nicht, wann meine Kollegin zu Hause ist. Sie hat heute Spätschicht.“ Das klingt so professionell. Allerdings wäre ich natürlich schon mit einem anderen Freiwilligen an sich zufrieden.)
...Gesellschaft...
Überhaupt gab es viel Ungewohntes und, ja, ich hätte gern einiges davon hier. Und ich rede nicht allein von Kochfähigkeiten. Ich wünschte, ein kurzer Anruf würde genügen, um eine halbe Stunde später eine dritte EVSlerin im Haus zu haben, anstatt sich selbst jede Fahrt in einer größeren Stadt vorher organisieren zu müssen. So war zum Abendbrot Elise, unsere Französin, da, und die Natürlichkeit allein dieser Möglichkeit hat mich fast ein wenig geschockt. Ansonsten ist das Netzwerk der Freiwilligen nicht so gut wie ich ursprünglich dachte. Von den anderen in Edinburgh sehen meine Gastgeber wohl relativ wenig. Elise arbeitet übrigens auch für die Chechire-Stiftung, die scheint dort oben ein recht großer Arbeitsgeber für Freiwillige zu sein.
...Gesellschaftsessen!
Ja, das Essen. Claudia hat eine Gemüsepfanne gemacht, die ich aufgrund ihrer einfachen Zubereitung als auch ihrer Schmackhaftigkeit sogar mir zutraue und daher mal selbst ausprobieren will. Überhaupt war das Abendbrot sehr lecker und, wie sich herausstellen sollte, nur der Anfang der besten Verkostung der letzten Monate. Aber vermutlich schmeckt mir so ziemlich alles, was in der ungewohnten Situation von Gesellschaft serviert wird.
Uns gehört die ganze Nacht
Ebenfalls neu für mich: abends ausgehen. Was sich bei den Geordies schon wegen der um elf schließenden Pubs verbietet, gehört für die Schotten und ihre Freiwilligen schockierenderweise zum Alltag. So sind wir kurz entschlossen zu einem Club gefahren. Auch wenn wir dem dann aufgrund des Eintrittspreises eine Absage erteilt haben, waren wir doch in der dazu gehörenden Bar, wo später noch Jennys Freund zu uns gestoßen ist. Wann habe ich das letzte Mal bis um drei Uhr nachts in einem Pub gesessen? Ach ja, in Witzenhausen. Auf dem Ausreiseseminar. Bevor ich nach England gekommen bin.
Was mir auf dem Weg zu diesem Etablissement wieder aufgefallen ist: bei ausreichender Müdigkeit oder sonstiger mentaler Beeinflussung schwinden die Kenntnisse der Muttersprache inzwischen beträchtlich. So habe ich mich sogar mit Jenny auf Englisch unterhalten, wobei meine ab und zu einfließenden Brocken Geordie immer wieder mit Belustigung aufgenommen wurden.
Vom Wind verweht
Kurzum, die Nacht war so angenehm wie außergewöhnlich für mich. Letzteres übrigens auch auf der Farm. Nachdem ich bereits um elf Uhr die Augen wieder aufgemacht hatte, erhielt ich einen Anruf von Paul, dass ein Sturm über unseren Arbeitsplatz gezogen sei und einige Schäden angerichtet hätte. Zwei Hühner hätten es nicht überlebt, den Gänsen sei leider nichts passiert. Nur schlechte Nachrichten. Aber ganz offensichtlich bin ich gerade zur rechten Zeit verschwunden. Nachfolgend bin ich in einer zugegebenermaßen etwas ineffektiven ersten Tagesplanung aufgestanden und nach einer Dusche eine halbe Stunde später aufs Neue todmüde bis um zwei Uhr auf meine Matratze gesunken. Gegen drei Uhr ein kleines Frühstück und dann bin ich mit Claudia wieder Richtung Zentrum, diesmal zu Fuß. Jenny und Elise hatten sich in der Nacht zuvor verabschiedet; und wir wollten letztere nun wieder treffen.
Einkaufen für Profis
Auf dem Weg durch die Altstadt kamen wir allerdings an etwas sehr hinderlichem vorbei: einem Feinkostgeschäft. Das hat nach vier Monaten Englanddiät und trotz Pauls gelegentlich zubereiteten Mahlzeiten seine Wirkung auf mich nicht verfehlt. So musste ich geradezu dort hinein, um ein Baguette und vor allem sehr guten, sehr teuren Käse für beinahe zehn Pfund zu kaufen. Hier schlägt scheinbar der kulinarische Feinsinn meines Vaters durch. Ich hätte noch viel mehr mitnehmen können. So habe ich dort endlich vernünftig aussehenden Brot entdeckt. Dieser Laden und seine Belegschaft sahen so originell, rustikal und nett aus, dass ich fast erwartet hatte, auf Französisch angesprochen zu werden. Leider hatten sie keine Croissants...
Paul meinte später, dass diese hier „Delis“ genannten Geschäfte noch nicht allzu lange verbreitet sind. Britannien pflegt ja bekanntlich ein gewisses (auch wenn ich hier viele Leute mit engagiert entgegen gesetzter Meinung getroffen habe) Misstrauen gegenüber „Europa“, insbesondere Frankreich. Und diese Läden sind wohl erst mit der Internationalisierung der Städte und einer kaufkräftigen Studentenschaft eingezogen. Ein Hoch auf die Studenten. Dank ihnen konnte ich so wirklich gutes, qualitativ hochwertiges Essen kaufen. Yummie. Auch wenn ich aufgrund einer Abneigung gegen Käse in der Vergangenheit keine wirkliche Ahnung hatte, wofür ich da bezahle. Aber das hat die Sache noch etwas reizvoller gemacht.
Als ich auf Edinburgh herabschaute
Eine viel versprechende Einkaufstüte in der Hand sind wir dann weiter bis zum schon beschriebenen Zentrum marschiert, wo Elise, ganz Französin, in einem Café saß. Mit ihr haben wir anschließend ein sehr empfehlenswertes Ziel angesteuert, namentlich das National Monument. Gesehen habe ich davon aufgrund der frühen Dunkelheit bis auf die Silhouette einiger Säulen nicht allzu viel. Dafür steht es zusammen mit dem Nelson Monument und dem städtischen Observatorium auf Calton Hill, von wo man so ziemlich ganz Edinburgh überblicken kann. Und auf dem es natürlich auch sehr windig ist. Aber die Aussicht auf die hell erleuchtete Stadt war sehr schön; ich wünschte, Newcastle wäre nicht in so einer flachen Gegend gelegen. Wir haben hier auch so ein Denkmal, Penshaw Monument, aber das kann man ob fehlender Sichthindernisse quasi vom anderen Ende des Countys ausmachen.
Cafékultur
Inzwischen hatten wir mit Jenny ein gemeinsames Abendessen zu Hause ausgemacht und bis dahin noch einige Zeit herum zu bringen. Wo ich schon einmal die Gelegenheit dazu hatte, wollte ich die möglichst in einem Café verbringen. Ich mag Cafés. Wirklich. Ich sitze gerne in einem, um mich in entspannter Atmosphäre zu unterhalten. Leider ist das alleine natürlich von vergleichsweise wenig Sinn, weshalb ich diese Gelegenheit nutzen wollte. Aber erstmal drei Plätze finden! Auch wenn es Samstagabend war, die Fülle der Restaurants und Bars war atemberaubend; vor einem Pizza Hut war eine Schlange über den ganzen Gang. Zum Glück haben wir einen Tisch für uns gefunden, wo man sich sogar bei normaler Lautstärke verständigen konnte. Das war sehr… sagen wir mal: stilvoll. Urban.
Später wollten wir auf Claudias Empfehlung hin noch ein benachbartes Lokal ausprobieren, was aber dummerweise voll bis an die Decke war. Daher sind wir in ein äußerst kitschiges, pseudo-spanisches Restaurant gegangen, in dem gelgelockte Kellner zu Ballermann-verdächtiger Musik überteuerte Getränke servieren. Oh ja, äußerst teuer war es auch. Während Claudia über die deutschen Touristen an der Algarve erzählte, begingen Elise und ich den Fehler „ein Glas Weißwein“ zu bestellen. Woraufhin man für uns offensichtlich die teuerste Flasche aussuchte. Und auch wenn ich sowohl diese mit Sicherheit aus gutem Willen und Konsumentenfreundlichkeit geborene Eigeninitiative zur Entscheidungserleichterung als auch die Qualität des ausgewählten Getränks durchaus zu würdigen weiß, sind mir viereinhalb englische Pfund für ein Glas weißen Wein unter Musikfolter zuviel.
Ich liebe den Geschmack von Käse am Abend
Da es inzwischen an der Zeit war, haben wir uns dann mit dem gewohnt verspäteten Bus auf den Weg nach Hause begeben. Dort wartete schon Jenny nebst Freund auf uns. Und wir hatten ja meinen kleinen, feinen Beutel dabei. Was hatten wir für ein Dinner! Selbst wenn ich sonst nichts Gutes über Claudia & Jenny sagen können würde, von Essen verstehen die beiden etwas. So gut wie dort habe ich in den letzten vier Monaten mit Sicherheit, und wahrscheinlich auch eine ganze Weile davor, nicht gegessen. Der Tisch hat gar nicht ausgereicht für die Salate und Nudeln. Und, in einer fast klassischen Kombination mit dem Baguette und Wein, den Käse. Ich konnte damit ja lange nichts anfangen und auch heute ist er auf meinem Teller eher toleriert als willkommen, aber dieser Comté lässt mich wahrhaftig anfangen, ihn zu mögen. Wem sich jetzt die Qualifikation von Käse als Thema für einen ganzen Absatz entzieht, stelle sich bitte den Effekt auf meine in dieser Hinsicht unerfahrenen Geschmacksnerven vor. Am Samstag bin ich wieder in Newcastle und werde mich mit Sicherheit in einem mir bekannten Deli umsehen. Auch wenn es eigentlich keinen Sinn macht, so etwas allein zu essen.
Der Rest des Abends und der Beginn des frühen Morgens war wie schon am Vortag hauptsächlich eine sehr angenehme Unterhaltung. Nicht spektakulär, jedoch ist der gemeinsame Hintergrund von hohem Wert. Er führt, jedenfalls ist das mein zweifellos zu kurzfristig gewonnener Eindruck, zu einer gewissen Vertrautheit. Ja, ich weiß, dass ich mich wiederhole. Außerdem ist es, immer wieder, faszinierend für mich, mich in einer herkunfts- und daher erfahrungsmäßig so heterogenen Gruppe zu bewegen, ganz abgesehen von ihrem intellektuellen Standard. (Oh, klingt das jetzt snobistisch? Ich wette, Ihr hasst es, wenn ich über die anderen Freiwilligen rede, was?) Eine echte Erleichterung von den kaum ihren Namen verdienenden Gesprächen über Zylinderdichtungen, Angelsehnen und die Preise der örtlichen Tankstellen in den vergangenen Jahren. Ich gebe zu, dass meine alt gewohnte Überforderung in Gruppen irgendwann einsetzte. Aber selbst dann nur ganz am Ende und in sehr leichter Form. Und dann waren sofort Radiohead zur Stelle. Glück gehabt. Ein Hoch auf Radiohead.
Was ich sehr nett fand und den allgemeinen Rahmen einer allumfassenden Freundlichkeit perfektionierte war, dass man mir innerhalb des obligatorischen Fotovergleichs ein Bild von uns aus Largs überließ, da ich auch diesmal vergaß ein eigenes zu schießen. Wobei mich diese Erinnerungen noch mal unglücklich machen werden.
Essen wie Gott in Frankreich
Auch am nächsten Morgen war ich relativ früh wach und bin daher mit Elise auf die Suche nach etwas Nahrung in den nächsten Co-op gegangen. Es tut mir ja aufrichtig leid, dass ich soviel nur über Essen schreibe. Aber wenn man sonst nur Weißbrot, Leberwurst und Cornflakes hat, bleibt einem ein von einer Französin ausgewähltes Frühstück im Gedächtnis. Zitronenkuchen, Rosinenbrötchen, Scones (so was schottisches, vielleicht vergleichbar mit Scheiben aus Waffelteig, nur auch aufgewärmt nicht knusprig, sondern... ähm... lecker halt) und, Hurra!, Croissants. Zwar nicht mal die Pseudo-Croissants aus der morgendlichen Bäckereiabteilung, sondern nur die Pseudo-Croissants aus der Tüte, aber aufgebacken haben auch die ihren Dienst getan.
Ein Wochenende zum Einrahmen
Leider erhielt Claudia gerade dann einen scheinbar weniger die Stimmung hebenden Anruf, sodass wir ohne sie und in leicht gedrückter Atmosphäre essen mussten. Allerdings ist mir eins aufgefallen: während wir uns auf dem ersten Training noch geschlossen über die Höflichkeit der Briten lustig gemacht haben, verdienen wir uns inzwischen vor lauter Bitte, Danke und Entschuldigung selbst den goldenen Knigge mit Band.
Wie dem auch sei, da es danach schon bald Zeit für mich war, zu gehen, geschah nicht mehr viel Welt bewegendes. Außer vielleicht, dass es Newcastle gelang, einen Viertliga-Verein im FA Cup (DFB-Pokal) zu besiegen. Wie ManU feststellen mussten, ist das ja nicht selbstverständlich.
Halb sechs ging mein Zug, sodass ich mich gegen dreiviertel fünf verabschieden musste. Zum Glück sah ich Claudia zu diesem Zweck noch einmal. Denn das Wochenende war in meinem bisherigen Aufenthalt einmalig. Nicht nur die Gastfreundschaft und die Lebensqualität Edinburghs trugen dazu bei; auch dieser Crashkurs in urbanem und gesellschaftlichem Leben haben mich (ja ganz offensichtlich) sehr beeindruckt. Und ohne die Vorteile der Farm zu vergessen, werde ich sie vermissen. Die Nachtbars, die Cafés, die Möglichkeit, Freiwillige einzuladen und spontan zu entscheiden... sogar die lang geöffneten Geschäfte, die Existenz von Nachtbussen und selbst Kleinigkeiten wie dem Deli und ein gemeinsames Kochen sind zwar nur Details, für mich aber von Symbolik. Ich werde auf jeden Fall nach Edinburgh zurückkehren.
Ansichten eines Freiwilligen
So war ich wieder auf dem Weg zurück nach Easington Colliery. Die vorherrschende Dunkelheit erspart Euch an dieser Stelle weitere Beschreibungen der Fahrt. Paul hat seinen Freiwilligen vorbildlich aus Durham abgeholt und ihm, neben Gesprächen über Delis, einen Kurzbericht über den Zustand des Hofs gegeben.
Wiederum bin ich also zurück auf der Farm. Erst der Morgen wird mir wirklich zeigen, was von ihr übrig geblieben ist, aber wir werden nächste Woche wohl gut zu arbeiten haben. Gut, zumindest habe ich dann weniger Zeit zum Nachdenken. Nach wie vor plagen mich nämlich meine üblichen Depressionen bezüglich solcher Dinge wie Rückkehr. Und dann wird mir von zu Hause auch noch eröffnet, dass die zweite Hälfte von Reisen meistens schneller vergeht als die erste. Das Schlimme ist, wahrscheinlich haben sie Recht und ich werde mich nach den ersten Wochen zurücksehnen – als ich zwar noch nichts von meiner neuen Umgebung wusste, aber gerade durch die besonders vielen neuen Eindrücke die Zeit gestreckt wurde.
Himmel, ich kann mich bereits im Herbst sehen, wie ich an nichts anderes denken kann als ganz an den Anfang, wie ich in Witzenhausen in der Sonne sitze.
Natürlich, ich kann mich in allem irren. Aber ich denke, weshalb mich diese Zeit so beeindruckt, ist nicht nur die neue Umgebung, sondern auch, dass ich sie in diesem Alter erlebe. Ja, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne und ich weiß, dass er mich nicht ewig umfangen wird. Und darum ist mir jeder Tag so wahnsinnig wertvoll. Und darum habe ich Angst, nicht genug zu machen; etwas zu verpassen. Es ist wirklich schwierig zu beschreiben, denn ich wüsste selbst nicht, was genau ich denn machen wollte. Ob ich das ins Internet stellen sollte? Wahrscheinlich nicht. Aber zum Glück genieße ich zurzeit den Luxus, sehr wenige Kompromisse machen zu müssen.