Die Zeit vergeht wie im Flug
Nun bin ich schon etwas über einen Monat in Olsztyn und inzwischen hat sich unsere bilinguale WG mit Chiara und Francesca aus Italien vervollständigt.
Seit letztem Wochenende hat sich die Stadt mit Studenten gefüllt, auch die anderen Wohnungen in unserem Haus sind jetzt alle an junge Leute vermietet. Unsere zwei EVS-WGs sind seit Mittwoch auch vollständig. Von den ursprünglich drei Mädchen sind jetzt nur zwei aus Italien gekommen, aber die Verkehrssprache zu Hause ist trotz deutscher Überzahl inzwischen Englisch. Unsere Zimmeraufteilung ist noch nicht ganz festgelegt, weil Laura noch Besuch hat. Aber die Zeit vergeht hier so schnell, dass ich das Gefühl habe, bevor ich alles erkundet und ausprobiert habe, muss ich schon wieder nach Hause.
Im Archiv habe ich mich jetzt auch mit meiner Arbeit eingerichtet. Bisher konnte ich leider noch nicht in der Konservationsabteilung arbeiten, aber ich wechsle jetzt häufig zwischen Scannen und Inventar. Beim Scannen gibt es die schnelleren, an denen die Standesamt-Register eingescannt werden und in einem zweiten Raum sind die sehr langsameren Scanner, wo Karten oder Bestellungen von Besuchern in hoher Auflösung eingescannt werden. Das dauert pro Seite zwei Minuten, aber glücklicherweise habe ich an meinem Computer Internet zur Verfügung. Außerdem ist es eine Arbeit, bei der man sich gut unterhalten kann. Karol spricht fließend Englisch, so dass ich ihn mit anspruchsvollen Fragen über Politik und Geschichte bombardieren kann, die sich aus manchen neueren Akten (sprich: schon zu Lebzeiten von den Mitarbeitern) ergeben. Die Arbeit am digitalen Inventar fällt mir jetzt auch leichter, weil sich nun Marta um mich kümmert. Vorher war Roma dafür zuständig, dass ich die Sachen aus dem Magazin erhalte oder um Fragen zu beantworten, aber sie war nicht begeistert, dass sich jemand „Ahnungsloses“ an so alte Sachen wagt und hat mich immer wieder weggeschickt.
Marta spricht glücklicherweise auch etwas deutsch und lernt in der Pause geduldig mit mir Vokabeln. Momentan trage ich Akten aus dem 1. Weltkrieg ins Inventar ein. Sie betreffen die Zwangswirtschaft, die sich aus dem Krieg ergeben hat. Praktisch jeden Tag wurde eine neue Bestimmung erlassen, welche Lebensmittel nur noch in eingeschränkter Menge verteilt werden, welche Metalle (z.B. Bierkrugdeckel oder Ofentüren) zur Waffenherstellung beschlagnahmt wurden. Dazu wurden Stimmungsberichte über die Bevölkerung verfasst, z.B. über die Sittenlosigkeit der Jugend, die sich aus der Abwesenheit der Väter ergeben hat. Die amtlichen Bekanntmachungen liegen immer in der Zeitungsveröffentlichung bei, sodass ich mich jetzt auch chronologisch durch die Kriegspropaganda arbeite. Die OHL gab jeden Tag amtliche Meldungen der unterschiedlichen Fronten heraus und jetzt verstehe ich erst wirklich, was sich hinter „Im Westen Nichts Neues“ verbirgt. Angriffe der Engländer und Franzosen wurden fast immer verschwiegen, doch wenn die deutschen Soldaten die Frontlinie ein paar Meter verändern konnten, war das bereits eine große Heldentat. Doch unter den Familienanzeigen dieses einzigen Kreisblattes standen jedes Mal Todesanzeigen junger Männer, viele kaum älter als ich. Es ist erschütternd, was für eine Sprache des Hasses vor grad erst hundert Jahren in Europa geherrscht hat.
Umso schöner sind die abendlichen Runden mit Couchsurfern und anderen Freiwilligen. Die größte Runde, die wir bisher zusammen gekriegt haben, bestand aus sechs Nationen, in der russisch-weißrussischen-türkischen WG der anderen Freiwilligen hier. Wir haben eine Weile gebraucht, um dort hinzufinden, aber glücklicherweise stehen an den großen Wohnblocks die Hausnummern metergroß drangepinselt. Wir sind so verwöhnt mit kurzen Wegen in die Altstadt, dass es mir sehr weit vorkam. Auch unsere Wohnungseinrichtung ist ziemlicher Luxus, wenn ich es mit dem Studentenwohnheim vergleiche. Dort wohnt Eva, eine Kulturweit-Freiwillige, und als ich sie besucht hab, sind wir gleich auf der ersten Wohnheimparty gelandet. Wie immer typisch polnisch mit supernetten Leuten, die sich aufrichtig für alles interessieren, was einen Ausländer in ihr Land lockt. Da habe ich mir auch von einer Schauspielstudentin die polnische Theaterlandschaft erklären lassen, in der Olsztyn leider keine so große Rolle spielt. Aber immerhin gibt es hier ein sehr schönes Kulturzentrum mit vielen kreativen Angeboten. Wie alles hier sehr günstig – die 100 Zloty für 12 Monate enthalten sogar noch Materialkosten. Ich habe dort einen Zeichenkurs begonnen und da die Lehrerin nur Polnisch spricht, ist das vielleicht auch ein bisschen Sprachunterricht.
Sonst geht es mit der polnischen Sprache leider nur mühsam voran. Das Einkaufen klappt inzwischen ganz gut, weil ich langsam alle wichtigen Vokabeln weiß und manchmal schon den Preis verstehe. Leider fängt unser Sprachkurs wohl erst Ende des Monats an – welches Problem dahinter steckt, ist mir zwar rätselhaft, aber ich würde statt meiner Vokabelübungen gerne mit strukturiertem Unterricht anfangen. Der Blick in mein Grammatikheft hat mir nämlich schon offenbart, dass Latein die hilfreiche Sprache zum Polnisch lernen wäre – oder wenigstes eine Ahnung von der deutschen Grammatik. Dabei kann ich ja noch froh sein, dass mir aus dem Deutschen schon der Dativ, Genetiv und so weiter bekannt sind. Unsere vier Fälle fände ich auch ausreichend, aber im Polnischen gibt es noch zusätzlich den Vokativ, Lokativ und Instrumental. Weiß man, dass neben der Unterteilung in drei grammatische Geschlechter, das männliche auch noch in belebt, unbelebt und personal unterteilt wird, ist wohl klar, dass man bei siebenfacher Konjungtion wohl nie einen korrekten Satz zustande kriegt… Glücklicherweise entwickelt sich das Verstehen wesentlich schneller als das Sprechen. In der Touristinfo habe ich nämlich schon eine Touristenumfrage verstanden, aber antworten konnte ich nur auf Englisch. Ich werde wohl wie die letzten Freiwilligen noch zusätzlich den Erasmus-Kurs an der Universität besuchen.
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