Die letzten Wochen
Dielene musste sich lange nach ein wenig Sonnenwärme und bunten Blumen sehnen. Um die Wartezeit zu verkürzen, war sie auf einem ehemaligen Marinestützpunkt und verkleidete sich als Endorphin.
Tere!
Wie geht’s Euch allen? Alles beim Alten? Da ich wirklich eine Ewigkeit nicht mehr geschrieben habe, gibt es die Neuigkeiten aus meinem Leben in Estland diesmal in anderer Form. Aber ich muss Euch vorwarnen: Es wird lang! Also lest jetzt nur weiter, wenn Ihr auch wirklich ein bisschen Zeit habt. Den Zeitlosen kann ich auch einfach nur versichern, dass es mir gut geht; damit ist das Wichtigste auch schon gesagt :)
Freitag, 7. April
Ich bin mal wieder in Tallinn! Heute sind Katharina und ich richtig früh aufgestanden, da wir mit dem Bus nach Joelahtme, ein kleines Dorf östlich von Tallinn, wollten, in dem zwei französische Freiwillige in einem sehr interessanten archäologischen Projekt arbeiten. Dort befindet sich nämlich das "Rebala Reserve", eine Art archäologisches Schutzgebiet, in dem sich viele uralte Gräber, große Findlinge und ähnliches befinden. Außerdem ist dort auch der "Jägala-Wasserfall", der wohl mächtigste Wasserfall Estlands, der jetzt während der Schneeschmelze natürlich besonders schön anzusehen ist. Wir machten also einen langen Spaziergang, aber leider war das Wetter so richtig schlecht: trüb, grau, windig und sogar Schnee! Wo wir doch alle so dringend etwas Sonne nötig haben! Aber na ja, was will man machen?
Abends gab es dann noch ein ganz besonderes Event: Estnischer Volkstanz! Einmal im Monat kommt das ganze Dorf zusammen (ja, Ihr habt richtig gehört: wirklich das Ganze! Auch Kinder und Jugendliche machen mit, und das sogar freiwillig!), um bei traditioneller Musik (sogar live gespielt von drei Musikanten) und landestypischem Essen den Abend zu verbringen. Das Tanzen macht so richtig Spaß, vor allem weil nicht nur paarweise getanzt wird, sondern in der Gruppe jeder mit jedem tanzt. Und dieses Rumgehopse zu Polka ist dazu sogar noch richtig anstrengend; da ist wirklich Ausdauer gefragt! Zum traditionellen Essen leisteten wir übrigens auch unseren Beitrag und tischten schwäbischen Zwiebelkuchen auf, der richtig schnell weg war. War ein ganz besonderer Spaß, sich mit dem Riesenblech Zwiebelkuchen, Schlafsäcken, Isomatten und sonstigem Gepäck in den brechend vollen Bus am Morgen zu quetschen!
Samstag, 8. April
Heute war ich in einem Konzert des "Orchesters traditioneller russischer Instrumente" der Musikschule Sillamäe. Ein bisschen Kultur ist schließlich immer gut und, ich muss sagen, es war echt interessant, da sich Balalaika, Dhombre (oder so ähnlich?) und Akkordeon zu einem für meine Ohren doch recht ungewöhnlichen Klanggemisch zusammenfanden. Aber echt gut! Um meine wachsenden Frühlingsgelüste zu stillen hab ich mir nachher noch gefrorene Erdbeeren im Supermarkt gekauft, auf denen ich jetzt die ganze Zeit herumlutsche ;) lecker!
Sonntag, 9. April
Ich komme gerade von draußen, war im Krankenhaus. Von dort komme ich immer total gutgelaunt wieder heim (meist sogar noch mit den Taschen voller Bonbons!), weil es einfach so nett ist, sich mit den alten Leuten ein bisschen zu unterhalten und ihre Geschichten zu hören. Außerdem bin ich gerade zufällig auf das Nirvana-unplugged-Konzert im Web-Radio gestoßen, so dass mein Glück komplett ist!
Vom heutigen endlich mal frühlingshaften Wetter ganz zu schweigen! Fast hätte man meinen können, dass das "kollektive Warten auf den Frühling" mit dem heutigen Tag ein Ende gefunden hat, denn es scheint wirklich, dass das ganze Land und auch die Leute (!), langsam auftauen. Noch sind zwar Meer, Fluss und See in Sillamäe mit Eis bedeckt, Eisfischer gehen noch immer ihrer Arbeit nach, das Land ist durch den schmelzenden Schnee wie ein Kuhmuster braun-weiß gesprenkelt, aber es ist doch deutlich eine Änderung in der Luft wie auch in den Gemütern der Menschen zu spüren. Bei wärmender Sonne und strahlend blauem Himmel ist gleich viel mehr Leben auf der Straße; die Menschen wagen sich langsam nach der langen "Winterruhe" aus ihren Bauten, und man sieht auch vielmehr freundliche Gesichter (monatelang waren die Leute wegen der beißenden Kälte ja so vermummt, dass die Nasenspitze alles war, was man von seinen Mitmenschen zu Gesicht bekam), hört Lachen auf der Strasse und so weiter. Die dicken Fellmützen und Wollschals sind in den Tiefen des Kleiderschranks vergraben, wo sie auf den nächsten Winter warten, und bunte Kleider bringen Farbe in die Landschaft, wo der Frühling mit Schneeglöckchen, Krokussen und Tulpen noch auf sich warten lässt - man hat mich mit den ersten Blumen auf Anfang bis Mitte Mai vertröstet, es ist Geduld gefragt!
Samstag, 22. April
Ich liebe es, Besucher vom Flughafen abzuholen; das ist immer so spannend, wenn man sich lange nicht gesehen hat! Und vor zehn Tagen war es einmal wieder so weit: Steffi kam nach Estland! Wir verbrachten die nächsten Tage in erst Tallinn, wo natürlich die übliche Touristen-Tour anstand, und machten außerdem einen Ausflug nach Paldiski, das auf einer Halbinsel sozusagen am nordwestlichsten Punkt Estlands liegt. Zu Sowjetzeiten war dort ein nuklearer Marinestützpunkt, U-Boot-Trainigslager et cetera und die Stadt hat eine ähnliche Geschichte wie Sillamäe hinter sich. Es war die erste estnische Stadt, die von den Russen besetzt wurde, und auch die letzte, die sie nach der Wende wieder verließen.
Wahrscheinlich werdet Ihr Euch jetzt fragen, warum ich mir gerade einen solchen Ort als Ausflugsziel aussuche, aber uns war vorher schon oft davon erzählt worden, dass es so krass eindrucksvoll und bedrückend sei, dass wir es uns unbedingt mir eigenen Augen anschauen wollten. Ich will nicht sagen, dass ich von unserem Ausflug enttäuscht wurde, aber ich hatte definitiv etwas anderes erwartet: Es war ein richtig schöner Tag, die Stadt wirkte auf mich absolut nicht bedrückend (vielleicht bin ich einfach schon von Sillamäe und Narva, was die runtergekommenen Plattenbauten betrifft, abgehärtet?!), vielmehr voller Leben, und auf unserer Wanderung zum Leuchtturm raus ließen einzig und allein die vielen mittlerweile Graffiti-überzogenen Bunker entlang der Küste auf die Vergangenheit der Stadt schließen. Ein wirklich schöner Tag!
Als nächstes stand Ostern an. Wir waren immer noch in Tallinn bei Katharina und hatten die Osternacht mit Eier färben, Hefezopf und Karottenkuchen backen, Schokoeier selber machen - oder sowas Ähnliches zumindest, weil wir überhaupt keine Schokoeier in den Supermärkten finden konnten und Ostern ohne Schokoeier ja wirklich nicht sein kann ;). Da wir sowieso Katharinas Bruder früh um fünf Uhr vom Busbahnhof abholen mussten, hatten wir beschlossen, dass es sich vorher kaum zu schlafen lohnt, und machten nach unseren Ostervorbereitungen noch verschiedene Kneipen unsicher. Dann schliefen wir erstmal eine Runde und den "Ostermorgen" begingen wir mittags mit Eier suchen und einem tollen Osterbrunch im Freien (in Wintermänteln natürlich!), und siehe da, wir fanden nicht nur Eier sondern im braunen Laub blitzte uns sogar das Weiß der ersten Schneeglöckchen entgegen! Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, was für ein tolles Ostergeschenk das für uns war! Wir waren hier wirklich auf Entzug was Blumen, Schmetterlinge und Vogelgezwitscher angeht. Das darauffolgende Wochenende verbrachten wir ausnahmsweise nicht in Tallinn, sondern in Haapsalu, einem schönen Städtchen an der Westküste. Es war wirklich schön dort: Strand, Meer, Sonnenuntergang... nur etwas zu kalt! Und dann stand für Steffi auch schon wieder die Heimreise an.
Sonntag, 23. April
Nachdem ich Steffi am Flughafen verabschiedet hatte, ging es für mich gleich weiter ins kleine Dorf Imastu, wo wieder einmal eine Freiwilligenfete anstand. Diesmal sogar mit Verkleidung. Es musste irgendwas sein, was mit "E" anfängt, weil wir ja in "Estonia" sind und außerdem gerade "Easter" war! Katharina und ich gingen also als "Exotic Bird" und "Endorphin" und es war ein ausgesprochen spaßiger Abend - oder besser eine spaßige Nacht. Am nächsten Tag waren Peggy und ich bei Natascha eingeladen zum russischen Osterfest. Bei den Russen gibt es an Ostern natürlich auch gefärbte Eier, aber bevor man die isst, gibt es den lustigen Brauch eine Art Wettkampf auszutragen, wer das härteste Ei hat. Es treten also immer zwei Leute an, die ihre Eier gegeneinander hauen, und das Ei, das am längsten hält und die meisten solcher Duells übersteht (K.O.-System!) hat gewonnen. Vielleicht kennt ja der eine oder andere von Euch zu Hause den Bruch; ich hab ihn leider nicht gekannt, werde ihn mir aber auf jeden Fall für nächste Ostern vormerken, weil er so lustig ist!
Montag, 1. Mai
Endlich Mai! Angeblich soll jetzt wirklich der Frühling beginnen - Yipiiieeh! Ich hab mir auch in Estland eine Maiwanderung nicht nehmen lassen und da Peggy und ich schon lange noch einmal nach Narva-Joesuu laufen wollten: die knapp 30 Kilometer-Tour, die wir im März schon einmal übers damals noch gefrorene Meer gemacht hatten. Jetzt findet man nur noch vereinzelte Stellen am Strand, an denen sich die die letzten Eisreste hartnäckig halten und die Landschaft sieht einfach komplett anders aus als damals. Die meiste Zeit führt der Weg am Strand entlang, der wirklich wunderschön ist, und wäre es etwa 20 Grad wärmer, könnte man sich glatt irgendwo in der Südsee wähnen. Es war eine richtig schöne Tour; allerdings war ich abends bei der Arbeit dann auch so richtig müde!
Leider habe ich von etwaigen estnischen oder russischen Walpurgisnacht- beziehungsweise 1.-Mai-Bräuchen wenig mitgekriegt. Katharina war das ganze Wochenende zu Besuch gewesen und wir hatten, wie immer, superviel Spaß zusammen: Kochen & lustige Getränkemixe ausprobieren, zu jeder Tages- und Nachtzeit am Meer entlang spazieren und sowieso in jeder freien Minute zum Strand gehen, um dort Gitarre zu spielen (auch wenn es so kalt ist, dass einem schier die Finger abfrieren - die Atmosphäre ist es einfach wert!) und zu singen, jonglieren (das will ich jetzt nämlich lernen) und Diabolo spielen.
An einem Tag wollten wir auch mal wieder wandern; diesmal nach Toila, einem schönen Kurort circa 25 Kilometer westlich von Sillamäe an der Küste. Es gibt einen wunderschönen Weg, der gleich hinter Sillamäe beginnt und an atemberaubenden Steilklippen entlang führt. Das Problem war nur, diesen Weg zu finden, denn dazu musste man erstmal an der alten Uranfabrik und dem Industriegebiet vorbei. Und das hatte ich mir wirklich leichter vorgestellt! Das man das Fabrikgelände nicht einfach so betreten kann, war mir schon klar, aber warum sollte das auch für das Industriegebiet und vor allem auch den Hafen, der direkt dahinter liegt, gelten? Es ist wirklich seltsam und mir ein absolutes Rätsel, wo der versteckte Zugang zum Hafen ist! Da muss es doch einen öffentlich zugänglichen Weg geben?! Der einzige Weg, den wir fanden, wurde von einem der in Estland scheinbar allgegenwärtigen Falck-Security-Männern bewacht, der meinte, dass es verboten wäre dort lang zu laufen.
Letztendlich sind wir aber trotzdem auf vielen Umwegen und über irgendwelche staubigen Pisten in das Industriegebiet gelangt. In diesem Eck von Sillamäe befinden sich überall leer stehende riesige Gebäude, die wohl früher einmal zur Fabrik gehört haben und jetzt total heruntergekommen sind und dem ganzen Gebiet eine wirklich gespenstische Atmosphäre geben. Riesige löchrige Rohre überall, verrostete Zäune und Leitungen und eine unheimliche Stille, in der kein einziger Vogel zu hören ist, nur von Ferne die Motoren der Planierwalzen - echt krass! Später stellte sich heraus, dass es sowieso ein Fehler gewesen war, überhaupt in das Industriegebiet hineinzulaufen, denn es war bis auf die Richtung, aus der wir gekommen waren, komplett umzäunt und ummauert.
Als wir das merkten, waren wir allerdings schon ziemlich lange gelaufen und so blieb uns nichts anderes übrig, als über die Mauer zu klettern! Na ja, ein bisschen Abenteuer muss eben auch mal sein! Aber als wir das Industriegebiet endlich hinter uns hatten war ich doch ziemlich erleichtert. Zwei Stunden hatten wir gebraucht, nur um diese blöde Fabrik zu umrunden, und auf der Karte sind das höchstens zwei bis drei Kilometer. Für unsere Mühen wurden wir aber zum Glück gleich darauf vom Anblick der Klippen und Felsen an der Küste, der sich uns für den Rest des Weges bot, entschädigt! Und den Rückweg sind wir dann sowieso getrampt, so dass wir da das Fabrik-Problem nicht mehr hatten.
Montag, 8. Mai
Ich bin gerade von der Arbeit im Waisenhaus gekommen, wo wir heute Papiertulpen gebastelt haben, die wir morgen ans Fenster hängen werden. Draußen in den Gärten hab ich immer noch keine einzige blühen sehen; da müssen wir sie uns eben selber basteln ;) Die Bäume sind jetzt im Mai immer noch ohne Laub, aber es kann ja wirklich nicht mehr lange dauern und, man höre und staune, wir haben heute den 18. Tag in Folge mit strahlendem Sonneschein und blauem, wolkenlosem Himmel. Da ist uns wohl der Wettergott gut gesinnt; er meint wohl, er hätte was gutzumachen nach dem langen kalten Winter. An meinem Lieblingsplatz am Strand muss ich zwar immer noch eine Jacke anziehen, aber immerhin.
Letztes Wochenende war ich mal wieder in Tallinn. Am Donnerstag bin ich hingefahren und habe jetzt endlich mal Katharinas neue Wohnung beziehungsweise ihr Zimmer gesehen - sie hatte Wahnsinnsstress mit ihrer Chefin und musste unter anderem deswegen umziehen. Jetzt wohnt sie in Kopli, einem Vorort von Tallinn, in einer WG mit angeblich Behinderten (man merkt ihnen teilweise die Behinderung absolut nicht an); so eine Art betreutes Wohnen also. Der erste Abend war gleich richtig lustig: Irina, eine der Mitbewohnerinnen, ist Russin und spricht nur ein bisschen Estnisch. Katharina spricht nur Estnisch und kein Russisch, ich nur etwas Russisch und kein Estnisch. Da konnten (und mussten) wir uns also beim Durak (russisches Kartenspiel) in drei Sprachen unterhalten: Russisch, Estnisch und Deutsch. Ich kann Euch sagen, da kommt man richtig durcheinander, vor allem, weil Katharina und ich das Spiel auch gar nicht richtig konnten. Ein Riesenspaß!
Am nächsten Tag ging es dann schon früh los: Wir hatten einen Ausflug nach Viljandi, ein hübsches kleines Städtchen im Süden Estlands, geplant. Mit dem Zug fuhren wir in die mit 20.000 Einwohnern sechstgrößte Stadt des Landes (!), wo wir durch den Second-Hand-Markt trödelten, uns die Burgruine anschauten und uns außerdem noch mit Zsofie, einer ungarischen Freiwilligen, trafen. Alles in Allem wurde es ein recht fauler Tag, weil es auch der erste richtig warme Tag war, und so gammelten wir die meiste Zeit vor den alten Burgmauern in der Sonne und schlenderten barfuß ein bisschen am See entlang, aßen Eis... echt schön!
Den Samstag verbrachte ich dann noch zusammen mit Katharina in Tallinn, wo wir ebenfalls die warmen Sonnenstrahlen genossen. Wir saßen stundenlang einfach nur in der Altstadt und schauten dem bunten Leben zu; lauschten dem wirren Sprachenmix der vielen Touristen und bekamen sogar noch ein Stück Kuchen geschenkt. So kann man es sich echt gefallen lassen!
Dienstag, 9. Mai
Heute hoffe ich es endlich zu schaffen, diesen Eintrag fertig zu schreiben und wegzuschicken. Wird wirklich Zeit, sonst wird er ja noch länger! In Russland wurde übrigens der heutige Tag (Ende des Zweiten Weltkriegs) ganz groß gefeiert und mir ist gesagt worden, dass es dort angeblich der zweitwichtigste Feiertag nach Neujahr ist. Allerdings weiß ich nicht, warum das Kriegsende am 9. und nicht am 8. Mai gefeiert wird. Vorhin habe ich die Bilder von Militärparaden und Konzerten in Moskau und St. Petersburg im Fernsehen gesehen und sogar in Sillamäe war heute Mittag ein kleiner Umzug durch die Stadt; es wurden Reden gehalten über den "Sieg über das faschistische Deutschland" und die Veteranen wurden geehrt und mit Blumen beschenkt. Die Leute auf der Straße gratulierten einander. Ich kenne das alles ja überhaupt nicht und irgendwie finde ich es schon krass, dass dieser Tag noch heute, nach 61 Jahren, von so vielen Leuten so groß gefeiert wird. Schon irgendwie komisch. Für mich ist dieser Tag Geschichte.
Okay, jetzt soll’s aber wirklich reichen! Ich wünsche Euch allen viel Sonnenschein und sende Euch frühlingshafte Grüße!
Eure Lene