Die Angst, die ich spüre
Um solidarisch zu sein, muss man kein Held sein. Der Sprung über den eigenen Schatten kann manchmal auch aus vielen kleinen Schritten bestehen.
Den Hass, den du mir entgegenbringst, den werde ich besiegen.
Denn Liebe ist stärker als Hass.
Die Wut, die du mir ins Gesicht wirfst, die kann mir nichts antun.
Mein Lächeln ist stärker als Wut.
Aber die Angst, die du hast, die kann ich verstehen.
Ich spüre sie auch.
Ich spüre sie, wenn mir ein verschleiertes Mädchen in der Bahn gegenübersitzt und eine alte Frau daneben sie mit abschätzigen Blicken mustert.
Sag es nicht, Oma, bitte sag es nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn du es sagst, ich weiß nicht, was ich erwidern soll, wie ich helfen soll. Ich habe diese Situation so oft in meinem Kopf durchgespielt, die Szene durchdacht, mir tausend hilfreiche, abwehrende und heldenhafte Antworten überlegt, aber jetzt, genau in diesem Moment, habe ich Angst. Sag es einfach nicht, Oma.
Ich spüre die Angst, wenn ich von Schiffen höre. Schiffe voller Hoffnungslosigkeit und Trauer. Hilflos schaukeln sie auf dem Meer, sind Wind und Wetter ausgesetzt und können nirgends anlegen. Es gibt nichts, was mir mehr Angst macht, als dieses tiefe schwarze Meer. Ich sehe es in meinen schlimmsten Alpträumen und frage mich, woher Menschen den Mut und die Kraft nehmen, ihr sicheres Leben aufzugeben und auf dem tiefen schwarzen Meer Waisenkinder aus dem Wasser zu ziehen. Ich habe manchmal kaum die Kraft, morgens aus dem Bett zu kommen.
Ich spüre die Angst, wenn ich mächtige Menschen sprechen höre. Wenn sie große Worte benutzen oder gar keine. Wenn sie laut rufen oder ihrem Nachbar leise etwas zuflüstern. Es ist so schwer, euch zu verstehen, Politiker. Ich habe Angst vor jeder eurer Gesten, jeden hasserfüllten Blick, jedes menschenverachtende Wort. Seht ihr denn nicht, wie sie an euren Lippen hängen? Ihr könnt sie lenken und führen und alles was ihr tut, ist Hass zu schüren. Alles was ich sage, verpufft. Alles was ich nicht sage, sucht mich nachts im Schlaf heim.
Wo finde ich meine Worte, wenn die Angst sie verschlingt? Wo finde ich Kraft, wenn die Angst mir die Luft nimmt? Wo finde ich Mut, wenn ich mich einfach nur unter meiner Decke verkriechen möchte?
Alles was ich habe, ist mein Lächeln und ein bisschen Liebe. Ein bisschen Liebe für dich und mich, wenn die Angst uns von innen zu fressen droht. Wenn sie uns zwingt, Dinge zu tun und zu sagen, die die Welt nur noch angstvoller machen. Hier nimm sie und halte sie fest. Vielleicht ist Liebe in diesem Moment alles, was wir brauchen. Vielleicht kann sie unserer Angst Gesellschaft leisten, sie akzeptieren und ihr liebevoll sagen: Es ist okay, Angst. Du darfst dich fürchten. Und wenn du heute kein Held sein kannst, vielleicht schaffst du es morgen.