Dide
Für ein paar Tage ging ich bei Dide in die Lehre. Er zeigte mir Lyon und erklärte mir Frankreich, wir aßen Oliven und saßen an der Saône. Dann verschwanden wir beide. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Ich traf Dide in der Auberge de Jeunesse de Vieux Lyon, die an einem Hang lag, auf halber Strecke zur Cathedrale de la Fourvière. Wir waren dort fast alle untergekommen – Backpapacker, Tagestouristen, einsame Wölfe, angehende Studenten, die eine Wohnung suchten. Was Dide, der zu den Wölfen zu gehören schien, dorthin trieb, wusste ich nicht. Er arbeitete auf irgendeiner Baustelle. Manchmal verschwand er für ein paar Tage und tauchte dann ohne Vorankündigung wieder auf.
Ähnlich unvermittelt war auch unsere erste Begegnung. Ich saß auf der Terrasse, die einen herrlichen Blick auf das erwachende Lyon freigab und schlürfte einen Orangensaft, der den Abschluss meines spärlichen Frühstücks bilden sollte. Dide trat vor das Haus, steuerte zielgerichtet auf mich zu, setzte sich und grinste. Er fragte mich etwas, das ich nicht verstand, verzog das Gesicht und wollte wissen, was ich hier mache; das verstand ich. Als ich ihm sagte, dass ich hier studieren wolle, wurde sein Blick strenger und er erklärte, dass wir in diesem Fall noch einiges zu tun haben. Dass Arbeit auf uns zukomme.
In den nächsten Tagen nahm er mich unter seine Fittiche, erklärte mir Frankreich und auch Deutschland. Er schwärmte von deutschen Autos, Volkswagen war sein Liebling, während er für Peugeot nur Hohn und Spott übrig hatte. Er duldete keinen Widerspruch. Auch die Frauen gefielen ihm, „belle comme une Allemande“ – schön wie eine Deutsche – war eine Redewendung, die er häufiger gebrauchte. Das sei so üblich, erklärte er mir. Das wusste ich nicht. Ich wusste auch nicht, dass man zu den Frauen „meufe“ sagen konnte und dass das Verlan war.
Dide war Algerier, Berber, wie er mir stolz erzählte. Frankreich mochte er und er mochte es nicht. Gut seien Dinge wie das Freiheitsversprechen, das die Republik ihren Bürgern gebe und der Wohlstand, zu dem man es durchaus bringen könne. Schlecht sei, dass viele davon nichts haben, unterkühlt komme ihm hier nicht nur die Luft, sondern das ganze Land vor. Insbesondere Maghrebiner wie er hätten es nicht leicht in Frankreich.
Wir zogen los, runter an die Saône, über die Presqu' Île und zur mächtigen Rhone. Er zeigte und erklärte mir alles, kannte zu beinahe jedem Gebäude eine Jahreszahl oder eine Geschichte. Wir kamen an einem Schwimmbad vorbei und er fragte mich, ob ich schwimmen könne. Verwundert schaute ich ihn an und nickte. Er staunte; und ich auch. Dide konnte alles, nur schwimmen offenbar nicht. Wir gingen auf die Croix Rousse, wo beinahe täglich ein Markt stand. Dide strahlte, tigerte zwischen den Marktständen herum, begutachtete die Ware, begrüßte einige Händler mit Handschlag, zeigte mir die besten Oliven; wir kauften sie und aßen sie unten am Fluss. Er fragte mich die Obst- und Gemüse-Vokabeln ab. Dabei schaute er immer ein bisschen ernst, besonders aber, wenn er mir zum wiederholten Mal eine Vokabel nennen musste, die mir nicht einfallen wollte; dann drehte er manchmal mit den Augen und ermahnte mich zur Konzentration. Und dennoch, so schien mir, sprach daraus nur die wohlmeinende Strenge des großen Bruders, der dem Schützling noch etwas beibringen musste. Der einen Auftrag zu erledigen hatte.
Nach zehn Tagen fand ich eine Wohnung. Ich wollte es Dide erzählen, aber da war er gerade wieder einmal verschwunden und tauchte auch in den nächsten Tagen nicht auf; in der Auberge wusste man nichts von ihm. Nummern hatten wir nicht ausgetauscht, er gab vor, kein Handy zu haben. Ich habe ihn nie wieder gesehen.