Der Heute, Gestern, und Morgen von EVS
Ich wache auf als mein Wecker klingelt, wie jeden morgen, in die Uni zu gehen. Trotzdem heute wird nicht wie jeder Tag, denn eine Gedankenstürme wird mich zu anderer Zeit zurückbringen, um mich danach in den Gegenwart zu stellen.
Riiinggg! Der Wecker klingelt. Es muss 8 Uhr morgens sein. Um 9 Uhr fängt die Uni an; heute sind aber nur 3 Stunden Unterricht, und danach habe ich den Nachmittag frei. Gut freie Zeit zu haben, denn ich möchte so vieles tun! Am Nachmittag werde ich zum Theater gehen und außerdem würde ich mir gern dieses Piano Konzert anschauen...
Aber Entschuldigung! Ich habe mich noch nicht vorgestellt, das ist ja unhöflich! Also, mit euer Verbeugung: ich heiße Irene, bin 19 Jahre alt (ja wir jungen Leute können auch Piano Konzerten anschauen!), und bin Studentin und „Lebensgenießerin“ von Beruf.
Ich liebe den Morgen. Die Stille des Morgens, meine lauten Mitbewohner schlafen noch, und das Beste ist, man kann so viel essen wie man will, denn Frühstück macht nicht fett, habe ich einmal gehört. Heute habe ich Lust auf ein leckeres Banana-Sandwich, kennt ihr das? einfach ein Stück Banana zwischen zwei Kekse drücken und es schmeckt so unglaublich! Ich würde euch gern mehr über meine kulinarischen Vorlieben erzählen, aber ich sollte mich am besten auf den Weg zur Uni machen, sonst werde ich wieder mit dem Fahrrad fliegen müssen.
Mein Fahrrad. Die Leute merken schon es muss ein nordländisches Fahrrad sein, denn ich erreiche kaum die Pedale und man sitzt so gerade darauf. Genau, sie sind recht. Es ist aus Deutschland. Ich fahre schnell damit und lasse die Frühlingsluft mein Gesicht streicheln und meine Haare noch mehr zerzausen. Dieses einfache Gefühl erinnert mich an mein Jahr in Deutschland. Neben vielem anderen, habe ich dort meine Leidenschaft für Fahrräder entdeckt. Mich faszinierte es wie alle Leute, unabhängig vom Alter, immer gefahren sind, trotz der Kälte oder des Regens, zum Einkaufen, zur Arbeit, zur Schule, zum Bahnhof… Sogar nach dem Feiern in der Nacht sind die jungen Leute zurück nach Hause gefahren! Ich bin stundenlang durch die grünen Felder gefahren, und habe die Natur mit allen Sinnen wahrgenommen.
Besonders schön war der Frühling. Nach dem langen Winter, als endlich die Sonne schien füllten sich die Parks wieder mit nächtlichen Grillfeuern, ein ganz örtliches Hobby. Auch mit den Mitarbeitern vom Jugendtreff habe ich einige Grillenabende verbracht, viel gelacht und uns einander Geschichten erzählt. Sie haben mir tausende Male geholfen, und vieles gelehrt über soziale Arbeit.
„Irene!“ Ein Kollege von der Klasse nickt mir zu. Als ich bemerke, dass ich schon auf der Uni bin, werde ich ein bisschen nervös. Heute ist der Tag der Vorstellung meiner Arbeit; 60 verschiedene Blicke werden auf mich gerichtet sein und es fällt mir schwer diese Spannung auszuhalten. Doch dann sagt mir eine innere Stimme, dass ich es schaffen werde, denn ich habe solche Situationen in der Vergangenheit schon bestanden.
Ich denke an den Tag als ich und mein Mitarbeiter Martin in die Schule gegangen sind, um mit den 16-jährigen Jugendlichen über Europa und den Freiwilligendienst zu berichten. Obwohl ich den Eindruck habe, dass sie Langeweile haben und es blöd finden was ich ihnen erzähle, zeigen sie am Ende des Vortrags dennoch Interesse und stellen Fragen dazu.
In meinem European Volunteer Service musste ich über die Grenzen springen, die ich mir selbst irgendwann und ohne Gründe gesetzt hatte. Wer hat gesagt, es sei nicht möglich ohne große Sprachkenntnisse eine Botschaft zu vermitteln? Wie oft habe ich meine Pläne nicht erledigt, nur weil ich dachte, es würde den Anderen nicht gefallen? Wieso sollte ich denn eigentlich nicht mit Unbekannten sprechen? Ist es nicht so, dass es ganz schön und interessant ist von Leuten zu lernen und Erfahrungen zu teilen. Warum soll ich gerade nach der Schule studieren gehen, nur weil es „das Richtige“ ist? Viele haben nicht verstanden, wieso ich die Entscheidung getroffen habe, freiwillig im Ausland zu arbeiten. Und meine Antwort darauf: ich möchte neue Pfade beschreiten und selbst bestimmen welchen Weg ich wähle.
Aber ich habe den Weg auch öfter verloren. Ihr kennt vielleicht schon einige deutsche Städte. Habt ihr auch gemerkt, wie sich deren Namen gleichen? Ich weiß es jetzt. Ich musste einmal zu einem Seminar nach Würzburg fahren, im Süden Deutschland. An dem Tag bin ich zur Deutschen Bahn gegangen, und mit meiner besten Aussprache habe ich den Fahrkartenverkäufer nach einem Ticket nach Wrrzburg gefragt. Der nette Mann hat mir das Ticket verkauft, und ich habe es ganz billig gefunden, für eine 400 km Reise. Am nächsten Tag bin ich mit meinem Koffer in die Bahn eingestiegen, voller Lust auf die Reise. Doch desto mehr Zeit verging, umso mehr wunderte ich mich, wieso die Bahn Richtung Norden fuhr. Als mir klar wurde, dass die Bahn nicht die Richtung nach Süden einschlagen würde, musste ich eine Landkarte suchen, und darauf stand der Name: Wolfsburg. Gut, ich war 200 Km gefahren, in die falsche Richtung! Und da stand ich nun, im Norden Deutschlands, anstatt im Süden. Wie sich die Geschichte weiter entwickelt bleibt ein Geheimnis, aber ich muss euch warnen, seit dieser Panne bin ich vorsichtiger.
Plötzlich ertönt ein lautes Geräusch und entreißt mich aus meinen Gedanken. Der Unterricht ist heute schon beendet, wie schnell. Und die Präsentation ist uns gut gelungen, falls ihr euch fragt wie es war. Ich gehe dann durch den Haupteingang hinaus, wo immer auf einem Tisch Freiexemplare einer Zeitung liegen. Ich nehme mir eine. Ich lese eine Nachricht über koreanische Politik und muss an Ingyu denken, ein toller Mensch und Freund aus Korea den ich im Sprachkurs kennen gelernt habe. Er hat mir immer Geschichten über Korea erzählt, über seine Kindheit und Jugend dort, die strenge Erziehung, die witzigen Traditionen...und so konnte ich auch leckere Algen probieren! Ich fühlte durch seine Erzählungen konnte ich mehr über sein Land entdecken. Jetzt frage ich mich selber, wie es Ingyu und den Koreanischen geht, nach dem kürzlichen Tod des Diktators. Vorher, als ich ihn nicht kannte, hätte diese Nachricht von Korea in mir kein Interesse erweckt. Doch je mehr der Mensch entdeckt, desto grösser wird seine Neugierigkeit.
Während des EVS lernt man viele Leute mit verschiedenen Hintergründen kennen, und diese Länder kommen immer näher zu uns; die Landkarte hat plötzlich mehr Farben und Gesichter. Jip, Indre, Hanna, Sükrü, Kevin, Nadin, Martin, Mustafa, Gergana, Cristiane, Katja, Tobbias, Nastia, Brigitte, Mel, Rèmi, Svenja, Jung Yeon, Dàvide, Julie…
Und das Reisen. Es waren einmal 4 Freiwillige, die ein Experiment erledigt haben. Sie kannten sich kaum untereinander, trotzdem haben sie in den Sommerferien ein Auto in Berlin gemietet, 2 Zelte und Essen gepackt und sich auf den Weg nach Prag gemacht, mit der Hilfe eines GPS. Und einem gemeinsamen Gefühl, das uns Freiwillige eint und ganz schwierig zu beschreiben ist. Eine Art von Lust auf Leben.
Bereits auf dem Weg zurück zum Studentenwohnheim, höre ich das Lachen der Kinder. Klar doch, ich fahre an einem Spielplatz entlang. Wie ich die Kinder vermisse! Wir haben jeden Tag im Jugendtreff gespielt. Heute Donnerstag wäre Mädchengruppe. Letztes Jahr um diese Zeit haben wir die April-April Party gefeiert. Wir haben blaue Spagetti gekocht und gegessen, Musik gespielt, getanzt…
Im mein Zimmer angekommen merke ich, dass ich den ganzen Tag am Sprechen und Zurückerinnern war. Ich hoffe, euch wurde nicht langweilig. Irgendwie konnte ich diese Gedankenstürme nicht anhalten, und wollte auch nicht, so viel habe ich es genossen. Je weiter diese erlebnisreiche Zeit zurück liegt, umso eher gehen die Erinnerungen verloren, das fürchte ich. Glücklicherweise, als ich mein Post überprüfe, finde ich ein Mail von Hanna aus Ungarn, die mir bestätigt, dass sie mich zu Ostern besuchen kommt. Dadurch verstehe ich alles: ich soll nicht fürchten dass diese Zeit vergessen wird; mir wird immer etwas davon bleiben. Dieses Jahr war eine der schönsten Erfahrungen, aber das ist nur ein Grund mich zu freuen. In Ostern werde ich Hanna treffen, wir werden viel quatschen, lachen, bestimmt auch weinen, spät einschlafen, früh aufstehen; wir werden wieder EVS sein.
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