Das gespaltene Land
Die Fastenzeit ist vorbei und Verfassungsänderungen durch ein nationales Referendum beschlossen. Die Polarisierung von Regierungsanhängern und -ablehnern wächst und das Land teilt sich in Ost und West.
Vor in etwa einem Monat bin ich mitten in der Nacht aufgrund eines ununterbrochenen Trommelwirbels direkt vor dem Fenster meines Wohnheims aus dem Schlaf aufgeschreckt. Ich solle mich doch wieder hinlegen, hat mich meine Zimmergenossin beschwichtigt, das sei nur, weil Ramazan –ja, mit ‚z‘– begonnen hat. Die Tradition mit der Ramazan Trommel rührt noch aus einer Zeit, in der es keine elektrischen Wecker gab und die Menschen so zu ihrem nächtlichen Imbiss geweckt wurden. Dieses Jahr ist der Fastenmonat in den Hochsommer gefallen. Bei über 40°C den ganzen Tag über nichts essen und kein Schluck Wasser trinken ist nicht ohne. Manche haben daher bereits 2 Monate früher gefastet oder machen Ausnahmen. Überraschend viele fasten jedoch gar nicht. Mir wurde erzählt, dass es im Osten der Türkei gar verboten sei, in dieser Zeit auf der Straße zu essen. In Izmir sind die Cafés und Restaurants jedoch zu jeder Zeit gut gefüllt. Außer, dass im Fernsehen auffallend häufig Mode speziell für die muslimische Frau oder der Koran in Geschenkverpackung angepriesen wurde und das allabendliche Fastenbrechen live aus Istanbul übertragen wurde, war ein Unterschied hier kaum spürbar.
Der immense Ost-West-Unterschied wurde zuletzt bei den Ergebnissen des Referendums über die Verfassungsänderung deutlich: Die ans Mittelmeer angrenzenden Provinzen stimmten weitgehend mit ‚Nein‘, Ost- und Zentralanatolien klar mit ‚Ja‘. Tagelang fuhren Minibusse mit Lautsprechern durch die Straßen, wurden Flugblätter mit ‚Hayir!‘ (‚Nein! ‘) in Izmir verteilt, die Stadt war zugekleistert mit Werbeplakaten, die für Zustimmung bzw. Ablehnung des Referendums warben. Hier im Westen der Türkei ist Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk omnipräsent. Seine Unterschrift ziert Autoscheiben und Unterarme, sein Kopf nicht selten die türkische Flagge und Denkmäler. Ministerpräsident Erdoğan und seine AKP hingegen werden kritisch betrachtet, so auch die von ihm initiierte Verfassungsänderung. Viele fürchten, dass er die Türkei zu einem islamischen Land machen will und die strikte Trennung von Staat und Religion aufzuweichen versucht. Vergleiche mit Nachbarland Iran werden laut, die Sorge vor einem Kopftuchgebot und weitläufiger Unfreiheit. Dazu kommt, dass der Regierung unterstellt wird, nichts gegen die PKK zu unternehmen, die Konflikte mit der großen kurdischen Minderheit nicht anzugehen und damit die Teilung des Landes voranzutreiben. Unzählige Terroranschläge im Osten der Türkei läuten beinahe täglich die Nachrichten ein, vorgestern erst wurden 9 Zivilisten durch eine Landmine getötet. Bei dem Referendum ging es vielen tatsächlich, so scheint es mir, nicht um die Inhalte, sondern um den Versuch, Erdoğans wachsener Macht Einheit zu gebieten.
Ich konnte die Frage, was denn der pro-europäische Standpunkt der Reformendebatte sei, nicht beantworten. Das Paradoxe: Die Berichterstattung westlicher Medien fängt diese Problematik in meinen Augen kaum ein, die EU-Kommission lobt die Durchsetzung der Reformen und auch die USA begrüßt den Wahlausgang. Ich spüre hier sehr viel Nationalismus, der mit dem deutschen Verständnis davon jedoch weniger zu tun hat. Die Türkeiflaggen an beinahe jedem Haus, in jeder öffentlichen Einrichtung, bei jeder Veranstaltung und sogar in jedem Minibus zeugen von dem Stolz der Türken auf ihr Land und gerade das, so meine natürlich sehr subjektive Einschätzung, scheinen viele zu befürchte, ist auf dem Weg an Stabilität zu verlieren und allmählich zu verfallen.
Das sollte an Ernsthaftigkeit erst mal genügen.
Für die Zukunft nehme ich mir erneut vor, lieber häufiger und dafür kürzere Artikel zu schreiben. Mir ist bewusst, dass diese Länge eine Zumutung ist. Was sonst noch so alles passiert ist, schreibe ich also in einem separaten Blogeintrag. Danke fürs Durchhalten.
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