Das Ende vom Anfang
09.07.06 - Wer hat an der Uhr gedreht?
09.07.06 - Wer hat an der Uhr gedreht?
Sonntagmorgen und nein, nein, nein, wieso ist es denn schon so spät? Ach ja, der Stary Mlyn... Auf meinem Handy blinkt eine Nachricht: Ewa kommt um 16.00 Uhr – ein kurzer Tag wartet auf mich. Und tatsächlich sind noch einige Sachen zu beenden, also zurück in die Stadt. Was für ein Unterschied zu Newcastle, die Läden sind auf und die Straßen voll. Diesmal bestätigt ein vorsichtiger Blick in die Johannis-Kirche: keine Gefahr. Die Hauptkathedrale Toruns wird ihrem Ruf gerecht und birgt wirklich einige den einen oder anderen Blicke werte Dinge. Hier hängt die „Tuba Dei“, die Trompete Gottes, wie die große Hauptglocke genannt wird, und hier wurde Kopernikus getauft.
Und weil ich meine Nase so nett gegen das Gitter presse, schließt es mir der Kirchendiener nach einigen Minuten auch auf, so dass ich in das eigentliche Hauptschiff komme. Dann sehe ich mir nur noch die Gebäude entlang der Marktplatzfassade an, den Dwór Artusa (Artushof) und die diversen Häuser unter dem Türken, dem Mohren, dem Stern et cetera. Auch der Ruine der Burg des Deutschen Ordens statte ich einen Besuch ab. Die stellte den Anfang der Stadt dar, wurde aber später von den Bürgern geschliffen und als Müllhalde benutzt. Heute sind die wenigen Überreste unmarkiert und überwuchert, zwischen ihnen laufen nur ein paar Amerikaner und ein deutscher Praktikant.
Schließlich ist es schon Zeit, zurück zur Wohnung zur gehen, wo bald Ewa eintrifft. Die übernachtet heute einmal, bevor sie am nächsten Tag zu einem dreiwöchigen Urlaub an die Ostsee fährt. Und wenn sie zurückkommt, zieht sie richtig ein. Ihre Sachen stehen schon seit einigen Tagen bei mir beziehungsweise uns. Nun, wir nutzen die verbleibenden Stunden für einige Polnischübungen und unser erstes Abenteuer mit der Waschmaschine. Doch Gesellschaft schön und gut, abends ist es wieder Zeit für Fußball. Das Finale mit bekanntem Ergebnis.
Montag, 10.07.06: Carpe Diem
Soweit mein erstes Wochenende in Torun. Bald ziehe ich größere Kreise. Irgendwann werde ich mir nochmal ein Fahrrad ausleihen, denn diese Stadt und die Dämme entlang der Weichsel schreien danach. Die folgenden Tage waren ebenfalls angefüllt mit netten Begebenheiten und über Einsamkeit kann ich nicht mehr klagen. Montag, 10.7., zum Beispiel wurde ich nachmittags von Bekannten Ewas im Büro aufgepickt. Das waren eine Polin und eine Ungarin, die kamen gerade aus Budapest und waren auf der Durchreise. Mit denen hatte ich eine sehr schöne Zeit, nicht nur weil so mein Englisch einiges verlorenes Gelände zurück gewinnt. Etwas Stadtrundgang, etwas Stary Mlyn mit weiteren Motykanern, etwas Pizza und währenddessen tauschten Deutschland und Ungarn die liebenswürdigsten Gedanken über das jeweils andere Land aus.
Noch schöner ist das derzeitige Filmfestival, welches an diesem Tag mit einem Konzert auf dem Marktplatz begann. Dort spielte eine Band aus Lille diese so populäre und tanzbare Mischung aus Klezmer, arabischen Melodien und französischen Chansons. Das alles zu dritt in der Abendwärme, wenn die Hitze erträglich geworden ist, zusammen mit all den fröhlichen, gut angezogenen, tanzenden, singenden Polen. Ich hoffe, dass es nicht das einzige Konzert bleibt und wie glücklich mich die vielen guten Filme machen, die in jedem Kino rund um die Uhr laufen, brauche ich wohl nicht zu beschreiben. Ein großes Tyneside Cinema. Dienstag dann war ich abends noch mit Ewa Glodowska, der einzigen fest im Büro angestellten Kollegin, Pawel, ebenfalls Motykaner, und Magda, ebenfalls Motykanerin aber jetzt in Frankfurt/Oder lebend und nur auf Besuch, gemeinsam Essen. Ja, es ist so billig hier, ich könnte jeden Tag ins Restaurant gehen. Im Moment genieße ich Landkind nur mit offenem Mund die Segnungen des Stadtlebens, noch muss ich es schließlich nicht selbst bezahlen.
Glück auf Abruf
Magda organisiert auch zwei Workshops, an denen ich teilnehmen soll, in Krokowa an der Ostseeküste. Workcamps werden ab jetzt auch meine Hauptbeschäftigung sein. Nächsten Montag (17.7.) geht es los zur ukrainischen Grenze für eine zweiwöchige Kajaktour auf dem Bug. Hoch zur weißrussischen Grenze und dann ins Binnenland bis zum 30.7. Dann fahre ich am 2.8. auch gleich weiter nach Krokowa zum ersten Projekt Magdas, über alternative Energien. Dann eine Woche Pause und wieder zum gleichen Ort zu einem Sprachtandemkurs - wenn der denn stattfinden sollte, denn bis jetzt mangelt es noch an deutschen Interessenten.
Soweit die Zukunftspläne. Allerdings lege ich mich gar nicht zu sehr fest, denn jeden Tag können Katastrophen aus der Heimat eintreffen. Ich bin zurzeit so glücklich, lange kann es mir das Schicksal nicht mehr gönnen. Zu Hause warten meine Unibewerbungen wie Zeitbomben auf Bearbeitung und vor einer Woche schon erhielt ich die Nachricht, dass Bremen meine Unterlagen als unvollständig abgelehnt hat. Die habe ich ihnen nach etwas Kommunikation zwar für einen zweiten Versuch wieder hingeschickt, aber es hat mich Tage gekostet, bis ich all die Sorgen und Ängste wieder vergessen hatte.
Ich habe vor Kurzem diesen Artikel von Amselle gelesen und er spricht mir so aus der Seele. Auch ich hatte damals gesehen, wie sich die Leute meines Jahrgangs blindlings in Kurse stürzten, wechselten, abbrachen und auch ich bewerbe mich jetzt, ohne jemals einen echten Überblick gehabt zu haben. Und nun sehe ich, wie sich alle Nase lang jemand für den gleichen Kurs beworben hat. Soviel zur Profilierung. Ein bisschen von allem, sehr schön, Europäische Studien, ich bin dabei. Entscheiden kann ich mich später. Nur anhand welcher Kriterien... seit zwei Jahren wälze ich sie nun auch akut vor mir her und komme zu keiner Lösung. Und wer denkt wirklich, dass wir diese tausenden von Kursen tatsächlich wirkungsvoll prüfen?
Arbeitslos in Polen
Hier ist es im Moment unerträglich warm und schwül. Schon morgens um acht möchte man sich nicht bewegen, weil man überall klebt. Das Büro ist mit Sicherheit der atmosphärisch schlimmste Ort der Stadt, so gelegen, das es wie ein Treibhaus wirkt. Man trägt einen ständigen klebrigen Film auf der Haut und selbst im Sitzen verwandelt sich das Shirt in einen widerlich warm-feuchten Lappen auf dem Rücken. Macht man die Fenster auf, wirbelt der Zug sämtliches Papier durch den Raum, sind sie zu oder ist es windstill, fallen einem Tropfen von der Stirn. In den Flusswäldern bekommt man zurzeit seine eigene Vietnam-Erfahrung. Zum Glück oder auch nicht muss ich mich im Moment auch kaum bewegen, denn ich habe noch sehr wenig zu tun. Ich bin zuständig für Bewerbungen und Anfragen zu Workshops und internationale Arbeitseinsätze. Melanie war damit wohl noch viel beschäftigt, aber scheinbar hat das Interesse schlagartig nachgelassen. So schreibe ich eine Mail an Charlotte in Frankreich, eine Mail an meine Polen in England. Und noch immer ist nichts für mich in der Mailbox. Nur einen neuen Namen konnte ich bisher in die Liste schreiben, ansonsten nichts.
Den beiden Ewas ist das auch schon aufgefallen und sie versuchen, mir irgendwie Arbeit zu beschaffen. Mich stört es eigentlich nur insofern, das ich wirklich auch etwas dafür tun will, hier sein zu dürfen. Darum habe ich mir kurz entschlossen selbst etwas gesucht und angefangen, die deutsche Version der Webseite Motykas zu redigieren. Damit bin ich inzwischen leider auch schon fertig. Aber was für ein Unterschied ist es doch zu meinem Zivildienst, endlich lohnt sich Eigeninitiative wieder.