Dänemarks Kolonien I
Die größte Insel der Erde.
Bilder von rohem Fels und Packeis, majestätischen Gletschern und Eisbergen erscheinen vor meinem Innere Auge. Endlose, schneebedeckte Berglandschaften, klirrende Kälte und der heulende Nordwind. Endlose dunkle Winter, gleißende Sommernächte. Nordlichter. Wir befinden uns in Grönland, der Heimat der Eisbären. Wer sich den Staat Dänemark auf der Karte vorstellt, hat zumeist die charakteristisch spitz vorspringende Halbinsel Jütland sowie die kleineren Inseln Fünen und Seeland im Kopf. Doch neben dem Mutterland gehören auch die Färöer, ein Archipel im Nordatlantik, und Grönland zum Staatsgebiet. Die Insel (Dänisch Grønland, Grönländisch Kalaallit Nunaat, übersetzt ‚Land der Kalaallit‘) gehört geografisch zur nordamerikanischen Kontinentalmasse und liegt viel näher bei Kanada als Dänemark. Das macht die Verwaltung etwas kompliziert zu verstehen, und führt auch beim Stadt-Land-Fluss-Spielen regelmäßig zu Verwirrung. Ist Grönland nun ein eigenes Land oder nicht? Das Gebiet führt eine eigene Flagge und besitzt eine eigene Amtssprache, bildet aber einen sogenannten ‚autonomen Bestandteil‘ des Dänischen Königreichs und ist damit aus politischer Sicht Teil Europas, aber nicht der EU. Autonom bedeutet in diesem Fall, dass die grönländische Regierung alle landesinternen Angelegenheiten verwaltet, jedoch in Außen- und Verteidigungspolitik von der dänischen Regierung vertreten wird. Im Folketing, dem dänischen Parlament, ist Grönland außerdem durch zwei Abgeordnete vertreten. Das scheint eine kleine Delegation im Verhältnis zu einer Landfläche von über zwei Millionen Quadratkilometern, doch angemessen bei einer Population von etwa 56.000 Menschen in der, wenn man die Antarktis nicht zählt, am dünnsten besiedelten Region der Welt. Interessanter, aber auch heikler als die Zahlen und Fakten ist wohl das transnationale Verhältnis zwischen Grönland und Dänemark. Diese Spannungen sind tief in Dänemarks Geschichte als Kolonialmacht verwurzelt. Obwohl Grönland nun den Status eines gleichwertigen Mitglieds in der Union einnimmt, besteht nach wie vor ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis, da das Land jährlich eine signifikante Summe an Subventionen erhält, ohne die sich Wirtschaft, Infrastruktur, Bildung und Gesundheitswesen nicht halten könnten. Diese Tatsache hat weitreichende Konsequenzen. Auf der einen Seite ist die Ansicht verbreitet, dass der dänische Staat die wirtschaftliche Unterstützung Grönlands als Wiedergutmachung für die Kolonisierung, also eine Art Reparationszahlungen, aus moralischer Verpflichtung fortsetzen sollte. Andererseits wird Grönland von manchen Dänen als Bürde empfunden; dieses Denken wird nicht nur von rein ökonomischen Bedenken beeinflusst, sondern auch von Vorurteilen gegenüber der ethnisch weitgehend aus Inuit bestehenden Bevölkerung. In Dänemark lebende Grönländer würden stigmatisiert, weil viele von ihnen Pfandflaschensammler, Obdachlose oder Alkoholiker seien, sagt Dennis, ein dänischer Bekannter, als ich mich nach seiner Meinung zu Grönland erkundige. Auch Korruption und fragwürdige humanitäre Zustände in manchen Regionen seien ein Problem. In der öffentlichen Meinung sei das Thema allerdings nicht besonders präsent, außer wenn es um die Unabhängigkeitsbestrebungen geht. Hier besteht der allgemeine Konsens, dass bei vollständiger Unabhängigkeit kein Geld mehr nach Grönland fließen soll. Dementsprechend verhält sich die Unterstützung zyklisch für die Parteien, die für eine vollständige Abspaltung vom Dänischen Königreich eintreten: In Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität erhalten sie Zulauf, in Rezession verlieren sie an Wählerstimmen. Es ist allerdings fraglich, ob die separatistischen Tendenzen in näherer Zukunft Erfolg haben werden, denn trotz großer Öl- und Mineralvorkommen ist es nicht absehbar, ob die Region den Sprung in die wirtschaftliche Autarkie schaffen wird. Die Frage ist aber auch, ob ein Land, das so lange Zeit von fremder Unterstützung abhängig war, überhaupt fähig ist, von dieser wegzukommen. „Das ist eigentlich kein guter Weg, ein Land zu führen“, meint Dennis dazu. Grönland und seine vielseitigen Probleme sind ein schmerzhaftes Denkmal der Zeiten, in denen das dänische Reich großflächig Territorien eroberte, sich Ressourcen aneignete und die Lokalbevölkerung unterwarf. Auch dient es als Erinnerung an die oft vergessene Tatsache, dass auch in den am weitesten entwickelten Staaten der Welt soziale Ungleichberechtigung, Armut und Perspektivenmangel vorkommt.
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